Gedanken
Endlich sagt es einer
Zu Gerhard Pfisters Interview in der NZZ vom 21.11.2023
Der Parteipräsident der Mitte spricht in seinem Interview klar und deutlich, was Sache ist. Ich stimme ihm als liberaler Freisinniger vollständig und in allen Teilen zu. Ich habe noch als Ständerat ein «Blocher-Buch» geschrieben, in dem ich mich ähnlich äusserte und im zweiten Buch «Lust an der Politik» habe ich den Stil der SVP kritisiert. Hat man in der Politik nicht eine besondere Position, auf die die Medien hören müssen, wird Kritik zwar kurz erwähnt, aber sie löst keine Diskussion aus. Es ist Zeit, dass auch mein Freisinn begreift, dass sie nichtder Seitenwagen der SVP ist und einen selbständigen Weg mit eigenem Profil gehen muss. Was die SVP unter bürgerlich versteht, hat mit bürgerlich nichts zu. Da geht es um Macht, und wie man sie mit allen Mitteln, auch mit perfiden erreicht. Wer für die Partei fordert, dass es am rechten Rand der SVP keine andere Partei geben dürfe, weiss, dass in dieser Partei Meinungen vertreten werden dürfen, die gerade dies, was Bürgerlichkeit beinhaltet, ausschliesst. Es wäre an der Zeit, einmal über den Begriff der Bürgerlichkeit zu diskutieren. Blochers Weichsinnige, wie er die Freisinnigen taxierte, mussten von der SVP viel Schmäh verdauen. Das sollten sie nicht vergessen. Das Interview des Präsidenten der Mitte-Partei ist Ausdruck echter Bürgerlichkeit. Sagt es doch, dass die höchst Kunst des Regierens darin besteht, dass es sich um ein Bemühen handeln sollte, das bestrebt ist, das fragile Gleichgewicht im Staat und der Gesellschaft immer wieder herzustellen. Stattdessen wird heftig um der Stimmen willen polemisiert, das heisst, das Land auseinandergetrieben.
Dauerdialog mit der Bevölkerung
Gerhard Pfister postuliert im Interview einen Dauerdialog mit der Bevölkerung. Nur wer ist die Bevölkerung? Wenn eine Partei sagt, wir vertreten das Volk, welches Volk meint sie dann? Vielmehr sollten die Parteien denen Fragen stellen, die mit Schlagworten operieren. Könnt ihr uns sagen, was ihr tut, dass unser Volk nicht schrumpft? Wie kommt es zu nachhaltigen Geburten im Inland kommt? Wisst ihr, was nachhaltig hiesse? Was sagt ihr, wenn immer mehr Menschen in Pension gehen, als geboren werden? Was unternimmt ihr, dass der demographische Notstand behoben wird? Was macht ihr, dass das ehrgeizige Ziel einer prosperierenden Schweiz erhalten bleibt? Das wären Fragen der Redlichkeit und nicht einfach Wahlkampfgetöse.
Das Volk ist kein Ansprechpartner. Es sind immer die einzelnen Menschen. Die Bevölkerung ist in den letzten Jahren um O,8% gewachsen, aber die Zahl der 65-jährigen nahm um 1,9% zu. Also schrumpft die Bevölkerung. Nachhaltigkeit wäre ein Begriff, wie ihn die Waldwirtschaft befolgt. Was geerntet wird, muss nachwachsen. Das hiesse also, die inländischen Geburten müssten mindestens um 1,9% zunehmen. Die in der Schweiz herangewachsenen Arbeitskräfte genügen demnach nicht, um den Wohlstand im Land zu wahren. Was wäre ohne Einwanderung zu tun? Die Arbeitszeit müsste drastisch erhöht werden. Im Wahlkampf wurde darüber geschwiegen. Niemand hatte ein Nullwachstum der Wirtschaft verlangt, was ehrlich gewesen wäre. Das sogenannte Volk wurde im Wahlkampf hintergangen. Es selbst hatte die Folgen nicht bedacht. Vielleicht meint Gerhard Pfister, dass über solche Fragen diskutiert werden müsste, und zwar in einem «Dauerdialog». Da stimme ich ihm zu.
