Kolumnenarchiv

2022

Wie du anfingst …

publiziert: 17.12.22

 

erschienen am 15.12.2022 auf seniorweb.ch

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Ohne Wahrheit gibt es keine Gemeinschaft

publiziert: 04.12.22

 

erschienen am 01.12.2022 auf seniorweb.ch

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Erinnern kann Zukunft haben

publiziert: 26.11.22

 

erschienen am 17.11.2022 auf seniorweb.ch

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Eine Überraschung

publiziert: 26.11.22

 

erschienen am 03.11.2022 auf seniorweb.ch

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Altwybersömmerli

publiziert: 03.11.22

 

erschienen am 20.10.2022 auf seniorweb.ch

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Altersweisheit?

publiziert: 10.10.22

 

erschienen am 06.10.2022 auf seniorweb.ch

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Die Torheit regiert

publiziert: 10.10.22

 

erschienen am 22.09.2022 auf seniorweb.ch

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Wenn ich trübselig bin

publiziert: 09.09.22

 

erschienen am 08.09.2022 auf seniorweb.ch

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Glücksgefühle

publiziert: 27.08.22

 

erschienen am 25.08.2022 auf seniorweb.ch

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Keine Götterdämmerung in Russland

publiziert: 11.08.22

 

erschienen am 11.08.2022 auf seniorweb.ch

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Die Inflation eines Begriffs

publiziert: 05.08.22

 

erschienen am 28.07.2022 auf seniorweb.ch

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Seit ich mit Stöcken gehe

publiziert: 21.07.22

 

erschienen am 14.07.2022 auf seniorweb.ch

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Erkenne dich selbst

publiziert: 11.07.22

 

erschienen am 30.06.2022 auf seniorweb.ch

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Am Ende der Behaglichkeit

publiziert: 23.05.22

 

erschienen am 12.05.2022 auf seniorweb.ch

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Warum Romane lesen?

publiziert: 23.05.22

 

erschienen am 28.04.2022 auf seniorweb.ch

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Glaubenszweifel

publiziert: 23.04.22

 

erschienen am 14.04.2022 auf seniorweb.ch

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In nihilistischer Zeit

publiziert: 23.04.22

 

erschienen am 31.03.2022 auf seniorweb.ch

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Lehmschicht

publiziert: 23.04.22

 

erschienen am 17.03.2022 auf seniorweb.ch

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Wir müssen über die Freiheit nachdenken

publiziert: 23.04.22

 

erschienen am 03.03.2022 auf seniorweb.ch

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Die Wiederholung sei die Mutter der Studierenden

publiziert: 23.04.22

 

erschienen am 17.02.2022 auf seniorweb.ch

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Ich bin ein Sport-Patriot

publiziert: 10.02.22

 

erschienen am 03.02.2022 auf seniorweb.ch

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Mahnmale in meinem Wohnzimmer

publiziert: 31.01.22

 

erschienen am 20.01.2022 auf seniorweb.ch

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Es geht um den guten Geschmack

publiziert: 31.01.22

 

erschienen am 06.01.2022 auf seniorweb.ch

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2021

Vom Tasten zum Fühlen

publiziert: 14.12.21

 

erschienen am 09.12.2021 auf seniorweb.ch

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Vom Sehen zum Schauen

publiziert: 14.12.21

 

erschienen am 25.11.2021 auf seniorweb.ch

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Wie ich ein Zuhörer wurde

publiziert: 13.11.21

 

erschienen am 11.11.2021 auf seniorweb.ch

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Lasst sie treicheln

publiziert: 13.11.21

 

erschienen am 28.10.2021 auf seniorweb.ch

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Ich will nicht mein Glück …

publiziert: 16.10.21

 

erschienen am 14.10.2021 auf seniorweb.ch

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Ich bin überzogen

publiziert: 16.10.21

 

erschienen am 30.09.2021 auf seniorweb.ch

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Ein Bundesrat philosophiert

publiziert: 24.09.21

 

erschienen am 16.09.2021 auf seniorweb.ch

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Meine Schiff- und Bahnfahrten

publiziert: 24.09.21

 

erschienen am 16.09.2021 auf seniorweb.ch

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Lebensmüde oder lebensgesättigt?

publiziert: 26.08.21

 

erschienen am 19.08.2021 auf seniorweb.ch

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Eine verspätete 1. August-Rede

publiziert: 11.08.21

 

erschienen am 05.08.2021 auf seniorweb.ch

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Realitätsverweigerung

publiziert: 26.07.21

 

erschienen am 22.07.2021 auf seniorweb.ch

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Europa im Fussballfieber

publiziert: 24.06.21

 

erschienen am 24.06.2021 auf seniorweb.ch

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Kaffeepause als Leber des Betriebs

publiziert: 04.06.21

 

erschienen am 05.06.2021 auf seniorweb.ch

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Ich denk, ich denk zu viel.

publiziert: 20.05.21

 

erschienen am 20.05.2021 auf seniorweb.ch

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Bundesrat Philipp Etter

publiziert: 06.05.21

 

erschienen am 06.05.2021 auf seniorweb.ch

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Gesicht und Antlitz

publiziert: 15.04.21

 

erschienen am 15.04.2021 auf seniorweb.ch

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Massliebchen blühen schon

publiziert: 01.04.21

 

erschienen am 01.04.2021 auf seniorweb.ch

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Aus Arthurs Sammlung von Bonmots

publiziert: 20.03.21

 

erschienen am 18.03.2021 auf seniorweb.ch

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Vom Mass der Dinge

publiziert: 20.03.21

 

erschienen am 04.03.2021 auf seniorweb.ch

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Leda Maria

publiziert: 17.02.21

 

erschienen am 18.02.2021 auf seniorweb.ch

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Von Helden und Stars

publiziert: 04.02.21

 

erschienen am 04.02.2021 auf seniorweb.ch

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Lob des Alters

publiziert: 21.01.21

 

erschienen am 21.01.2021 auf seniorweb.ch

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Wahrheit beginnt zu zweien

publiziert: 07.01.21

 

erschienen am 07.01.2021 auf seniorweb.ch

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2020

Weihnachten überstrahlt den Alltag

publiziert: 24.12.20

 

erschienen am 24.12.2020 auf seniorweb.ch

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Erinnerungen an einen Schneewinter

publiziert: 10.12.20

 

erschienen am 10.12.2020 auf seniorweb.ch

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Was meint «schön»?

publiziert: 05.12.20

 

erschienen am 26.11.2020 auf seniorweb.ch

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Das verlorene Lächeln

publiziert: 14.11.20

 

erschienen am 12.11.2020 auf seniorweb.ch

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… dass der Mensch brutto geliebt werden will

publiziert: 29.10.20

 

erschienen am 29.10.2020 auf seniorweb.ch

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Glückt das Glück?

publiziert: 17.10.20

 

erschienen am 15.10.2020 auf seniorweb.ch

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Wir müssen uns wehren

publiziert: 01.10.20

 

erschienen am 01.10.2020 auf seniorweb.ch

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Erkenne dich selbst!

publiziert: 17.09.20

 

erschienen am 17.09.2020 auf seniorweb.ch

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Ein Leben ohne Blumen ist sinnlos

publiziert: 03.09.20

 

erschienen am 03.09.2020 auf seniorweb.ch

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Ein anderer Traum

publiziert: 20.08.20

 

erschienen am 20.08.2020 auf seniorweb.ch

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Über die Farbigkeit der Welt

publiziert: 12.08.20

 

erschienen am 06.08.2020 auf seniorweb.ch

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Aus dem Tagebuch von Fritz Suter

publiziert: 23.07.20

 

erschienen am 23.07.2020 auf seniorweb.ch

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Umdenken heisst umsteigen

publiziert: 09.07.20

 

erschienen am 09.07.2020 auf seniorweb.ch

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Jupiter und die Ochsen

publiziert: 25.06.20

 

erschienen am 25.06.2020 auf seniorweb.ch

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Der Baum, dem Menschen ein Mass

publiziert: 11.06.20

 

erschienen am 11.06.2020 auf seniorweb.ch

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Über das allmähliche Schreiben einer Kolumne

publiziert: 20.05.20

 

erschienen am 14.05.2020 auf seniorweb.ch

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Ostern, Fest der Auferstehung

publiziert: 16.04.20

 

erschienen am 16.04.2020 auf seniorweb.ch

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Ich lebe zurzeit im Konjunktiv

publiziert: 02.04.20

 

erschienen am 01.04.2020 auf seniorweb.ch

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Liebe in Zeiten des Coronavirus

publiziert: 19.03.20

 

erschienen am 19.03.2020 auf seniorweb.ch

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Habe mein Autokontrollschild verkauft

publiziert: 24.02.20

 

erschienen am 20.02.2020 auf seniorweb.ch

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Komm! ins Offene, Freund!

publiziert: 16.02.20

 

erschienen am 13.02.2020 auf seniorweb.ch

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Warum philosophieren wir?

publiziert: 30.01.20

 

Wir alle sind Philosophen, auch wenn wir uns nicht so nennen. Wir haben ein Leben zu bestehen, dass nicht nur ein Honiglecken ist. Ein Chefarzt meinte, als ich ihm vom Tod meiner Frau erzählte: «Unter jedem Dach, ein Ach!» und er berichtete, was in seinem Haus passierte. Ohne philosophische Gedanken stehen wir leer da. Es gibt viele Gründe, warum wir nicht gedankenlos durch unser Leben kurven können. Die alten Griechen fanden, das Philosophieren beginne mit dem das Staunen. Staunen wir nicht mehr, geht uns Wesentliches verloren. «Der Staunende sieht, was anders ist; der aufhört zu staunen, sieht nur noch, was gleich ist; nein, er sieht nicht einmal das Gleiche, er hört überhaupt auf zu sehen; registriert nur noch; oder so: wer nicht mehr staunt, der hat die Zwischenräume, oder Durchlässe, verloren.» Peter Handke rät uns, Räume zu schaffen, wo wir die Dinge anders und neu sehen.

Die Wirklichkeit des Bösen zwingt uns kritisch, das Gute vom Bösen zu trennen und zu überlegen, wie sich beide zueinander verhalten. Blicken wir in die Kriegsgebiete oder hören von kriminellen Handlungen, fragen wir uns, warum tun sich die Menschen all das Schreckliche an? Diese Frage liess schon früh die Menschen zweifeln, ob der allwissende und barmherzige Gott die Erde geschaffen hat. Der grosse Philosoph Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) behauptete, dass wir in der besten aller möglichen Welten leben. Eine bessere gebe es nicht. Gott anzuklagen, helfe nicht weiter. Jeder müsse selber sehen, wie er mit dem Bösen fertig werde. Er könne nicht auf einen allmächtigen Gott hoffen. Das zwingt uns zu überlegen, wie wir – und wir alle sind angesprochen – eine bessere Welt schaffen.

Wir sind dem Zwang, unserem Leben Sinn zu geben, ausgesetzt. Sinn suchen ist ein weiteres Motiv, zu philosophieren. Die Frage nach dem Sinn des Lebens wirft uns zurück auf uns selbst. Es gibt niemanden, der für uns die Frage beantwortet, was ein sinnvolles Leben sei? Wir müssen erkennen, dass es keinen Sinn gibt, ausser wir finden ihn für uns selbst. Mit der Zeit kristallisiert sich innerhalb einer Gemeinschaft ein gewisser Konsens heraus. Er besteht darin, dass wir uns für Menschen nützlich machen sollen. Diese Einsicht setzt Kräfte frei, die den Menschen überraschen. Gelingt ihm, wo auch immer und für wen auch, nützlich zu sein, erlebt er eine Prise Glück und ist zufrieden. Er braucht sich nicht, in der unermesslich grossen «Glücksliteratur» umzuschauen. Sie hilft ihm nicht.

Das stärkste Motiv für philosophische Gedanken ist der Tod, dass Wissen, dass wir sterben werden. Der noch ausstehende Tod führt das Denken an die Grenzen des Daseins, zur Metaphysik, also über das materielle, leibliche Leben hinaus zur Frage, was sein wird, wenn wir tot sind? Damit betritt der Mensch die Sphäre des Glaubens und der Religion. Die Religion kann Antworten geben. Sie befriedigt aber Philosophen selten. Wofür, fragt er, soll ein ewiges Leben gut sein und worin besteht es? Ist es nicht vielmehr so, dass es in den theologischen und philosophischen Schriften keinen Gottesbeweis gibt, der das logische Denken befriedigt. Am Ende wirft die Frage den Menschen auf das nackte Da, auf unsere Existenz zurück und kommt wieder beim Staunen darüber an, dass es überhaupt etwas gibt und nicht nichts.

So dreht sich das Philosophieren in einem ewigen Zirkel, der nur durch den Glauben aufgebrochen werden kann. Im Glauben kann der Mensch aus der Realität flüchten, in eine, die er annimmt oder für sich konstruiert. Sie schenkt ihm Gewissheit, wenn er die Freiheit des Nicht-Wissens nicht auszuhalten vermag. Letztlich ist dieses Nicht-Wissen-Können der tiefste Beweggrund für das Philosophieren. Das Wort des Sokrates, bevor er zum Tode verurteilt wurde, lautete: «Ich weiss, dass ich nichts weiss.» Und Sokrates dachte wohl, dass er von den letzten Dinge nichts wissen könne. Vielleicht nahm er den glücklichen Gedanken mit ins Grab, dass er Menschen durch die Gespräche viel gegeben hatte.

 

Eine schöne Geschichte

publiziert: 30.01.20

 

erschienen am 16.01.2020 auf seniorweb.ch

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2019

Ist das Christkind gerecht?

publiziert: 19.12.19

 

erschienen am 19.12.2019 auf seniorweb.ch

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Ohne Rituale ist das Leben flach

publiziert: 08.12.19

 

erschienen am 05.12.2019 auf seniorweb.ch

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Lesen schenkt dem Leben Dauer

publiziert: 25.10.19

 

erschienen am 24.10.2019 auf seniorweb.ch

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Was ist komisch?

publiziert: 10.10.19

 

erschienen am 10.10.2019 auf seniorweb.ch

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Alles Amselgesanges nach mir auch

publiziert: 29.08.19

 

erschienen am 29.08.2019 auf seniorweb.ch

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Glückliches Alter

publiziert: 17.08.19

 

erschienen am 15.08.2019 auf seniorweb.ch

Ich schaffe es noch.

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Meditation auf dem Berg

publiziert: 04.07.19

 

erschienen am 04.07.2019 auf seniorweb.ch

Cicero erinnert, dass ein Leben ohne Dankbarkeit ein verfehltes Leben ist.

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Freie Kinder Gottes

publiziert: 21.06.19

 

erschienen am 20.06.2019 auf seniorweb.ch

Ein Liberaler kämpft für eine engagierte Zukunft.

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Eine Lanze für die Freiheit

publiziert: 06.06.19

 

erschienen am 06.06.2019 auf seniorweb.ch

Ein Liberaler kämpft für eine engagierte Zukunft.

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In vino veritas

publiziert: 24.05.19

 

erschienen am 23.05.2019 auf seniorweb.ch

Was schon vor mehr als zweitausend Jahren galt, ist aktueller denn je!

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Über die ewige Wiederkehr des Gleichen

publiziert: 10.05.19

 

erschienen am 10.05.2019 auf seniorweb.ch

Trotz Hast und Hetze leben wir in der immer gleichen einen Welt.

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Des Pudels Kern

publiziert: 25.04.19

 

erschienen am 25.04.2019 auf seniorweb.ch

Warum die Unvernunft oft über eine vernünftige Lösung dominiert.

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Eine Reise nach Italien

publiziert: 17.04.19

 

erschienen am 11.04.2019 auf seniorweb.ch

Am Ende war ich sehr glücklich…

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Die Kirchen leeren sich

publiziert: 30.03.19

 

erschienen am 28.03.2019 auf seniorweb.ch

Der Mensch muss zurück zur Erde finden und das Mächtige achten.

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Das Genaue und das Mächtige

publiziert: 14.03.19

 

erschienen am 14.03.2019 auf seniorweb.ch

Das Genaue und das Mächtige.

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Hornberger Schiessen

publiziert: 28.02.19

 

erschienen am 28.02.2019 auf seniorweb.ch

Narren sprechen manchmal eben doch die Wahrheit.

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Vom Schrecken des Erkennens

publiziert: 20.02.19

 

erschienen am 14.02.2019 auf seniorweb.ch

Der Schrecken erfasst den Menschen, wenn er erkennt, dass er sein Leben verfehlt hat.

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Was ist das – Heimat?

publiziert: 31.01.19

 

erschienen am 31.01.2019 auf seniorweb.ch

Heimat war immer. Lässt sie sich definieren?

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Mein Körper hat andere Ideen als ich

publiziert: 19.01.19

 

erschienen am 17.01.2019 auf seniorweb.ch

Er glaubte, er könne sich selbst heilen. Aber da waren Käfer im Spiel, die er nicht einfach besiegen konnte.

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2018

Der mächtige Baum

publiziert: 02.12.18

 

erschienen am 29.11.2018 auf seniorweb.ch

Ich begegne einem Ahorn wie einem Philosophen.

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Die Haut der Erde

publiziert: 18.11.18

 

erschienen am 15.11.2018 auf seniorweb.ch

Obwohl die Hitze des Sommers der Erde zusetzte, genoss ich die Schönheit der Landschaft.

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Supereliten über Eliten

publiziert: 03.11.18

 

erschienen am 01.11.2018 auf seniorweb.ch

Über den Begriff Elite herrscht Verwirrung. Zeit darüber nachzudenken.

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Veränderung des Lebensgefühls

publiziert: 29.10.18

 

erschienen am 18.10.2018 auf seniorweb.ch

Die Unsicherheit und die Ungewissheit nimmt zu. Die Digitalisierung trägt dazu bei.

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Gespräch mit dem Vater

publiziert: 04.10.18

 

erschienen am 04.10.2018 auf seniorweb.ch

Mein Vater und ich verstehen nicht, was in der Schweizerischen Politik vor sich geht.

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Das fehlende europäische Narrativ

publiziert: 25.09.18

 

erschienen am 20.09.2018 auf seniorweb.ch

Statt dieses Narrativ zu erzählen, wird immer häufiger gesagt, es gebe keines.

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Der Mensch – ein Neinsager?

publiziert: 06.09.18

 

erschienen am 06.09.2018 auf seniorweb.ch

Was schon vor mehr als zweitausend Jahren galt, ist aktueller denn je!

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Eroberung des Glücks

publiziert: 29.08.18

 

erschienen am 23.08.2018 auf seniorweb.ch

Neue Wege suchen, um glücklich zu sein oder den Elementen ausgeliefert zu werden.

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Die Entdeckung der Langsamkeit

publiziert: 09.08.18

 

erschienen am 09.08.2018 auf seniorweb.ch

Wir leben im Modus der Effizienz und des Aktivismus.

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Das Wort kennt keine Rückkehr

publiziert: 28.07.18

 

erschienen am 26.07.2018 auf seniorweb.ch

Kann Donald Trump das in Helsinki ausgesprochene Wort zurücknehmen?

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Huonders Naturbegriff

publiziert: 12.07.18

 

erschienen am 12.07.2018 auf seniorweb.ch

Bischof Vitus Huonder hat seine Kirchenschäflein mit einem Hirtenbrief beglückt.

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Zur Philosophie des Fussballs

publiziert: 27.06.18

 

Fussball ist mehr als nur Fussball. Gedanken zur gegenwärtigen WM.

Über den Fussball sind Hunderte von Büchern geschrieben worden. Er ist ein Massenphänomen, das Millionen in Bann zieht. Das gelingt Einzelsportlern nicht im gleichen Masse. Der Grund mag sein, dass Fussballer eine Nation oder eine Region repräsentieren. Aber dies allein genügt nicht, das Phänomen zu verstehen. Es muss tiefere Gründe geben. Fussball ist ein Spiegel des Lebens. Er repräsentiert Grundphänomene des menschlichen Daseins, mit denen jeder Mensch konfrontiert ist. Fussball ist Kampf, ist Arbeit und ist Spiel. Die Kombination dieser drei Faktoren führt zu Sieg oder Niederlage. Sie fasziniert den Menschen. Dabei kommt dem Spielcharakter herausragende Bedeutung zu.

Fussball ist Kampf. Das Leben selbst ist ein Kampf, und der Kampf um den Ball ist dabei ein symbolischer Akt. Steht eine Mannschaft ohne Begeisterung, ohne Siegeswille, ohne Kampfgeist auf dem Platz, verdient sie sich keinen Preis und kein Lob. Spieler, die das Letzte aus sich herausholen, begeistern, selbst wenn die Mannschaft am Ende verliert. Der Zuschauer will erkennen können, dass jeder auf dem Platz kämpft, angreift, den Ball erobert und nachsetzt, wenn er ihn verliert.

Fussball ist Arbeit. Eine Nationalmannschaft bereitet sich durch intensives Training, aber auch durch die Theorie auf Spiele vor. Ein Fussballer nimmt zahlreiche Entbehrungen auf sich, um der eigenen Mannschaft zu dienen. Diese Arbeit erledigt er nicht nur mit den Beinen. Er braucht auch Esprit, um die Taktik des Trainers umsetzen zu helfen. Darin steckt der geistige Teil der Arbeit. Ohne Lernwille wird kein Fussballer gross. Auch hierin ist der Fussball ein Sinnbild des Lebens. Ist ein Fussballer nicht bereit an sich zu arbeiten, hat er auf dem Spielplatz nichts verloren. Zuschauer durchschauen die Taktik der Mannschaft. Sie bemängeln, wenn das Spiel nicht mit überraschenden Spielzügen brilliert.

Fussball ist auch Spiel. Das Spiel gehört zu den Grundphänomenen des Daseins. Es setzt dem Fussball die Krone auf. Das Spielerische nimmt der Arbeit und dem Kampf die Schwere. Der Fussballer als homo ludens, als spielerisches Wesen gibt dem, was erarbeitet wird, die Leichtigkeit. In der Spiellust kommt die Mannschaft zur höchsten Entfaltung. Ihr gelingen raffinierte Kombinationen und Spielzüge, die den Ball in das Tor des Gegners führen.

Jeder, der zuschaut, ist beglückt, wenn die spielerischen Elemente überwiegen und zum Sieg einer Mannschaft führen. Der Zuschauer spürt in diesen Augenblicken, wie ein derartiges Spiel die ganze Mannschaft verändert. Es geschieht etwas, was nicht genau erklärbar ist. Das Unerklärbare bricht ins Spiel ein. Die alten Griechen verdankten eine solche Verwandlung dem Eros, dem Gott des Spiels und der Leichtigkeit. Er entzündet den Spielrausch der Mannschaft. Kommentatoren geraten in Erstaunen und in einen masslosen Jubel, wenn sie mitansehen, wie der Eros die Mannschaft beflügelt. Sie können sich kaum mehr fassen, überborden in ihren Worten, die nicht gewählt, sondern ihnen einfach von der Zunge sprudeln und über die Medien in die Welt hinaus branden. In solchen Momenten wird der Fussball phänomenal und offenbart, was dem Menschen gelingen kann, wenn er Kampf, Arbeit und Spiel kombiniert.

 

Wie gelingt ein gutes Leben?

publiziert: 14.06.18

 

erschienen am 14.06.2018 auf seniorweb.ch

Ein gutes Leben wird dem Menschen nicht geschenkt. Er muss es erringen.

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Carpe diem – Nütze den Tag?

publiziert: 01.06.18

 

erschienen am 31.05.2018 auf seniorweb.ch

Wer hat das Sprichwort «Carpe diem» geprägt?

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Was ist, ist, was schon war

publiziert: 21.05.18

 

erschienen am 17.05.2018 auf seniorweb.ch

Die Geschichte holt uns immer wieder ein.

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Blütenpracht, ich hab’ dich gesehen!

publiziert: 04.05.18

 

erschienen am 03.05.2018 auf seniorweb.ch

Ein kleiner Ärger wird zu einer wundersamen Überraschung.

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Vaters Hahn

publiziert: 24.04.18

 

erschienen am 19.04.2018 auf seniorweb.ch

Frühe kindliche Erlebnisse schärfen die Wahrnehmung bis ins Alter.

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Die Katze im Sack kaufen

publiziert: 05.04.18

 

erschienen am 05.04.2018 auf seniorweb.ch

Wie soll der Wähler die richtige Person an die Spitze des Staates wählen? Die Sprache spricht oft in Bildern.

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Bildung in der medialen Welt

publiziert: 28.03.18

 

erschienen am 22.03.2018 auf seniorweb.ch

Die Pädagogik steht heute vor enormen Herausforderungen.

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Für wen schreibe ich?

publiziert: 10.03.18

 

erschienen am 08.03.2018 auf seniorweb.ch

In einem schriftlich festgehaltenen Gespräch stiess ich auf eine Stelle, die mir zu denken gab und mich veranlasste, mein Schreiben zu reflektieren.

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Das No-Billag-Dilemma

publiziert: 25.02.18

 

erschienen am 22.02.2018 auf seniorweb.ch

Es geht bei den Befürwortern nicht mehr um die Initiative, sondern um die Frage, wie man die SRG an die kurze Leine nehmen kann.

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Der alte Hirschi

publiziert: 10.02.18

 

erschienen am 08.02.2018 auf seniorweb.ch

In Zug gab es früher einen Ausrufer, der mir in besonderen Momenten in Erinnerung kommt. Er ist ein wenig gute alte Zeit.

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Ausser sich, aber schön

publiziert: 31.01.18

 

erschienen am 25.01.2018 auf seniorweb.ch

Die Fastnachtszeit ist die Zeit der Narren. Es ist eine Zeit, in der sich der Mensch auch einmal von der andern Seite zeigen darf.

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2018: Die Sowohl-als-auch Schweiz?

 

publiziert: 14.01.18

 

erschienen am 11.01.2018 auf seniorweb.ch

Wir leben in der Zeit des verhärteten Denkens. Wir haben das feine erotische Spiel verlernt.

 

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2017

Die Fabel vom Esel «Nichtmitmir»

publiziert: 29.12.17

 

erschienen am 28.12.2017 auf seniorweb.ch

Difficile est satiram non scribere und des Esels Rat.

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In weihnachtlicher Zeit

publiziert: 14.12.17

 

erschienen am 14.12.2017 auf seniorweb.ch

In der Zeit des Advents und an Weihnachten suche ich das Kind in mir. Ich lausche einer Zeit, die nicht vergangen, sondern Gegenwart bleibt.

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Sich selbst belügen

publiziert: 02.12.17

 

erschienen am 30.11.2017 auf seniorweb.ch

Wir leben in einer Welt, wo sich mächtige Männer selbst belügen. Kann das gut gehen?

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Die Tränen von Seferovic

publiziert: 20.11.17

 

erschienen am 16.11.2017 auf seniorweb.ch

Es ist gut, dass das Pfeifkonzert gegen Haris Seferovic im Anschluss an das Barrage-Spiels gegen Nordirland eine Diskussion ausgelöst hat.

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Kleine Lesereisen

publiziert: 04.11.17

 

erschienen am 02.11.2017 auf seniorweb.ch

Es ist reizvoll, mit einem Buch unterwegs zu sein. Es lenkt davon ab, sehen zu müssen, was man lieber nicht sieht.

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Über das Bauchgefühl

publiziert: 23.10.17

 

erschienen am 19.10.2017 auf seniorweb.ch

Dem Bauchgefühl wird nachgesagt, dass es wichtige Entscheidungen fällt. Aber ist es wirklich so?