Unterlisten-Wokeness
Ursula Strub fragte sich in ihrem Leserbrief, als die Unterlisten so viele Nationalratskandidatinnen und -kandidaten hervorbrachten, was das eigentlich soll? Am Anfang verstand man diesen Wahltrick nicht so recht und man wunderte sich, wie viele fähige Leute für Bern kandidieren. Es war ja eigentlich immer die nobelste Aufgabe der Parteien, ihre besten Persönlichkeiten dem Volk vorzuschlagen, aber jetzt war es anders. Man ist doch heute woke, was ursprünglich wachsam hiess. Aber durch die vielen Verdrehungen ist diese Wachsamkeit zu einem gemischten Salat geworden, über den alle reden.
Nun hat die Verwischtechnik auch die Parteien ergriffen. Ich versuche mich in einen dieser Köpfe auf den Listen hineinzudenken. Ich, AR verkünde, dass ich schon immer mit meinen Leserbriefen klar Position bezogen habe, also wählt mich. Ich will aber auf keinen Fall gewählt werden, denn das Amt würde mich sehr beschweren. Aber ich sorge dafür, dass jede Stimme für mich an den richtigen Ort kommt. Ich habe ja das Talent, etwas sagen, von dem ich weiss, dass ich nichts dafür tun kann, dass es verwirklicht wird; aber in meinem Kopf dreht es sich schon richtig, damit deine Stimme für mich, dem zufliesst, der es kann. Ich auf der Liste bin eigentlich nicht Ich, sondern ein anderer. Mein Kopf auf dem Flyer ist gar nicht gemeint.
Fazit: Der Wähler weiss nicht, ob das, was unter dem Kopf steht, auch von dem gemeint ist, dem die Stimme gilt oder ob der am Ende doch etwas ganz anderes meint. Da man dies also nicht mit Sicherheit weiss, nenne ich diese neue Wahlpraxis Unterlisten-Wokeness.
Entgegnung auf Leserbriefe
Die übliche Antwort auf einen Leserbrief folgt meist dem gleichen Schema. Es wird auf einen Leserbrief Bezug genommen, aber nicht auf seinen Inhalt. Ein Beispiel: In der Luzernerzeitung kritisierte ich das Bild mit Mistgabel, das symbolisch ausdrückt, man müsse endlich einmal im Asylwesen und bei der Einwanderung ausmisten. Der Stil des aggressiven Bildes, an dem noch ein ebenso symbolisch rotes Kleid hing, fand ich menschenverachtend, ein Zeugnis schrecklicher Gesinnung. Der Leserbriefschreiber dagegen ging nicht auf das Thema ein. Vielmehr nutzte er die Gelegenheit, sich und seine Partei als einzige zu loben, die sich der Sache der überzähligen Fremden annehme. Was natürlich nicht stimmt, den ganz Europa beschäftigt das Thema. Von einer solchen Stellungnahme würde ein Lehrer sagen, die Erwiderung sei ungenügend, denn sie habe das Thema verfehlt.
Zwei-in-Einem
In dir gibt es Zwei-in-Einem: Das Ich spricht mit dem Selbst. Stelle einmal die vielen Selbst in dir zusammen von Selbstverantwortung über Selbstgefälligkeit bis zu Selbstgewissheit. Du wirst erfahren, dass dein Ich sehr viele Selbst erkennt. Du bleibst im ewigen Kampf mit deinem Selbst wie mit einer Hydra, der Schlange mit den vielen Köpfen. Schlägst du den Kopf eines Selbst ab, wächst ein anderer nach. Schneidest du den Kopf der Selbstgefälligkeit ab, wächst dir vielleicht Selbstzufriedenheit zu. Schneidest du die Selbstverantwortung weg, wird der Kopf der Selbsterniedrigung an ihrer Stelle wachsen. Dem Dialog mit dir selbst und seinen vielen Köpfen kannst du nicht entrinnen, das wussten schon die alten Griechen und notierten am Apollo-Tempel von Delphi: Erkenne dich selbst. Falls du dies nicht zu tun versuchst, sagen dir deine Taten, wer du bist. Sie decken Selbstbeschönigung und gar Selbstlüge auf.