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Zur Kultur des Essens

publiziert: 05.10.17

 

erschienen am 05.10.2017 auf seniorweb.ch

Schon immer haben sich die Menschen mit der Zubereitung der Nahrung beschäftigt. Im langen Prozess der Zivilisation wurde das Essen kultiviert.

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Langweiliger Wahlkampf

publiziert: 21.09.17

 

erschienen am 21.09.2017 auf seniorweb.ch

Sollten wir uns lebhaftere Wahlkämpfe wünschen? Ist die Langweile in der politischen Auseinandersetzung ein Übel?

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Ästhetische Distanzierung

publiziert: 08.09.17

 

erschienen am 07.09.2017 auf seniorweb.ch

Der Volksmund sagt, auf einen groben Klotz gehört ein grober Keil. Aber appelliert diese Methode an die Vernunft?

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Plötzlichkeit des lyrischen Einfalls

publiziert: 24.08.17

 

erschienen am 24.08.2017 auf seniorweb.ch

Ein Erlebnis, eine Beobachtung, ein Blick kann ein Gedicht anregen, was an drei Beispielen aufgezeigt wird.

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Was auch gesagt werden müsste

publiziert: 12.08.17

 

erschienen am 10.08.2017 auf seniorweb.ch

Mit Recht wird am Ersten August die Schweiz in den höchsten Tönen gelobt. Sie ist ein wunderbares Land. Dennoch kann man sich selber belügen, wenn man über sie eine Rede hält.

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Ist Federer ein Held?

publiziert: 30.07.17

 

erschienen am 27.07.2017 auf seniorweb.ch

 

Mit dieser Frage beschäftigte sich der Zyschtig-Club, prominent besetzt mit zwei erfolgreichen Sportlern und einem Professor, der sich mit Heldenforschung befasst. Federer selbst dementierte.

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Mangel an Respekt

publiziert: 14.07.17

 

erschienen am 13.07.2017 auf seniorweb.ch

In unserer Welt des Wohlstands wächst die Unzufriedenheit und damit zugleich die Respektlosigkeit. Das scheint paradox.

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Gelassenheit und Heiterkeit

publiziert: 29.06.17

 

erschienen am 29.06.2017 auf seniorweb.ch

Es manifestiert sich immer mehr eine Sehnsucht nach einem Leben, das nicht dem lauten Trend der Zeit folgt. Es lohnt sich, dieser auf die Spur zu kommen.

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Ausgleich in einer hektischen Welt

publiziert: 15.06.17

 

erschienen am 15.06.2017 auf seniorweb.ch

Der Alltag von heute verlangt nach Ruhe und Besinnung. Wie aber gewinnt man sie, wenn die Hektik den Menschen oft überfordert?

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Der Kirschbaum und seine Gäste

publiziert: 03.06.17

 

erschienen am 01.06.2017 auf seniorweb.ch

Nachdem der Kirschbaum gefällt worden war, verschwanden auch die Vögel. Die Erinnerung an ihn aber bleibt, denn als Bild war er schon vor der bewussten Wahrnehmung da gewesen.

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Ein Mann bilanziert sein Leben

publiziert: 20.05.17

 

erschienen am 18.05.2017 auf seniorweb.ch

Nicht jedem intensiv arbeitenden Menschen gelingt es, sich durch Rauchen einer Zigarre ins Gleichgewicht zu bringen. Aber ich kenne einen.

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Über den Weingenuss

publiziert: 04.05.17

 

erschienen am 04.05.2017 auf seniorweb.ch

Ich frage mich manchmal, warum so viele Menschen unzufrieden sind, und stets den Mangel beklagen und vergessen, das Wunderbare zu loben.

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Hallo, ich bin ein Kultureuropäer!

publiziert: 20.04.17

 

erschienen am 20.04.2017 auf seniorweb.ch

Die Schweiz hat sich durch die Wirren der Jahrhunderte als eigenständiges Land behaupten können und blieb doch spür- und sichtbar beeinflusst von Europa.

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Trumps Unterschrift

publiziert: 06.04.17

 

erschienen am 06.04.2017 auf seniorweb.ch

Die Unterschrift von Donald Trump scheint mir sehr durchsichtig, ausdrucksstark. Sie widerspiegelt sich auch im Tower und in seinen Tweets.

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Eduard Mörike: Frühling, ja du bist’s

publiziert: 23.03.17

 

erschienen am 23.03.2017 auf seniorweb.ch

Niemand kann den Frühling befehlen. Der in den Dingen innewohnende Drang bringt ihn hervor. Das meint Mörike in einem Gedicht.

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Rechtsstaat und Demokratie

publiziert: 09.03.17

 

erschienen am 09.03.2017 auf seniorweb.ch

Wie gewinnen wir für unser politisches Denken und Urteil einen festen Halt und notwendigen Rahmen?

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Der Hofnarr

publiziert: 03.03.17

 

erschienen am 23.02.2017 auf seniorweb.ch

Hanskuony von Stockens Ratschlag für Erzherzog Leopold, genau zu überlegen, was er tue, wenn er bei Morgarten ins Land der Schwyzer einmarschiere, ist auch nach 700 Jahren noch beachtenswert.

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Wahrheit und Meinung in der Politik

publiziert: 15.02.17

 

erschienen am 09.02.2017 auf seniorweb.ch

Die Politik steht nicht im Geruch besonderer Ehrlichkeit. Die Wahrheit wird durch Meinungen kaschiert. Schliesslich darf jeder eine Meinung haben.

 

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Schnupfzeit

publiziert: 29.01.17

 

erschienen am 26.01.2017 auf seniorweb.ch

Viele Leute leiden unter der Grippe oder sie haben eine verschnupfte Nase und husten tief aus den Bronchien. Das kann auch zu einem Moment des Innehaltens werden.

 

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Über die Eliten

publiziert: 12.01.17

 

erschienen am 12.01.2017 auf seniorweb.ch

Ein fiktives Gespräch zwischen Sokrates und Alkibiades. Das Wort Elite war in Verruf gekommen. Alkibiades benutzte es, um seine Gegner schlecht zu machen.

 

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Gibt es auf Erden ein Mass?

publiziert: 06.01.17

 

erschienen am 29.12.2016 auf seniorweb.ch

Die Kolumne spricht von der Masslosigkeit des Menschen. Während ich schreibe, blicke ich von meinem Arbeitsplatz auf die Häuser am Hang.

 

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2016

Der Staat und seine Bürger

publiziert: 02.12.16

 

erschienen am 02.12.2016 auf seniorweb.ch

Volk und Bürger sind nicht identisch. Der Staat baut auf seine Bürger. Das Volk ändert seine Meinung dauernd.

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Der Mann mit dem falschen Hut

publiziert: 20.11.16

 

erschienen am 17.11.2016 auf seniorweb.ch

Menschen tragen unterschiedliche Hüte. Sie wählen meist einen, der zu ihnen passt oder vielleicht einen, in dem sie mehr scheinen, als sie sind.

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Der grosse Pan

publiziert: 03.11.16

 

erschienen am 03.11.2016 auf seniorweb.ch

Thomas Hürlimann hat in einem Interview beklagt, dass der moderne Mensch die Welt entleert habe, indem er nicht mehr an die grossen Erzählungen der Menschheitsgeschichte glaube.

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Die Gleichgewichtslage im Staat

publiziert: 21.10.16

 

erschienen am 21.10.2016 auf seniorweb.ch

In den letzten Jahren ist oft von faulen Kompromissen die Rede gewesen. Aber der Kompromiss gehört zur Staatskunst. Ohne ihn kommt es zu gefährlichen Gleichgewichtsverschiebungen.

 

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Bindung an den Sinn

publiziert: 15.10.16

 

erschienen am 15.10.2016 auf seniorweb.ch

Mein verstorbener Freund hat den Sinn seines Lebens in der Bindung an die Heimat durch seine vielseitige Tätigkeit gefunden.

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Schleiereulenpolitik

publiziert: 16.02.16

 

Es sei keine Frage, die Politik sei ähnlich temporeich geworden wie die Welt von Twitter und Facebook, und ebenso schamlos und transparent, sodass die Medien sich genötigt fühlen würden, die lapidaren Auswürfe des Augenblicks in ihre Kommentare einzubauen. Manchmal würden sie sie sogar zitieren. Alles sei öffentlich geworden, sodass der Philosoph Byung-Chul Han von der Transparenzgeschellschaft schreibe. Alles sei nach aussen gekehrt, enthüllt, entblösst, entkleidet und exponiert. Arthur Wind, mein Freund, ereiferte sich. Obwohl alles, was den Machthungrigen diene, öffentlich gemacht werde, würden Dinge verschleiert. Nie werde klar dargelegt, wer die aufwändige Propagandamaschine bei Volksabstimmungen schmiere. Darum nenne er diese Geldgeber und Politiker Schleiereulen.

Schleiereulen seien nachtaktiv. Sie würden in der Dämmerung oder in der Nacht jagen. Sie hätten es auf kleine Tiere, Nager, Fledermäuse, Kröten und Wühlmäuse abgesehen. Weil diese die Schleiereulen so gut ernährten, jagten sie in Gebieten, wo sie häufig vorkommen würden, auf dem Lande mehr als in den Städten. Sie seien mit einem besonderen Organ ausgestattet, sodass sie die Beute optisch und akustisch in die Krallen bringen könnten. Ihr Verhalten auf der Jagd sei vorerst geräuschlos. Sie würden über Hecken, Zäune, Gräben kreisen und mit ihren Krallen zuschlagen. Wer einmal in ihren bekrallten Zehen sei, bestaune die Schleiereule am Ende noch komischerweise. In den Krallen eines grossen Vogels verlören sie den Verstand. Am deutlichsten könne der Mangel an eigenständigem Denken Leserbriefen entnommen werden, die nachplapperten, was vorgesagt worden sei.

Verdutzt hörte ich Dr. Wind, dem Analytiker und Volkssoziologen, dem Kenner von Massenreaktionen, zu. Als guter Zuhörer spornte ich ihn an, sodass er sich in Schwung redete, seinem Namen gerecht, dachte ich, ohne eine Anspielung zu machen. Seine Rede hatte einen emotionalen Unterton und wirkte authentisch. Wie er auf das Bild der Schleiereule komme?, unterbrach ich ihn eher schüchtern. Einen Mann, der sich ereifert, sollte man ausreden lassen, sonst steigert sich der Eifer in Wut. Die Fernsehgespräche sind Muster, wie die Gespräche in Gezänk, manchmal in Zynismus und Häme umschlagen, sinnierte ich.

Dr. Wind aber ging auf meine Frage ein. Ein stattlicher Vogel wie die Schleiereule, die den Kopf fast um die eigene Achse drehen könne, nachtaktiv sei und hinterrücks zuschlage, eigne sich für die vorherrschende Politik. Das müsse ich doch zugeben. Ich nickte, natürlich nicht, weil er mich schon überzeugt hatte, vielmehr, weil ich hoffte, dass er noch etwas deutlicher werde.

Kaum gedacht, nannte er Beispiele. Ob etwa, was in Russland, Polen, Ungarn, der Türkei sich abspiele, nicht einer Schleiereulenpolitik gleiche? Nachtaktiv würden Menschen, die sich kritisch zum herrschenden Regime äusserten, verfolgt. Sie seien ein leichte Beute für die Schleiereule eben wie die Nager, Kröten und Fledermäuse. Das sei Weltpolitik. In der Schweiz würden die demokratischen Institutionen und der Rechtsstaat eine Machtkumulation verhindern, versuchte ich den Volkssoziologen zu bremsen. Mit der Widerrede erreichte ich das Gegenteil. Eine grosse Zahl der abstimmenden Bevölkerung durchschaue die Schleiereulenmethode der Politik nicht, weil sie stets mit empörenden Einzelfällen operiere, um daraus einen Grundsatz abzuleiten. Seit Jahren werde auf die Elite, wer immer auch dazu gezählt werde, Künstler, Intellektuelle, die Classe politique, die Richter mit ihrer Kuscheljustiz, auf die Linken und Netten eingehackt. Diese systematisch geübte Methode entspreche doch der Schleiereulenpraxis. Nachtaktiv, hinterhältig, zupackend und Vertrauen zerstörend. Wenn das Vertrauen in die Institutionen einmal zerstört sei, würden deren Argumente weniger zählen als ein abgegriffener Franken. Das könne doch jeder bei der gegenwärtigen Abstimmung – wie übrigens fast bei allen Abstimmungskämpfen – beobachten. Ob nicht die Persönlichkeiten fehlten, die diese Methode transparent machen könnten, warf ich ein. Sein Puls erhöhte sich. Die Stimme wirkte leicht angeschlagen. Er nahm einen Schluck. Er schaute über mich hinweg. Ich nahm ebenfalls das Glas zur Hand und prostete ihm zu. Mit heiseriger Stimme meinte er, das perfideste Beispiel einer Schleiereulentaktik sei die Durchsetzungsinitiative und fuhr fort: «Wie kam sie zustande? Die Schweizerische Volkspartei gewann den Abstimmungskampf mit ihrer Ausschaffungsinitiative. So weit, so gut! Bundesrat und Parlament erarbeiteten das zum Verfassungstext notwendige Gesetz. Aber schon während der Arbeit des Parlaments sammelte die Partei wieder Unterschriften. Sie verschärfte die Initiative mit dem Katalog von unterschiedlichen Straftaten, die nicht der Verfassung würdig sind. Dazu ist der Katalog nicht vollständig, und dennoch zu umfangreich. Steuerhinterziehung von Ausländern figuriert darin nicht. Sie müssen bei einer Straftat nicht ausgeschafft werden. Es geht um die Mäuse und Nager, nicht um die Tiere, die Fett angesetzt haben. Gegen das vom Parlament rechtzeitig vorgelegte Gesetz hätte die SVP das Referendum ergreifen können. Das tat sie nicht. Sie umging den üblichen Weg und schlug mit der neuen Initiative zu, nannte sie eine Initiative der Durchsetzung, wie wenn Bundesrat und Parlament ihrer Pflicht nicht nachgekommen wären. Diese in der Schweiz völlig unangemessene Methode nenne ich Schleiereulenpolitik. Ein Beispiel dieser Politik ist auch der Besuch einiger Parlamentarier in Eritrea von denen ein Vertreter derselben Partei den grössten Nutzen zieht und genau während des Abstimmungskampfes mit Fakten auftrumpft, die der genauen, seriösen Überprüfung nicht standhalten. Wer sich so mit Halbwahrheiten Kredit verschafft, nenne ich eine Schleiereule.»

 

2014

Ein wenig Magie und Mystik

publiziert: 07.01.14

 

(Die Kolumne wurde leider in der NLZ nicht veröffentlicht.)

Eine ganz besondere Geschichte erzählt der türkische Schriftsteller Yasar Kemal in seinem Roman: «Auch die Vögel sind fort.» Im Vorspann führt ihn der Schweizer Unionsverlag mit den folgenden Worten ein: «Jeden Herbst gehen die Vögel in Schwärmen auf einen Strand bei Istanbul nieder. Seit den Tagen des alten Byzanz will es die Sitte, dass die Städter sie vor den Moscheen, Kirchen und Synagogen kaufen und wieder frei lassen. Sie sollen an der Pforte des Paradieses Fürbitte leisten.» Kemal veröffentlichte den Roman 1978. Damals stand die Türkei an der Wende einer neuen Zeit. Drei arme Jugendliche versuchten aber noch immer mit dem Fangen von Zugvögeln ein wenig Geld zu verdienen. Sie fingen die Vögel nach altem Brauch, sperrten sie in Käfige und boten sie wie Marktschreier vor den religiösen Stätten zum Kauf an: «Fliege, Vogel! Fliege vor! Wart auf uns am Himmelstor!» Anfangs lief das Geschäft nicht schlecht. Auf einmal aber wurden die Burschen ausgelacht und verspottet. Resigniert sagten sie sich: «Die Leute haben sich geändert. Religion, Glaube, Allah, Mitleid, das Heilige Buch: All das gilt nicht mehr… Früher, als auch Mahmut (A.d.V.: unterdessen ein älterer Fischer) Vögel für das Paradies verkauften, kamen die Menschen zu Hunderten, um sie freizukaufen. Dann breitete sich überall Freude aus, die Welt war erfüllt vom Glück der Menschen und Vögel.»

Der Roman von Kemal schildert unaufdringlich, wie sich die Zeiten gewandelt haben. Seine Kritik ist subtil und feingesponnen. Yasir Kemal ist im Oktober 90-jährig geworden, wuchs in Armut in Südanatolien auf und zählt heute zu den meist übersetzten und ausgezeichneten Autoren seines Landes. Er wurde zu einem kritischen Beobachter der türkischen Politik und Gesellschaft. Im Roman erzählt er, wie eine alte Tradition langsam verloren geht. Der ideelle Wert des Vogelbrauchs wurde vorerst so etwas wie Folklore, doch dann verschwand die uralte Sitte. Wie sollten die in Freiheit entlassenen Vögel ein Gebet zum Himmel tragen? Da zündete man doch lieber in einer der christlichen Kirchen oder Synagogen eine Kerze an.

Den alten Brauch des Vogelfangens könnte man sinnbildlich auf Weihnachten übertragen. Das Christkind scheint es nicht mehr zu geben. Der masslose Konsum hat es vertrieben. Manches Kind hat sich daran gewöhnt, dass das «Wunderbare» als Überraschung in den Geschenken liegt. Neugierig, vielleicht sogar ein wenig gierig, wartet es auf die Bescherung unter dem Weihnachtsbaum. Hat es all die besonders schönen Geschenkpapiere hastig aufgerissen und entdeckt, was darunter zum Vorschein kommt, freut es sich fürs Erste. Falls es am zweiten Weihnachtstag ein Nachbarkind trifft, ist die Enttäuschung vielleicht gross, weil der Kameradin oder dem Kameraden genau der Wunsch erfüllt worden ist, den es selber auch hatte.

Auch dieses Jahr herrschte in der Vorweihnachtszeit eine angestrengte Hektik und Hast. Schon Ende Oktober wurden die Ladenfenster festlich geschmückt. Wer durch Einkaufsalleen und Bahnhöfe streifte, könnte wie Mahmut in Kemals Roman über die vielen Menschen staunen und sagen: «Aber keiner lacht.»

Es überrascht kaum, dass der Marketing Direktor des britischen Automobilherstellers Aston Martin, Markus Kramer, im einem NZZ-Interview im Herbst meinte, wenn man nicht selber plane, so plane jemand für uns. Dies seine Antwort auf die Frage, wie er es mit der Vorsehung halte. «Wer und ob jemand eingreift, weiss ich nicht und will es auch nicht wissen. Wir brauchen etwas Mystik und Magie im Leben.» Verbreiten Kerzen, Engelhaar, Kugeln am geschmückten Weihnachtsbaum etwas Mystik? Oder ist es der Geschenkberg? Und wie war es an Silvester, mit dem Riesenkrach und Lärm der Feuerwerkskörper, die über den Dächern zerplatzten? Ein Super-Kanonenschlag, eine Space-Sound-Rakete oder einem Familiy-Mix Komplettsortiment reichte nicht. Schon möglich, dass dieser funkensprühende Himmel dann als Magie empfunden wurde.

Die Frage, wer dieser Jemand sei, der für uns plant, bleibt im Interview unbeantwortet. Sind es die Medien, die sagen, was gilt? Oder die Banken und Geschäfte, die mit ihrer Werbung versuchen, unsere Sinne magisch zu verzaubern? So ein Handy oder ein «‹iPhone 5›, für alle, die bunt leben» unter dem Weihnachtsbaum, lassen vergessen, dass die Vögel fort sind. Wenigstens ist die Tradition noch nicht verloren gegangen, dass Kinder im Advent beim Guetzle helfen und mit Ausstechformen kleine Teigvögel herstellen. Am Ende ist dies für die Kinder das Wunderbare.

 

2014

Ein wenig Magie und Mystik

publiziert: 07.01.14

 

(Die Kolumne wurde leider in der NLZ nicht veröffentlicht.)

Eine ganz besondere Geschichte erzählt der türkische Schriftsteller Yasar Kemal in seinem Roman: «Auch die Vögel sind fort.» Im Vorspann führt ihn der Schweizer Unionsverlag mit den folgenden Worten ein: «Jeden Herbst gehen die Vögel in Schwärmen auf einen Strand bei Istanbul nieder. Seit den Tagen des alten Byzanz will es die Sitte, dass die Städter sie vor den Moscheen, Kirchen und Synagogen kaufen und wieder frei lassen. Sie sollen an der Pforte des Paradieses Fürbitte leisten.» Kemal veröffentlichte den Roman 1978. Damals stand die Türkei an der Wende einer neuen Zeit. Drei arme Jugendliche versuchten aber noch immer mit dem Fangen von Zugvögeln ein wenig Geld zu verdienen. Sie fingen die Vögel nach altem Brauch, sperrten sie in Käfige und boten sie wie Marktschreier vor den religiösen Stätten zum Kauf an: «Fliege, Vogel! Fliege vor! Wart auf uns am Himmelstor!» Anfangs lief das Geschäft nicht schlecht. Auf einmal aber wurden die Burschen ausgelacht und verspottet. Resigniert sagten sie sich: «Die Leute haben sich geändert. Religion, Glaube, Allah, Mitleid, das Heilige Buch: All das gilt nicht mehr… Früher, als auch Mahmut (A.d.V.: unterdessen ein älterer Fischer) Vögel für das Paradies verkauften, kamen die Menschen zu Hunderten, um sie freizukaufen. Dann breitete sich überall Freude aus, die Welt war erfüllt vom Glück der Menschen und Vögel.»

Der Roman von Kemal schildert unaufdringlich, wie sich die Zeiten gewandelt haben. Seine Kritik ist subtil und feingesponnen. Yasir Kemal ist im Oktober 90-jährig geworden, wuchs in Armut in Südanatolien auf und zählt heute zu den meist übersetzten und ausgezeichneten Autoren seines Landes. Er wurde zu einem kritischen Beobachter der türkischen Politik und Gesellschaft. Im Roman erzählt er, wie eine alte Tradition langsam verloren geht. Der ideelle Wert des Vogelbrauchs wurde vorerst so etwas wie Folklore, doch dann verschwand die uralte Sitte. Wie sollten die in Freiheit entlassenen Vögel ein Gebet zum Himmel tragen? Da zündete man doch lieber in einer der christlichen Kirchen oder Synagogen eine Kerze an.

Den alten Brauch des Vogelfangens könnte man sinnbildlich auf Weihnachten übertragen. Das Christkind scheint es nicht mehr zu geben. Der masslose Konsum hat es vertrieben. Manches Kind hat sich daran gewöhnt, dass das «Wunderbare» als Überraschung in den Geschenken liegt. Neugierig, vielleicht sogar ein wenig gierig, wartet es auf die Bescherung unter dem Weihnachtsbaum. Hat es all die besonders schönen Geschenkpapiere hastig aufgerissen und entdeckt, was darunter zum Vorschein kommt, freut es sich fürs Erste. Falls es am zweiten Weihnachtstag ein Nachbarkind trifft, ist die Enttäuschung vielleicht gross, weil der Kameradin oder dem Kameraden genau der Wunsch erfüllt worden ist, den es selber auch hatte.

Auch dieses Jahr herrschte in der Vorweihnachtszeit eine angestrengte Hektik und Hast. Schon Ende Oktober wurden die Ladenfenster festlich geschmückt. Wer durch Einkaufsalleen und Bahnhöfe streifte, könnte wie Mahmut in Kemals Roman über die vielen Menschen staunen und sagen: «Aber keiner lacht.»

Es überrascht kaum, dass der Marketing Direktor des britischen Automobilherstellers Aston Martin, Markus Kramer, im einem NZZ-Interview im Herbst meinte, wenn man nicht selber plane, so plane jemand für uns. Dies seine Antwort auf die Frage, wie er es mit der Vorsehung halte. «Wer und ob jemand eingreift, weiss ich nicht und will es auch nicht wissen. Wir brauchen etwas Mystik und Magie im Leben.» Verbreiten Kerzen, Engelhaar, Kugeln am geschmückten Weihnachtsbaum etwas Mystik? Oder ist es der Geschenkberg? Und wie war es an Silvester, mit dem Riesenkrach und Lärm der Feuerwerkskörper, die über den Dächern zerplatzten? Ein Super-Kanonenschlag, eine Space-Sound-Rakete oder einem Familiy-Mix Komplettsortiment reichte nicht. Schon möglich, dass dieser funkensprühende Himmel dann als Magie empfunden wurde.

Die Frage, wer dieser Jemand sei, der für uns plant, bleibt im Interview unbeantwortet. Sind es die Medien, die sagen, was gilt? Oder die Banken und Geschäfte, die mit ihrer Werbung versuchen, unsere Sinne magisch zu verzaubern? So ein Handy oder ein «‹iPhone 5›, für alle, die bunt leben» unter dem Weihnachtsbaum, lassen vergessen, dass die Vögel fort sind. Wenigstens ist die Tradition noch nicht verloren gegangen, dass Kinder im Advent beim Guetzle helfen und mit Ausstechformen kleine Teigvögel herstellen. Am Ende ist dies für die Kinder das Wunderbare.

 

2013

Wie der Mensch mit der Vergänglichkeit umgeht

publiziert: 25.11.13

 

Auf dem Weg zur Aussichtsterrasse eines Bergrestaurants begegnete ich einem Bekannten, der mir auf dem Abstieg entgegenkam. Ich blieb stehen, reichte ihm die Hand, und er wiederum fragte mich, wie es mir gehe. Auf diese Frage reagiere ich jeweils mit meiner inzwischen eingeübten Standardantwort: «Soviel ich weiss, gut!» Er erwiderte, das treffe den Nagel auf den Kopf. Er selber sei gerade noch einmal davongekommen. Unverhofft sei er ein halbes Jahr teilweise gelähmt gewesen, habe nach einem früheren Zeckenbiss unter den typischen Symptomen einer Borreliose gelitten. Als ich mein Essen bestellt hatte, blätterte ich im Speisesaal in der Zeitung und stiess auf eine Todesanzeige. Da stand unter anderem: «Trotz ungebrochenem Lebenswillen wurde er unerwartet aus unserer Mitte gerissen.» Später gesellte ich mich zu einem früheren Studienkollegen, der zufällig an einem der hinteren Tische Platz genommen hatte. Wir hatten uns einiges zu erzählen, bis ich von der Begegnung auf dem Wanderweg begann.

«Wozu leben wir eigentlich?», fragte ich beim Anstossen, und gab die Antwort gleich selber: «Zur Bereicherung von Wissen und Können und zur Lebensfreude!» «Und dennoch ist das Leben vom Tod überschattet», antwortete mein Kollege. An die Geschichte meines Bekannten anknüpfend sprachen wir lange über den Tod und was er für den Menschen bedeute. Der Tod lasse keinen Menschen los. Doch nicht jeder könne im Frieden mit sich selbst sterben, sagte er. Da holte ich spontan das Blatt mit den Todesanzeigen aus dem Zeitungshalter und las ihm eine vor. «Mit eindrücklichem Gleichmut hat sie ihre Krankheit ertragen. Mit bewundernswerter Ruhe hat sie ihren nahen Tod angenommen. Im Frieden mit sich.»

Eine solche Gelassenheit ist nicht allen Menschen vergönnt. Die Hinterbliebenen verraten mit der Charakterisierung, dass die Verstorbene geradezu eine stoische Haltung bewahrt hatte. Der Tod aber ist im Grunde ein Nichts, und was nachher kommt, kann niemand wissen. Darum ist das Nachdenken über den Tod „ein dämmerhaftes Denken“, wie der Philosoph Vladimir Jankélévitsch geurteilt hat. Weil der Mensch sterben muss und vor dem Tod Angst hat, braucht er gleichzeitig Krücken. Die Phantasie liefert ihm zum Beispiel eine. Der Glaube ist vielleicht auch eine, die hilfreich sein kann.