Weltfrömmigkeit
C. F. Ramuz schreibt in seinem im Limmat-Verlag neu aufgelegten Werk «Sturz in die Sonne». Es erschien 1922 und wurde neu übersetzt: «Ich habe die Welt sehr geliebt. Jedes Mal, wenn ich versucht habe, mir etwas anderes vorzustellen, habe ich mich wieder sie vorgestellt. Wenn ich versucht habe, über sie hinauszugehen, bin ich wieder auf sie gestossen. Ich habe versucht, die Augen zu schliessen, um den Himmel zu sehen: Da war die Erde; und der Himmel war nur der Himmel, als er wieder zur Erde wurde» (S. 61). Mit wenig Worten schildert Ramuz, was ich unter Weltfrömmigkeit verstehe. Es ist ähnlich wie das Wort: Wenn ich den Tod denke, denke ich das Leben. In den Lüften der Transzendenz ist kein Leben. Das ewige Nichts über den Wolken ist leer.
Poesie
Auf meine Frage, was schaust Du gerade am Fernsehen, die Antwort: «Ich mag keine Nachrichten mehr hören, keine banalen, alltäglichen Berichte. Ich öffne das Fenster und höre den Abendgesang der Amsel. Er ist mir ein beruhigender Abschied vom hektischen Tag». Dieser Satz verändert sein Bewusstsein und die Stimmung. Er sagt: «Der Amselgesang gibt dem Abend eine neue Qualität. Er spricht die Sinnlichkeit und die Sensibilität an. Wie anders klingt der Tag mit Nachrichten aus».
Entscheidungen
Bei existenziellen Entscheidungen in der Politik muss man unterscheiden zwischen den Menschen, die in der Verantwortung stehen und den Kommentatoren. Die ersteren haben einen langen Prozess hinter sich und die letzteren fällen Instant-Urteile. Der Prozess, der zur Entscheidung führt, benötigt eine lange Vorgeschichte und die Kommentare haben meist eine kurze Nachgeschichte. Bei den neuesten Meinungsäusserungen zum CS-Debakel in der Sondersession handelte es sich um «die gewöhnliche Übereilung eines ungeduldigen Verstandes» (Goethe), die zu keinen echten Ergebnissen führte als zu einem Mei-Mei an die Adresse des Bundesrates. Das Parlament kann auch so Vertrauen verspielen.
Homme arrivé
Ein Homme arrivé kommt oben an und überschätzt sich gewaltig. Er wird reich und glaubt, dass er aus eigener Kraft geschaffen habe, wie er zu Reichtum und Macht gekommen sei. Dieser Weg bläht das Selbstwertgefühl gewaltig auf. Putins Werdegang ist nur ein exemplarisches Beispiel. Er, der KGP-Agent, schraubt sich nach oben und wird an die wichtigste Stelle des Staates gespült. Angekommen, wird er zum proteischen Herrscher und demonstriert, wozu ein KGP-Mann fähig ist. Er will endlich zeigen, was er kann und wer er ist. Ein verlorener Krieg würde ihn wieder zum KGP-Mann degradieren. Napoleon landete nach verlorenen Kriegen auf der Insel Elba.