Nun wagte ich es, die These aufzustellen, dass das Nichts am Ende des Lebens die Vorbedingung für die Phantasie des Menschen sei, denn würde er nicht sterben, bräuchte er keine Einbildungskraft. Die mittelalterliche Theologie scheine diese Behauptung zu bestätigen, wenn sie sage, der Lohn im Himmel für ein ehrliches Leben auf Erden bestehe darin, Gottes Antlitz von Ewigkeit zu Ewigkeit anschauen zu dürfen. Wäre der Mensch unsterblich, könnte er auf derartige Versprechungen verzichten. Ohne Krankheit und Tod bräuchte er sich auch nicht um technische Errungenschaften zu bemühen. Da der Tod aber ist, versuche der Mensch, mit sich ringend, besser und angenehmer zu leben und eine Antwort auf die Frage zu finden, was der Sinn des Lebens sei. Die Geistesgeschichte zeuge davon, dass die Frage, ob das Leben weitergehe, bestimmend ins Leben eingreife. Deshalb könnten Religionen und esoterische Lehren miteinander wetteifern, um eine überzeugende Antwort anzubieten.

Der Tod allerdings darf nicht mit dem Sterben verwechselt werden. Darüber wie ein Mensch gestorben ist, kann man reden, tot sein aber heisst schlicht: nicht mehr sein. Denkt man an einen Toten, erinnert man sich immer an sein Leben. Im Roman «Das Haus der glücklichen Alten» von Valter Hugo Mâe trauert Antonio Jorge da Silva um seine Gattin Laura, die neben dem Altersheim auf dem Friedhof begraben liegt. Er getraut sich vorerst nicht allein ans Grab zu gehen. Die alten Männer, die sich im Haus zu einer Gruppe zusammenfinden, vertun ihre Tage und so wird ihr Getue zur Variation über das düstere Thema des Todes. Sie suchen Zerstreuung, Ablenkung, wenden sich Äusserlichkeiten zu, entfachen Streit, ja, beginnen sich sogar zu hassen. Sie können und möchten sich nicht mit dem Nichts beschäftigen.

Oft inszeniert der Mensch ein grandioses Welttheater, um vom Tod abzulenken. Weil unfassbar ist, was nach dem Ende des Lebens geschieht, bleibt eine grosse Lücke offen, das der Phantasie und dem Denken viel Spielraum gibt. Der Mensch erfindet Geschichten, Glaubenslehren, Theorien, Bekenntnisse, Mythologien, Komödien und Tragödien. Damit versucht er mit der Tatsache der Vergänglichkeit fertig zu werden. Auch wenn einer sagt, soviel er wisse, gehe es ihm gut, ist er nicht frei, nicht an den Tod zu denken.

 

Sonnenaufgang auf der Rigi

publiziert: 19.10.13

 

Die Linie des Horizonts glich einem riesigen Scherenschnitt: Die untere Hälfte stand noch im Dunkeln, war schwarz; über der gezackten, gezähnten und gekerbten Linie war es hingegen bereits hell. Ein oranger Schimmer lag über den Bergen, die dank ihrer Konturen leicht zu erkennen waren: Säntis, Glärnisch, Uri Rotstock, Titlis, die Berner Alpen mit Mönch und Jungfrau. Es würde einen herrischen Sonnenaufgang geben, denn der Himmel war klar, die Halbmondsichel glänzte in fahlem Licht, und nur ein feiner Seidendunst spannte sich vor dem westlichen Bergmassiv auf. Es war still, fast feierlich ruhig. Ich zählte fünf Menschen, die wie ich ganz langsam zum Gipfel gingen. Wenn sie nur nicht laut zu reden beginnen würden! Meine Befürchtungen waren unbegründet, denn auch sie erwarteten staunend die Wiedergeburt des Tages. Mich ergriff eine andächtige Stimmung. Langsam hellte es auf. Bleischwer schienen die Seen im Tal vor sich hinzudämmern. Entlang von Dorfstrassen leuchtete eine Perlenkette aus Lichtern. Der Lärm des einsetzenden Morgenverkehrs versuchte die Berglehne hochzuklettern.

Ein kalter Wind sauste um die Ohren und er raunte mir zu: «Du hast es gut, du darfst den Tag auf dem Berg geniessen.» Es war fast, als würde er den Hauch des Wunderbaren, des Ewigen in meine Richtung treiben. Ein Flugzeug stach himmelwärts. Der Kondensstreifen, den es, weiter steigend, hinter sich nach zog, erschien im Licht der Sonne wie ein Komet, der in umgekehrter Richtung ins Grosse und Weite wies. Das dunkle Blau im Westen begann sich zu verfärben. Es wechselte hinüber zu Grüntönen, die sich über Orange in ein immer saftiger werdendes Rot verwandelten. Dieses löste sich allmählich auf, denn die Sonne stieg höher. Bald würden erste Sonnenstrahlen sich über dem Horizont ausbreiten, und die Sonne selbst würde in ihrem Gold erscheinen. Doch liess sie sich Zeit, und hätte ich gesagt: «So gehe doch endlich auf!», wäre dies ein Zeichen gewesen, dass ich ihrer unwürdig bin. Ich stand in gedankenvoller Stille und Ruhe da und wartete auf das Ereignis.

Es konnte nur noch Minuten dauern, bis im schimmernden Rot der Sonnengott erscheinen würde. Ich drehte mich hin zu den Berner Alpen. Auf ihren Gipfeln würden die ersten Strahlen ein Leuchten auslösen. Und schon fiel das Licht in die höchsten Zacken, wanderte in grossen, und wie mir schien, schnellen Schritten nach unten. Nur die Eigernordwand blieb im Schatten. Der leichte Dunst liess jedoch die mächtigen Riesen nicht allzu scharf hervortreten. Bald erschien Helios, der Sonnengott, schimmerte zuerst durch die Zacken des Horizonts und schon breitete er sich in seinem vollen Glanz rascher aus, als ich es erwartet hatte. Schon bald beherrschte er den Himmel, seine Macht und Herrlichkeit blendete mich so sehr, dass ich seinen Aufstierg nur noch durch die gespreizten Finger verfolgen konnte. Dass die alten Griechen Helios, den Sonnengott, ohne den nichts blüht, als den Herrn der Welt verehrten, wunderte mich nicht.

Er bewies auch sofort, was er alles vermag. Er zähmte den kalten Wind, er veränderte das zweidimensionale Landschaftsbild in ein dreidimensionales. Die Welt um den Berg bekam Farbe und Tiefe. Die Täler öffneten sich. Durch einige von ihnen würden Strassen zu Pässen führen, andere aber ans «End der Welt». Tief unter dem Aussichtspunkt weideten Kühe, von Ferne hörte ich ein Bimmeln. Die bleigrauen Seen waren nun blau, lagen im Abstrahl der Hänge und glitzerten fleckenweise. Ja, ja, der alte Goethe hat schon recht, wenn er sagt: «Am farbigem Abglanz haben wird das Leben.»

Die Stille des Sonnenaufgangs begleitete mich durch den Tag bis zum Abend. Die fünf unbekannten Menschen, die mit mir den Sonnenaufgang feierten, erkannten, dass in der Stille Heilung zu finden ist. Wie hat es mir weh getan als ich bei anderer Gelegenheit mitten in eine schwatzende und lachende Tourstengruppe gerieht, die die Bahn frühmorgens auf den Berg gebracht hatte. Ich musste fliehen. Nur, wenn du mitten drin auf Distanz gehst, kommst du dir näher.

Michel Serres, einer meiner Säulenheiligen, entfloh einmal dem Lärm von Paris und suchte in Epidauros Stille. Da sitzt er in den Ruinen der griechischen Kultstätte, Asklepios, dem Heilgott, gewidmet, und bedenkt sein Leben. Plötzlich nähern sich Touristen: «O Schreck, eine Gruppe. Ich höre sie schon von weitem kommen. Aus grosser Entfernung schickt sie den Schmutz ihres Lärms voraus. Noch bevor ich sie von oben aus dem Tunnel der grünen Zweige treten sehe, dröhnt sie mir an die Ohren, hat die transparente Luft aufgezwirbelt. Zwei, zehn oder vierzig Menschen umgeben sich mit einer Schale aus Sprache und einer weiteren Hülle aus Gemurmel; vorne, seitlich und hinten … Da kommt es. Orchester. Sie reden, kreischen, diskutieren, schreien, lassen ihre Bewunderung hören … Die Götter, die Heilung, der Gleichklang der Organe mit den Dingen, das alles ist verschwunden … » (In: «Die fünf Sinne»). Es war ein Glück, dass ich mich diesmal in völliger Stille dem Ereignis des Sonnenaufgangs hingeben durfte.

 

erschienen in: Neue Luzerner Zeitung

 

Zur Verteidigung der Spatzen

publiziert: 07.09.13

Nachdem meine Kolumne «Keine Macht den Spatzen» in Form einer Fabel in der «Neuen Luzerner Zeitung» erschienen war, erhielt ich einen Brief mit vielen Fragen. Er war so humorvoll abgefasst, dass ich heute auf den Inhalt öffentlich öffentlich eingehen möchte. Der Name des Absenders tut hier nichts zur Sache, aber er hat meine Vorhaben autorisiert. Der eine oder andere Leser werde ihn vielleicht erkennen, aber das mache ihm nichts aus, lachte er, als wir uns getroffen haben. Ich musste ihm auch nicht erklären, dass schon die alten Fabeldichter gegenüber gewissen Tieren Vorurteile hegten. Der Esel wird als dumm, der Fuchs als schlau und der Löwe als stark, die Krähe sogar als eitel hingestellt. Die Verschlagenheit hat dem Fuchs aber einmal nichts genützt, als er mit seinem Freund, dem Esel, unterwegs einem Löwen begegnete. Wenn er ihn verschone, werde er den Esel in eine Grube führen, schmeichelte der Fuchs dem Löwen. Sobald der Esel im Loch gefangen war, knurrte der Löwe: «Ausgezeichnet, der Esel wird mir nicht entrinnen. Du bist zuerst an der Reihe!» Und er zerriss den Fuchs. So kann es Verrätern ergehen!

Zurück zum langen Brief, der eine Lanze für die Spatzen brach. «Im Namen der Spatzen und als Gönner der Vogelwarte Sempach bin ich nach der Lektüre der Kolumne irritiert und verunsichert. Im Winter, wenn es viel Schnee hat, füttern wir die Spatzen. Im Dachteil unseres Hauses befinden sich vier Spatzennester, in denen die Vögel im Sommer zweimal brüten. Was», fragte der Briefschreiber, «soll ich nun tun, wenn die Spatzen so frech sind, wie in der Kolumne erwähnt?» Wenn ihn das seichte Sommerfernsehprogramm nicht störe, werde ihn das Tschilpen wohl auch nicht aus der Ruhe bringen. Die Menschen jedenfalls seien letztlich streitsüchtiger als die Spatzen, beruhigte ich ihn. Denn selbst die frechsten Spatzen würden nicht derart rechthaberisch das Gespräch an sich reissen, wie dies bei vielen Talkshows vorkomme.

Mit einem leidenschaftlichen Bekenntnis zu den Spatzen unter dem Hausdach hat der Brief begonnen. Der Schreiber fährt weiter, es stelle sich ihm aber ein gewichtigeres Problem: «Meine liebe Frau nennt mich seit jeher Spatz oder, wenn es um neue Schuhe geht, sogar Spatzeli. Wie soll ich, nachdem ich Ihre Abqualifizierung der Spatzen gelesen habe, ihr beibringen, mich nicht mehr Spatz oder Spatzeli zu rufen? Haben Sie für einen solch verzwickten Fall ein Rezept oder gar einen besseren Begriff parat, wie sie ihren Altgeliebten künftig nennen soll?»

Nun drehte ich den Spiess um und antwortete, er solle seiner Frau nicht verbieten, ihn Spatz zu rufen. Aber er müsse sie warnen, dass dies Folgen haben könnte. Denn selbst einer, der liebevoll «Spatzeli» genannt werde, könnte unter Umständen Spatzen-Eigenschaften entwickeln. Was dies bedeute, wisse jede Frau, habe sie doch auch schon beobachtet, wie Spatzen ganz gern aus fremden Töpfen picken.

So ging es weiter, und ich geriet in arge Verlegenheit. Der Mann fragte mich nämlich, ob Edith Piaf, der Spatz von Paris, nach meiner Einschätzung nicht eine bessere Bezeichnung verdient hätte wie auch der berühmte militärische Spatz und die feinen Spätzli, die es zum Rehpfeffer gibt? Und die «Rigispatzen» oder die «Ägerer Dorfspatzen»? Die seien doch hervorragende Musikanten, selbst wenn sie sich «Spatzen» nennen. Und weiter meinte er, den sprachbewussten Kolumnisten mit leichtem Unterton fragen zu müssen, ob er etwa für das gängige Sprichwort «Lieber den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach?» eine bessere Metapher vorschlagen könne. Ich gab mich geschlagen und streckte die Waffen.

So betrachtet, sei sein Brief eine ornithologische Ehrenrettung einer Vogelart, die viel Nutzen bringe, vor allem deshalb, weil Spatzen unzählige Fliegen und Mücken fressen. Ich gebe zu, dass Spatzen nur frech sind, wenn man sie verwöhnt hat. Denn in der Nähe von Tischen bei Hotels und Restaurants werfen die Gäste ihnen oft Brot zu. Das macht sie satt und frech.

Ich begreife natürlich, dass der Briefschreiber das Wort Spatz stets in Anführungszeichen setzte. Damit wollte er seine geliebten Hausgäste von meinen Spatzen abheben. Selbstironisch meinte er am Schluss, er habe halt ein «Spatzenhirni» und tue mir deshalb vielleicht unrecht. Dennoch hätte er «Spatzen», die ich von der Macht gern fernhalten möchte, lieber als Intriganten, Mitmischler, Hintermänner, Dunkelmänner oder als Drahtzieher bezeichnet. Meine Antwort war einfach: Mit einer Fabel kann man eine komplexe Situation knapp auf eine Pointe zuschreiben, ohne zu moralisieren, was mir übrigens ein anderer Leser bestätigt habe. Die Fabel habe auch den Vorteil, dass sie weder zeit- noch ortsgebunden ist. Nur schon, wenn seine Frau ihn Spatzeli nenne, stecke mehr darin, als wenn sie ihm einen langen Liebesbrief schreiben würde.

 

erschienen in: Neue Luzerner Zeitung

 

Keine Macht den Spatzen

publiziert: 03.08.13

Diesen Sommer sass ich auf dem Domplatz von Brixen unter dem Sommerdach eines Restaurants und schaute dem lebhaften Treiben zu. Die Menschen waren in Ferienstimmung, fotografierten die Fassade des Doms, schwatzten laut oder schlenderten quer über den Platz, wo Musiker gerade daran waren, sich auf ein Konzert vorzubereiten. Unter den Tischen und Bänken ruckten Tauben herum und suchten nach Essbarem. Eine von ihnen erwischte ein Stück Brot und pickte, etwas ungeschickt wie mir schien, Krumen heraus, ohne dass es zerbröckelte. Da stürzte plötzlich ein Spatz hinzu, packte das Bröckchen, entwischte damit auf den nahen Stuhl neben mir und flog von da auf einen Fenstersims. Ein zweiter verfolgte den Dieb und tat sich später auch gütlich an der Beute. Die Taube irrte umher, als wüsste sie nicht, was geschehen war, warf den Kopf bei jedem ihrer Schritte nach vorn, wie es Tauben eben tun, und wunderte sich dabei, dass das Brot weg war.

Diese kleine Episode ging mir nicht mehr aus dem Sinn. Als wäre es eine Fabel, zog ich daraus die Lehre: Sei aufmerksam und beweglich und hüte dich vor Spatzen, wenn du etwas Kostbares hortest. Mir fiel dies alles wieder ein, als ich in einer italienischen Zeitung las, Papst Franziskus habe dem argentinischen Journalisten Jorge Milia anvertraut, wie schwierig der Anfang seines Pontifikats gewesen sei. Es gebe im Vatikan viele Padroni, altgediente Herren eben, die auf ihren Pfründen sitzen. Seine Agenda sei von den Sekretären bestimmt worden. Er aber habe dies geändert: «Sono io, che decido! Ich bin es, der entscheidet!» Und er schwänzte auch gleich ein feierliches Konzert, bei dem einer der Padroni für ihn einen Thron im Saal hingestellt hatte. Gleichzeitig betonte der Papst, er, Jorge Milia, könne sich nicht vorstellen, wie el viejo, der Alte, der emeritierte Vorgänger, demütig und weise sei. Jorge Milia veröffentlichte das Gespräch auf der Website «Terre d’America», aber bestimmt nicht ohne Zustimmung des Papstes.

Papst Benedikt XVI., in seiner Weisheit, durchschaute die Padroni leider lange nicht. Er hatte kaum eine Ahnung vom Treiben der vatikanischen Spatzen. Er sorgte sich vor allem um die Reinheit des Glaubens. Der neue Papst hingegen wählte die Form des Telefonats, um seine Mitarbeiter indirekt wissen zu lassen, was ihn am Anfang seines Pontifikats gestört hat.

In der italienischen Politik wimmelt es nur so von Spatzen, die tschilpen, was das Zeug hält. Der grosse Vogel hat sie um sich geschart, von dem sie sowieso abhängig sind. Und immer, wenn ihm ein Entscheid, sei es der eines Gerichts oder derjenige der Regierung, nicht passt, hacken die Spatzen drauflos. Ich habe in den diesjährigen Ferien von keinem Italiener ein positives Urteil über die einheimische Politik vernommen. Der Sommer 2013 wird mir diesbezüglich als einer der schlimmsten in Erinnerung bleiben, obwohl ich ihn sehr genossen habe, denn das Wetter war strahlend. Am Meer wehte immer ein erfrischender Wind, der Fisch schmeckte und der Schweizer Pavillon an der Biennale, mit einer Installation des Walliser Künstlers Valentin Carron, hat mir sehr gefallen.

Schlimm war der italienische Sommer vor allem wegen des ewigen Parteiengezänks. Weil die Regierung dauernd durch Drohung eingeschüchtert wird, sie werde gestürzt, wenn sie sich nicht entscheide, wie Berlusconi es wolle, ist das Land im Grunde genommen unregierbar und für Investoren wenig attraktiv geworden. Da sagte zum Beispiel der Innenminister und Vizepräsident, Angelino Alfano von Berlusconis Partei, er habe nicht gewusst, dass die Frau des Regimekritikers Mukhtar Ablyazov dem Diktator Kasachstans ausgeliefert worden sei, obwohl die Zeitungen nachweisen konnten, dass Alfano gelogen hat. Der Regierungspräsident Enrico Letta war gezwungen, ihm eine weisse Weste zu attestieren, denn die Spatzen tschilpten schon, sie würden die Regierung stürzen, falls er nicht dazu bereit sei.

Doch als wäre das nicht genug, bezeichnete der Vizepräsident der Senatskammer, Roberto Calderoli von der Lega, die schwarze Integrationsministerin Cécile Kyenge als Orang-Utan. Worauf gleich einige lokale Grössen nachhakten und dem Senator nach dem Mund redeten. Man brauche sich doch nicht so aufzuregen, schliesslich sei Kyenge nicht vergewaltigt worden. Eine dumme Stimme glaubte, die Ministerin in den Dschungel zurückschicken zu müssen. Immerhin begannen sich ein paar zu empören.So gab zum Beispiels ein Gastwirt Calderoli Lokalverbot. Schliesslich sah sich dieser gezwungen, sich öffentlich zu entschuldigen. Das tat er im Senat und überreichte dabei der Ministerin einen Blumenstrauss. Auf die Frage, was sie mit den Blumen mache, antwortete sie souverän: «Ich lasse sie zur Madonna des Guten Rates tragen.»

Rassistische Äusserungen sind Blumen des Bösen und gedeihen in einem aufgeheizten, fremdenfeindlichen Klima. Wie gut, dass es in Schweiz eine Rassismus-Strafnorm gibt. Und was würde ein Fabeldichter hinter solche Erfahrungen setzen? Achtet darauf, dass die Spatzen nicht an die Macht kommen!

 

erschienen in: Neue Luzerner Zeitung

 

Schreiben in dürftiger Zeit

publiziert: 15.06.13

Josef Stalin soll 1932 vor ausgewählten Moskauer Schriftstellern in einem Trinkspruch gesagt haben: «Unsere Panzer sind wertlos, wenn die Seelen, die sie lenken müssen, aus Ton sind. Deshalb sage ich: Die Produktion von Seelen ist wichtiger als die von Panzern …» Künftig erwarte er von ihnen, dass sie vom arbeitenden Sowjet-Menschen schreiben würden und damit vom Ruhm des kommunistischen Aufbaus. Auf einen kurzen Nenner gebracht: «Schriftsteller sind Ingenieure der menschlichen Seele.» Ingenieure arbeiten nach vorgegebenen Plänen, bauen Brücken und Häuser nach statischen Berechnungen und stehen im Dienst des Bauherrn. Stalins Kulturpolitik erstickte die Literatur und machte sie zur Magd des Sowjet-Staates.

Haben die längst verstorbenen russischen Schriftsteller, von denen wir heute höchstens noch Maxim Gorki kennen, und die sich an Stalins zynische Trinkspruch-Vorgabe halten sollten, etwas Kreatives zustande gebracht? Wohl kaum. Ansätze einer freien, jungen Sowjetliteratur wurden damals erstickt, ihre Autoren vertrieben, totgeschwiegen oder sie fielen den Säuberungen zum Opfer. Anna Achmatowa, Michael Bulgakow und Ossip Mandelstam, die bleibende Werke hinterlassen haben und an jenem Oktoberabend 1932 nicht dabei waren, litten besonders unter Stalins Repression.

Ja, die Kreativität hält sich nicht an vorgegebene Grenzen. Sie überschreitet das Gewöhnliche und das Erwartete, benimmt sich ähnlich wie der Hofnarr, für den die Narrenfreiheit galt, und der somit (meist) ungestraft Kritik an den herrschenden Verhältnissen über konnte, die sein Herrscher gar nicht gerne hörte. Kritik stört, dass wissen alle, die von einem Sachverhalt sagen: So ist es zwar, aber es könnte auch anders sein. Der Schriftsteller ist eben kein Ingenieur der Seele. Das konnte sich nur ein Stalin oder ein Kulturminister der späteren DDR ausdenken.

In einer Demokratie herrsche Freiheit, glaubt man zumindest. Dennoch gilt die Narrenfreiheit nicht mehr allzu viel. Der Mainstream fährt über sie her und walzt sie platt. Heisst das Losungswort gerade Deregulierung, werden andersdenkende Stimmen unterdrückt oder totgeschwiegen. Dafür eignet sich ein Generalbass, der alles übertönt, und falls eine kritische oder kreative Stimme nicht zu unterdrücken ist, helfen Begriff wie Moralismus oder Gutmenschtum nach, um sie mundtot zu machen.

In einer früheren Kolumne habe ich einmal geschrieben: «Lesen will ich nicht. Lesen ist beschwerlich, und ich muss dabei auch noch denken. Mag ich nicht.» Das war natürlich ironisch gemeint. Ich lese immer noch viel, und manchmal denke ich dabei sogar etwas. Lesen entlastet einem im Tempo des Alltags. Gelegentlich treffe ich im Bus einen Bankangestellten, der täglich mehr als eine Stunde unterwegs zur Arbeit ist. Er nutzt die Zeit zum Lesen, nicht einfach ein Schmöker, sondern ein Buch von einer Schriftstellerin oder einem Schriftsteller, die etwas zu sagen haben, die ein Fenster öffnen, in eine andere, reale Welt. Ich spüre jeweils, wie dieser Leser Ruhe ausstrahlt und doch arbeitet er in einem hektischen Betrieb.

Wir leben in einer ziemlich dürftigen Zeit. Es fehlt im Grunde genommen ein echter gesellschaftlicher Diskurs über die Werte des Lebens. Schlagzeilen und Werbung immunisieren eine kritische Auseinandersetzung. Dabei ist es offensichtlich, dass die Individualisierung nicht etwa das starke Individuum hervorgebracht hat, sondern den angepassten Konsummenschen. Das «Warenangebot» ist zum modernen Ingenieur der Seele geworden. Der Mensch muss sich also in Acht nehmen, dass seine Seele nicht Ton wird, die sich nach dem Gesetz des Marktes richtet. Darin liegt eine neue Unfreiheit. Sie hetzt und treibt und stresst und führt am Ende in die Wachstumsfalle. Der Diktator ist aber nicht mehr Stalin.

In dieser dürftigen Zeit fehlt es an Bedächtigkeit und Langsamkeit. Die Angst zu kurz zu kommen, treibt den Menschen an, und wer das Tempo nicht mithält, sieht sich als Verlierer. Gibt es einen Ausweg? Ja, aber er ist beschwerlich. Man lese zum Beispiel das Buch eines kritischen Geistes.

Als sich der Dramatiker Rolf Hochhuth 1965 in die sozialpolitische Debatte in Deutschland einmischte, ärgerte sich der damalige Bundeskanzler Ludwig Erhard sehr und sagte in einer Rede: «Die sprechen von Dingen, von denen sie von Tuten und Blasen keine Ahnung haben … Da hört der Dichter auf, da fängt der ganz kleine Pinscher an.» Ein solches Verdikt eines Mächtigen muss einen Schriftsteller nicht beeindrucken. Kollegen wie Heinrich Böll oder Martin Walser haben Hochhuth mit witzigen Wortspielen verteidigt. Auch 2013 sollen Autoren ungeniert bellen, ja kläffen, wie ein Schnauzer, aufmüpfig und mit Lust an der Provokation und dem Leser Werke überlassen, mit denen er nur langsam vorankommt.

 

erschienen in: Neue Luzerner Zeitung

 

Der Bauch der Philosophen und Politiker

publiziert: 18.05.13

Ein Grossteil unserer Entscheidungen werden intuitiv gefällt. Man nennt sie Bauchentscheide. Da stellt sich bloss noch die Frage, was das für ein Bauch ist, der entscheidet und in welchem Verhältnis er zum Denken steht. Der französische Philosoph Michel Onfray hat ein Werk über den «Bauch der Philosophen» geschrieben, darunter über so berühmte Denker wie Immanuel Kant, Friedrich Nietzsche und Jean Paul Sartre.

Immanuel Kant betrank sich einmal in einer Kneipe in Königsberg, torkelte später nach Hause, doch er fand sein Haus nicht mehr. Dieses Erlebnis muss ihm zünftig in die Knochen gefahren sein, so sehr, dass er später, berühmt geworden, eine Theorie der Sinne entwarf und ein «hygienisches System» erarbeitete, dessen Postulat lautet: Beherrsche deine Natur, sonst wird sie dich beherrschen. Kant tafelte gerne gut und richtete sein Leben nach der Uhr. Die Königsberger wussten wie spät es war, wenn sie Kant auf seinem täglichen Spaziergang sahen.

Die Ernährung bestimmt das Verhalten, dessen ist sich Michel Onfray sicher. Nietzsches Philosophie mit ihren emotional heftigen Gedankengängen lässt sich wohl nicht nur auf die Ernährung zurückführen, aber erstaunlich ist die folgende Aussagen schon: «… ich habe bis zu meinen reifsten Jahren immer nur schlecht gegessen – moralisch ausgedrückt, unpersönlich, selbstlos, altruistisch, zum Heil der Köche und anderer Mitchristen.»