Antwort-Menschen und Frage-Menschen
Wir Menschen haben das Bedürfnis zu klassifizieren. Wir wollen Ordnung schaffen. In der Politik gibt es Rechte und Linke, potenziert: extrem Rechte und extrem Linke. Und selbst die Mitte-Partei hat einen rechten und einen linken Flügel. Ich selber füge diesem Rechts-Links-Schema eine weitere Klassifizierung hinzu, die wiederum die Klassifizierten einstuft. Es gibt Antwort-Menschen und Frage-Menschen. Diese findet man sowohl links als auch rechts. Die Antwort-Menschen wissen immer schon, was Sache ist. Zu den Frage-Menschen gehören die liberalen Linken und die liberalen Rechten. Sie fragen so lange wie Sokrates, bis sich die Sache klärt. Es sind die liberalen Pluralisten (Markus Gabriel). 10. 04
Privileg der Dummheit
Es ist ein Privileg, dumm zu sein. Man braucht nicht zu überlegen, wer man ist und auch nicht nachzudenken, ob das, was man sagt, wahr sei. Man darf im kantischen Sinne in einer selbstgewählten Unmündigkeit leben und sich treiben lassen. Die Kontrolle über den eigenen Mund ist nicht nötig, man liest und hört ja nur, was einem gefällt und erzählt weiter, was man gelesen und gehört hat. Das vielseitig genutzte Privileg der Dummheit, das oft durch voreiliges Wissen kaschiert wird, verschafft Selbstgewissheit und braucht sich nicht um Argumente zu bemühen, die auf Tatsachen beruhen.
Nichtwissen
Da der moderne Mensch immer mehr weiss, nimmt auch das Nichtwissen enorm zu. Das durch wissenschaftliche Forschungen unüberschaubar gewordene Wissen auf allen Gebieten hinterlässt gewaltige Räume des Nichtwissens, sodass allerhand Meinungen, die nicht auf Tatsachen abgestützt sind, auch Fake News, Verschwörungstheorien, Lügen und Behauptungen sich wohlfeil verbreiten lassen.
Trauerrede
Er starb im hohen Alter von 95 Jahren. Bis in die letzten Tage habe er Violine gespielt, drei Stunden am Tag und oft noch in der späten Nacht. Er habe Frauen geliebt, ein gutes Leben und einen gute Tag gehabt. Wer ihm diesen besorgt habe, da er nicht in die Kirche ging? Sie wundern sich, sagte der Pfarrer, und schmunzelte: Das tote Holz singe, wenn es Geige werde. Die Verwandten waren glücklich, dass da einer fast mit der Geige ins Grab stieg.
Robert Musil
Aus seinen Tagebuchnotizen: «Dichten ist keine Tätigkeit, sondern ein Zustand». Darum straft die Politik den Dichter. Der Politiker ist ein Aktivist. Heute hier etwas, morgen da, oft fünf Sachen hier und sieben dort, unaufhaltsam, ohne Ende, nicht absehbar. Was für ein Zustand aber ist das?
Sanduhr
In Gaston Bachelards «Poetik des Raumes» gibt es die schöne Stelle: «Die Zeit der Nacht? Die Zeit des gestirnten Himmels? Wo habe ich gelesen, dass ein Einsiedler, der ohne zu beten, dem Rinnen seiner Gebetssanduhr zusah, einen ohrenzerreisenden Lärm hörte? In der Sanduhr hörte er plötzlich die Katastrophe der Zeit. Das Ticktack unserer Uhren ist so grob, so mechanisch abgehackt, dass unser Ohr nicht mehr fein genug ist, um die fliessende Zeit zu hören». Ist es nicht so, dass wir vor lauter Lärm und Getriebe das Wichtigste des Lebens überhören und plötzlich am Rand unserer Zeit stehen und fragen: War das jetzt alles, dieses unser Leben?
Unzufriedenheit
Es kommt ein Gefühl auf, der Mensch blähe sich immer mehr auf und er sei gerade deshalb unzufrieden. Es werden in ihm schon in der Kindheit Erwartungen geweckt, die sich im Leben nicht erfüllen. Und wer ist schuld, wenn nicht eintrifft, was er erwartet hat? Der Staat! Er sei für das gute Leben zuständig. Darum heisst ein tragendes Wort: «Wir fordern!», aber was fordert der Mensch von sich? Zufrieden ist, wer tut, was er kann, unzufrieden aber, wer erwartet, wozu er nicht fähig ist.