Jean Paul Sartre wiederum, der Getriebene, hielt es in späten Lebensjahren kaum mehr aus ohne Aufputschmittel, Alkohol und Tabak. Ihm widerstand jegliche Nahrung, bei der man auf dem Teller die natürliche Form des Fleisches und der Frucht erkennen konnte. Er ass Früchte nur, wenn sie zu Brei verarbeitet waren, das Fleisch zu Würsten. Im Rausch und im Traum peinigten ihn Krabben, Polypen und Langusten. Wie den Hühnerschenkel verachtete er auch die Schalentiere. Michel Onfray folgert: « – man verachtet die Schalentiere nicht ungestraft: Hütet euch vor einem Menschen, der es dem Hummer gegenüber an Achtung fehlen lässt.» Sartres Kernaussagen im Drama «Die Eingeschlossenen»: «Die Hölle, das sind die anderen» (L’enfer c’est les autres), entstammt wohl seinem Bauchgefühl.

Nun ist es natürlich recht gewagt, über den Bauch der Politiker ähnliche Mutmassungen anzustellen, so etwa ihr Essverhalten zu untersuchen. Sie werden sich hoffentlich nicht alle mit einem Schnellimbiss zufrieden geben, denn eines scheint sicher, die Gastronomie ist die Fortsetzung der Politik mit andern Mitteln. Ich erinnere mich, wie der ehemalige Zuger Regierungsrat Alois Hürlimann feuchtfröhlich ausgerufen hat: «An einem Bankett werden mehr Probleme gelöst als in stundenlangen Sitzungen.» Heute, scheint es, werden oft sehr lange Sitzungen abgehalten. Jedenfalls dauerte es Jahre, bis der Gegenvorschlag zur Abzocker-Initiative zustande gekommen war. Nebenbei: Seit man bei einem Bankett keine Zigarren mehr rauchen darf, hat sich Vieles auch in der Politik verändert.

Was man sicher ohne Beleidigung sagen darf: Es kommt schon darauf an, was und wie ein Philosoph oder Politiker isst. Sein Bauchgefühl wird ein anderes sein, wenn er die Blutwurst einem Gemüseteller vorzieht, die Schweinshaxe einem Birchermüesli, die Kutteln einer Lauchsuppe, den samtenen Rotwein einem Mineralwasser. Er wird nicht das Gleiche empfinden, wenn er für sich allein in einer stillen Ecke isst oder sich eher an die diätetische Regel hält: «Iss niemals allein!» Wie wird sich erst sein Bauchgefühl entwickeln, wenn er durch den Bahnhof rennt und einen Hamburger verdrückt?

Wer sich vom Bauchgefühl leiten lässt, ohne es dem Urteil der Vernunft zu unterstellen, kann auch mal irren, zudem beeinflusst die Ernährung das Denken, wie eben aufgezeigt. Bei mancher der vielen Initiativen, über die wir in den nächsten Jahren abstimmen werden, rechnen die Initianten damit, das Bauchgefühl des Volkes kitzeln zu können. Die Initiative selbst aber entspringt knallhartem strategischem Denken und Spekulieren. Zu Beginn geht es den meisten Initiativkomitees um die Frage, wie sich mit der Lancierung am besten Stimmen fangen lässt und dem Parteivolk nach dem Mund (nach dem Bauch) geredet werden kann. Die Taktik wird also nicht vom Bauch diktiert, sondern von der berechnenden Macht. Die geplante Verteuerung der Autovignette verursacht vielen Autofahrern Magenbeschwerden, also sagt die Taktik: Wir ergreifen das Referendum.

Der Soziologe Peter Atteslander behauptet: «Wir glauben nur, was wir sehen – leider sehen wir nur, was wir sehen wollen.» Abgewandelt sage ich: Der Bauch fühlt nur, was ihm behagt – leider folgen wir nur seinem Behagen. Entspricht, was der Bauch gern hätte, dem, was Bürgerinnen und Bürger von den Politikern erwarten? Sie wünschen sich doch eine gestaltende und nicht bloss eine reagierende Politik; eine Staatskunst also, doch eine solche würde einen gastrosophischen Diskurs voraussetzen.

 

erschienen in: Neue Luzerner Zeitung

 

Wo sind denn da die Neidbürger?

publiziert: 06.04.13

Ich gestehe: Ich habe der Abzocker-Initiative zugestimmt, obwohl mir bewusst war, dass sie nur symbolischen Wert hat. Mein Entscheid wurde aber nicht etwa von Neid oder gar Wut beeinflusst. Laut gewissen Kommentaren, die vor allem auch in deutschen Blättern über die Gründe der Annahme mutmassten, müsste ich nämlich ein Neid- oder gar ein Wutbürger sein. Aber ich beneide einen Abzocker nicht, wie sollte ich? Einkommensmaximierung war nie meine Absicht. Ich mochte mein Leben nicht auf Geld ausrichten. Millionen zu verwalten, wäre mir zu mühsam und ich würde erst noch vom Lesen eines guten Buches abgehalten. Übrigens sind zwei Menschen meist dann aufeinander neidisch, wenn sie auf der gleichen Stufe stehen. Ein Millionär neidet einem anderen vielleicht den Einfluss; ein Angestellter misst sich mit einem gleichgestellten Kollegen oder mit einem, der gerade nur einen Tritt höher steht. Der Besitzer eines Fiats 500 möchte vielleicht einen VW Golf fahren, aber doch keinen Lamborghini. Die wuchtige Zustimmung hat nicht mit dem Neid der Besitzlosen zu tun, sondern mit dem Gerechtigkeitsgefühl der Schweizer Stimmberechtigten.

Kommentatoren und Schreiber von Leserbriefen machen es sich zu einfach, wenn sie die Gegner der Minder-Initiative als Neidbürger qualifizieren. Diese Zuschreibung entlastet sie vom Nachdenken über die Gründe der Zustimmung. Das vorschnell vergebene Etikett «Neidbürger» gibt vor, dass sich Menschen von einem einzigen Gefühl leiten lassen. Wie sollte ein Bürger neidisch auf die Ospels und Grübels sein? Nein, ein solches Fazit ist zu simpel.

Ein Leserbriefschreiber meinte kürzlich, der Zorn habe bei der Abstimmung gesiegt, dabei sei aber wenig gewonnen worden. Diese Aussage ist nicht falsch. Wenn der Verfasser aber folgert: «Wir dürfen nicht zulassen, dass Abstimmungen zu Neiddebatten mutieren», dann liegt er falsch. Zorn kann zur inneren Triebfeder fürs Handeln werden. Zorn packt einen jedoch nicht aus heiterem Himmel. Er wächst ganz allmählich. Der gut Bürger, der Citoyen, hat in den letzten Jahren oft registriert, wie gewissen Banker «gschirret händ» und mit ihrem Tun den Ruf unseres Landes schädigten. Das tat weh. Weshalb sollte er nicht zornig werden? Und doch ist der Zorn nicht auf dem Mist des Neids gewachsen. War Gottes Zorn nicht auch begründet, als er Gericht über Sodom und Gomorra hielt und Lots Frau zu einer Salzsäuren erstarren liess?

Die Mehrheit des Volkes ärgerte sich schon lange über die Selbstbedienungsmentalität gewisser Manager, deren Verhalten als ungerecht und unmoralisch empfunden wurde. Wer nun aber das Argument der Moral ins Spiel brachte, wurde als Moralist abgestempelt. Bürgerinnen und Bürger begannen sich um das soziale Klima im Land zu sorgen. Wenn die Einkommensschere weiter auseinandergeht, driftet die Gesellschaft auseinander. Vollendete Tatsachen werden geschaffen, zugleich der Nährboden für Populisten, die den Volkswillen als virtuelles Bild heranziehen, um das eigene Machtstreben zu kaschieren.

Ich bin überzeugt, dass es nicht die Neidbürger waren, die der Abzocker-Initiative zum Durchbruch verhalfen. Stimmbürgerinnen und Stimmbürger wägen ein Ja oder ein Nein gründlich ab, bevor sie den Abstimmungszettel ausfüllen und in die Urne werfen.

Als ich an dieser Kolumne arbeitete, las ich das Interview mit Hans Adelmann in der «Neuen Luzerner Zeitung» vom 8. März. Adelmann ist der jüngere Halbbruder des Multimilliardärs Frank Stronach, der gerade daran ist, die österreichische Politik aufzumischen. Adelmann wohnt als pensionierter Schulhausabwart in der Ostschweiz. Er schildert, wie ihn das einfache Leben zufrieden und frei gemacht hat. Er brauche, sagt er, Frank nicht neidisch zu sein. Dem Journalisten erzählt er im Interview die eine oder andere Episode: Auf dem Jakobsweg sei ihm eine Lerche begegnet, die ihn mit ihrem Gesang mehrere Kilometer begleitet habe. «Die Reisen, die ich als junger Mann mit Rucksack und Schlafsack unternommen habe, gehören zu den schönsten Erinnerungen … Ich bin über 2000 Mal auf die Hundwiler Höhe gestiegen, habe den Berg und den Wald und das Firmament gesehen und gefühlt, dass ich nicht allein bin.» Im Vergleich mit seinem Halbbruder, der in der Welt herum hetzt, sei er zur Einsicht gelangt, dass ein einfaches Leben einen besseren Blick für das Wesentliche erlaube.

Im Leben eines Menschen kann sich übrigens die Perspektive verändern. Derjenige, der auf einem hohen Geldberg sitzt, realisiert eines Tages wie er den einfachen Mann und die einfache Frau beneidet, die den Blick für das Wesentliche im Leben bewahrt haben. Und oft reift in ihm die Erkenntnis: «Wer alles verrechnet – verrechnet sich am Ende selbst»*.

 

* Roland Reuss. Das Ende der Hypnose. Vom Netz und zum Buch. Stroemfeld 2012

erschienen in: Neue Luzerner Zeitung

 

Knigges Werk ist mehr als ein Benimmratgeber

publiziert: 23.02.13

Vor einigen Wochen in einem Zürcher Tram: Zwei Frauen, vermutlich Mutter und Tochter, nahmen vis-à-vis Platz und assen einen Apfel. Es knackte und krachte bei jedem Biss, sie sprachen und schmatzten gleichzeitig. Der Geruch der Äpfel streifte meine Nase. Zu Hause ass ich später einen der Sorte Pink Lady und er roch ähnlich wie die im Tram. Es war nicht gerade ladylike, was ich mir hatte anhören und ansehen müssen. Wie der Bursche im Bus, der es sich im Viererabteil bequem machte, als würde er zu Hause auf dem Sofa liegen. Die Frauen im Tram und der junge Mann im Bus fanden ihr Verhalten absolut in Ordnung. Jugendliche, die in Zügen pöbeln und Schäden anrichten, schämen sich nicht. «Nein zum Blankoscheck für unbezahlbare Familienpolitik» und daneben entdecken wir ein plärrendes «Staatskind». Auch Politpropagandisten schämen sich nicht, wenn sie hetzen und lügen wie auf dem Extrablatt, das in alle Haushaltungen flatterte. Es hat sich wenig geändert, seit vor 225 Jahren Adolph Freiherr von Knigges «Über den Umgang mit Menschen» erschienen ist. Die Peinlichkeits- und die Schamgrenzen werden noch immer überschritten.

Seit der Erstausgabe von 1788 gingen Tausende von «Knigges» über den Ladentisch der Buchhandlungen. Es gibt inzwischen einen Business-, einen Golf- und einen Hütten-Knigge. Angeboten wird auch ein Knigge für Kids und für Katzen, dank dem man «Miezes wahres Wesen und die richtigen Umgangsformen mit ihr» erkennen und erlernen kann. Mit einem Knigge-Test können sich der vornehme Herr und die Dame selber prüfen, ob sie die Benimmregeln beherrschen. Modernen Managern werden heutzutage Seminare mit ähnlichem Inhalt angeboten. Für in unserem Land Lebende gibt es einen Schweizer-Knigge. Was würde der alte Freiherr von Knigge zur Inflation dieser Benimm-Bücher sagen? Und wie würde er auf essende Menschen im Tram reagieren? Würde er einfach wegschauen, wie ich es getan habe?

Freiherr von Knigge geht es nicht darum, wie wir reagieren, wenn wir während eines Banketts vom Tischnachbarn gefragt werden, ob er nicht den Fisch auf unseren Teller laden dürfe, nur weil er keinen Fisch mag, es geht also nicht um einfache Benimm-Regeln. Das Lehrbuch ist sehr viel breiter und tiefer angelegt. Es ist eine der ersten grossen Schriften über den Umgang der Menschen untereinander. Knigge lebte in der Zeit der Aufklärung. Er ging vom mündigen Bürger aus, der den Umgang mit seinesgleichen vernünftig und würdevoll gestalten sollte. Der Prozess der Zivilisation hatte Fortschritte gemacht. Schon seit längerer Zeit assen die Menschen mit Löffel, Gabel und Messer. Dem Philosophen Knigge aber genügten simple Hinweise auf das gute Benehmen nicht.

In drei Teilen beschreibt er den Umgang mit Leuten von verschiedenen «Gemütsarten, Temperamenten und Stimmungen des Geistes und des Herzens», den Umgang unter Eheleuten und den Umgang mit den Grossen der Welt und mit «Leuten von allerlei Ständen und im bürgerlichen Leben». Dazu schreibt er etwa: «Nicht zum Spekulieren, zum Wirken ist diese Welt» oder: «Wer kein Geld hat, der hat auch keinen Mut.» Dass die Superreichen der übrigen Bevölkerung den Mund verbieten, erfahren wir täglich. Wer vor der Finanzmarktkrise die unverschämte Spekulation kritisiert hat, erntete ein mildes oder böses Lächeln und wurde als Gutmensch beschimpft.

Den Jünglingen rät Knigge, dass es sie besser kleidet, wenn sie bescheiden, schüchtern und still sind, als «nach der Art unserer heutigen jungen Leute, vorlaut, selbstgenügsam und plauderhaft». Kommt Ihnen irgendetwas bekannt vor? Knigge setzt sich aber auch mit der Sprache der Menschen auseinander und meint, man solle keine Gemeinplätze in die Rede einflechten, etwa wie, dass die «Gesundheit ein unschätzbares Gut» sei. Zu den heutigen Abzockern würde er wohl sagen, man solle beachten, dass die Menschen «selten ein solches Übergewicht ohne Murren und Neid» ertragen.

Das Buch ist eine Fundgrube für kluge Empfehlungen. Und da wir alle Fehler machen, befolgen wir am besten Knigges Rat, humorvoll zu bleiben, denn «wahrer Humor und echter Witz lassen sich nicht erzwingen, nicht erkünsteln, aber sie wirken, wie das Umschweben eines höheren Genius, wonnevoll und erwärmend.»

 

erschienen in: Neue Luzerner Zeitung

 

Kavallerie: Warum wir nicht darüber lachen konnten

publiziert: 12.01.13

Der grosse russische Schriftsteller Lev Tolstoi antwortete einmal Gräfin Alexandra Tolstaja, einer Verwandten, auf ihren Vorwurf, er schreibe ihr zu selten: «Les peuples heureux n’ont pas d’histoire», was ich bewusst frei übersetze: Wenn die Leute glücklich seien, gibt es eben nichts zu erzählen. Tolstoi schrieb damals an seinem grossen Roman «Krieg und Frieden» und er war bei der Niederschrift sehr konzentriert und glücklich. Der Gräfin bloss mitzuteilen, dass er an einem Roman schreibe, war ihm keine Nachricht wert, zumal Schriftsteller selten verraten, woran sie gerade arbeiten.

Tolstois Satz beherzigen auch die Journalisten. Sie stürzen sich gerne auf schlechte Nachrichten. Denn zu viele von den guten, wie etwa, dass Kate, die Frau von Prinz William, schwanger sei, ermüden nur die Royalisten nicht. Manchmal werden aber Nachrichten dramatisiert, die es nicht wert sind. So wurde etwa Peer Steinbrücks scherzhafte Drohung vor bald vier Jahren, die Kavallerie nach Helvetien loszuschicken, nicht nur in den Printmedien in den Rang einer schlechten Nachricht erhoben. Kein Medium forderte uns Bürger auf, darüber zu lachen. Steinbrücks salopper Spruch wäre in Deutschland kaum genüsslich wiederholt worden, falls von Beginn an in Helvetien ein grosses Gelächter angestimmt worden wäre.

Nun ist Peer Steinbrück Kanzlerkandidat der Deutschen Sozialdemokraten und wir werden wohl bis zu den Wahlen immer wieder lesen, wie sich der SPD-Politiker seinerzeit in der Wortwahl vergriffen hat. Steinbrück hingegen wird sich in der Aufregung der Schweizer sonnen und die Reitertruppe während seinen Wahlauftritten wieder aufmarschieren lassen, wenn sich eine Gelegenheit bietet. Über andere witzeln, bringt immer Lacher hervor. Ein Lacherfolg prägt sich dem Redner ein, und vielleicht hält er es dann wie jener Lehrer, der an den Rand seines Skripts schrieb: Hier pflege ich den folgenden Witz zu machen.

Dass wir Schweizer über die Sprüche von Peer Steinbrück nicht lachen, scheint ein Hinweis auf unsere Verunsicherung zu sein. Nur wenn wir uns gegen die EU ereifern, sind wir stark. Die Mehrheit der Schweizer erträgt nicht einmal die Forderung Christophe Darbellays, über eine neue EWR-Abstimmung nachzudenken. Wir weichen solchen Diskussionen lieber aus. Wir sind schliesslich «un peuple heureux», ein glückliches Volk, das froh ist, wenn es die alten Heldenmythen aufwärmen kann.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wollten Schweizer an der Geschichte der unerschrockenen Aktivgeneration festhalten. Als 2002 der umfangreiche, quellengestützte Bergier-Bericht vorlag, behaupteten Exponenten, denen der Westfälische Frieden als das wichtigste historische Vertragswerk unserer Geschichte gilt, der Bericht entspreche nicht den Tatsachen. Dabei wies er gerade nach, wie unser Land während des Zweiten Weltkriegs in die europäische Geschichte verstrickt war. Jahrzehnte nach dem Kriegsende war es an der Zeit, über die Rolle der Schweiz zu debattieren. Ohne diese Geschichtsschreibung könnten wir Schweizer uns immer noch dem trügerischen Schein hingeben, wir seien Musterknaben gewesen.

Seit der Finanzmarktkrise staunt jener Teil der naiven Schweizer – ich gehöre auch dazu –, wie es einigen Grossbanken gelang, den Ruf der Schweiz zu beschädigen. Wir machen im Moment für Ausländer keine «bella figura». Diese Tatsache überträgt den Druck auf das Land, und so begreife ich endlich, warum über den scherzhaften Spruch von der Kavallerie nicht gelacht wurde oder gelacht werden darf. Vielleicht sind wir im Begriff, den Humor zu verlieren, was meist tiefere, aber erklärbare Zusammenhänge hat.

 

erschienen in: Neue Luzerner Zeitung

 

2012

Vom Schalter- und vom Formulargefühl

publiziert: 14.12.12

 

Viele Menschen begegnen dem Staat nur am Rand, berühren quasi nur seine Haut, dabei kriegen sie manchmal fast Hühnerhaut. Wenn sie zum Beispiel an einen Schalter treten, erleben sie ein Schaltergefühl; beim Ausfüllen eines Formulars sind sie vielleicht unsicher, ob sie wirklich alles richtig machen. Besonders bei einer alljährlichen Steuerdeklaration fühlen sie sich überfordert. Diese drei Varianten von Gefühlen sind es, die mitbestimmen, welch Meinung sich ein Bürger über den Staat bildet.

Das Schaltergefühl: Du kommst an den Schalter in einem Amt. Eine nette Person fragt dich: «Was kann ich für Sie tun?» Dem angeschlagenen Ton entnimmst du, dass die Person freundlich ist und du fühlst dich erleichtert. Ein paar Wochen später trittst du vor einen anderen Schalter. Du wirst vom Beamten hinter dem Glas skeptisch begutachtet und schliesslich gefragt: «Was wollen Sie?» Du bist leicht verdattert und bemerkst, wie der Angestellte sich wie ein Frosch aufbläht. Das Gespräch verläuft harzig, weil du vielleicht ein bisschen stotterst. Zugleich wird der Mann hinter dem Schalter grösser und breiter. Du spürst und siehst, wie er die ganze Macht seines Amtes ausspielt. Dein mulmiges Schaltergefühl verstärkt sich. Du denkst, ich bin zugleich Steuerzahler, zwar eher ein kleiner, aber immerhin bezahle ich auch einen Teil seines Lohnes. Du realisierst, während dich der Beamte warten lässt, wie er vor dem Metallschrank mit einer Kollegin schäkert. Du fühlst dich nicht ernst genommen. Du findest nicht gleich das richtige Wort, wenn er zurückkommt. Er sagt: «Was glauben Sie eigentlich, wir hätten nichts Wichtigeres zu tun?»

Ähnlich erging es einmal meiner verstorbenen Frau. Sie suchte damals die kantonale IV-Stelle, um eine Angelegenheit für die Kinder zu erledigen, deren Vormund sie war. Dabei wurde sie äusserst schnöde behandelt. Als sie nach Hause kam, sagte sie, noch immer erbost, zu mir: «Heute habe ich zum ersten Mal von der Frau Regierungsrat Gebrauch gemacht.» Plötzlich sei die Beamtin «scheissfreundlich» gewesen, entschlüpfte ihr das saloppe Wort. Wir diskutierten eine ganze Weile über den Vorfall.

Das Formulargefühl: Eines der schlimmsten Gefühle beschleicht den Bürger, wenn er ein Formular ausfüllen muss, gespickt mit bürokratischen Wendungen, die er zum ersten Mal liest. Er sitzt vor den Blättern, die ihm rätselhaften bleiben und beschliesst zögernd das Amt anzurufen. Eine junge Frau, die in der Formularsprache bestens bewandert ist, faucht ihn an und sagt: «Schauen Sie doch im Internet nach. Dort ist alles erklärt». Und als er zaghaft einen Satz mit: «Aber …» einleitet, spürt er den Unwillen am anderen Ende der Telefonleitung. Er wird wütend, legt auf und der Feierabend ist gelaufen. Da er eine solche oder ähnliche Situation schon früher erlebt hat, bekommt er garantiert einen Formularkomplex und Kopfweh oder er trinkt in den Ärger hinein mehr als einen Schluck Rotwein, damit er dennoch schlafen kann.

Das Steuerformular: Die negativen Schalter- und Formulargefühle machen ihn leicht verdriesslich, und immer, wenn wieder ein Formular ins Haus flattert oder ihm eines zum Ausfüllen vorgelegt wird, spürt er, wie er anfängt zu schwitzen. Und wenn dann noch die alljährliche Steuererklärung eintrifft, sagt er sich: «Und das soll ich für den Mann hinter dem Schalter ausfüllen!» Der Bürger legt die Wegleitung und das Formular zur Seite und vergisst es auszufüllen, bis eine Mahnung kommt.

Nun, ich gebe es zu: Im Allgemeinen werde ich immer höflich behandelt. Natürlich versuche ich es schon beim Grüssen mit einem charmanten Lächeln, um unter Umständen eine gewisse Verlegenheit zu überspielen. Ich spiele dann noch ein wenig die Rolle des alten Manns, der nicht mehr so recht drauskommt. Lobe auf Vorschuss den Schalterbeamten und versuche mir nach der Theorie der Schmeicheleinheiten vorzustellen, wie viele für ihn anzeigt wären. Die Zahl der Einheiten ist freilich nicht leicht abzuschätzen, um sicher zu sein, dass sich der Herr hinter dem Schalter wirklich geschmeichelt fühlt. Da gehört schon ein bisschen Psychologie dazu. Und ist dir schon beim Gang aufs Amt und beim ersten Blick Richtung Schalter das Lachen vergangen, dann findest du auch den richtigen Humor nicht, der jede heikle Situation meistert. Wie glücklich bist du dann, wenn dir ein echtes, hilfreiches Lächeln entgegenkommt. Es rettet in Sekundenschnelle die Situation, denn ein Lächeln weist die höchste Sprengkraft auf, um aus einem «Niedsimuul es Obsimuul» zu machen.

Einem Staat, der dir am Schalter und beim Ausfüllen von Formularen hilfreich entgegentritt, gibt man gerne, was des Staates ist und reicht somit auch rechtzeitig die Steuerdeklaration ein. Man erinnert sich, was die Gemeinde alles für die Bewohner tut. Die Männer in den orangen oder gelben Overalls fallen einem auf, die zum Beispiel die Abfallkübel leeren und die Zigarettenstummel beseitigen. Und wer gerade die Steuererklärung ausgefüllt hat, wirft die Kippe nicht einfach auf den Boden. Wenn ein Erwachsener seinen Zigarettenstummel im öffentlichen Raum wegwirft, überlege ich mir als Nichtraucher, ob er es allenfalls wegen nicht verarbeiteten Schalter- und Formulargefühlen tut oder einfach aus Gedankenlosigkeit. Aber das sind freilich nur Vermutungen. Der langen Rede kurzer Sinn: Mit seinem Auftritt «an der Front» gibt der Staat zugleich seine Visitenkarte ab. Frustrierte Beamte sollten die Behörden in den hinteren Räumen beschäftigen und nicht am Schalter.

 

erschienen in: Neue Luzerner Zeitung

 

Der Atem der Eros

publiziert: 06.11.12

 

Ende September brachte die «Neue Zuger Zeitung» im ersten Bund drei Artikel, die mehr gemeinsam hatten, als vielleicht zuerst gedacht. Da machte sich der Philosoph Roland Neyerlin Gedanken über den unbehausten Menschen und schrieb: «In unseren hochkomplexen, superindividualisierten, mobilen und radikal pluralistischen Gesellschaften, drohen Sinnwüsten, Identitätsverlust, Orientierungslosigkeit und Entwurzelung».

Im Weiteren las ich von der Theaterfrau Annette Windlin, dass sie eine Aufführung von Oskar Panizzas (1853-1921) «Liebeskonzil», eine Himmelstragödie, in Brunnen auf die Bühne bringen will. Das Stück galt bei seinem Erscheinen als obszön und skandalös und wurde verboten. Annette Windlin sucht aber nicht den Skandal, sondern vermerkte: «… dass der Herrgott die Macht über seine Schöpfung verliert, dass er mit dem Teufel paktieren muss, das ist eine theatralische Steilvorlage. Und eine höchst brisante und aktuelle Geschichte.»

Zu guter Letzt fand ich einen Bericht zur Kunstausstellung «Avemaria» in Sursee, die sich mit dem Bild der Gottesmutter befasst. Dazu hiess es: «Maria steht in mythischem Zusammenhang mit vorchristlichen Erd- und Fruchtbarkeitsgöttinnen. Eine Linie führt von ihr zurück ins Alte Testament (…), zu der schwarzen Schönen des Hohelieds’ und zu Eva, deren Sündenfall sie aufhob.» In einem speziellen Saal beweisen Skulpturen, «wie in der Kunst die Muttergottes sich aus der bäuerisch einfachen Frau zur schönen Adligen wandelt».

Die Entwurzelung des Menschen, der Verlust der Macht Gottes über die die Schöpfung und ein Marienkult, der heutzutage weder Halt noch Geborgenheit bietet, bezeugen unter anderem die Verunsicherung des modernen Menschen. Wo findet denn der Mensch von heute noch Halt? Vielleicht sollte er die alten Götter heraufbeschwören, und unter ihnen ganz besonders den Eros. Die Griechen verehrten ihn als Leben schaffende Urenergie, als jene Kraft des Begehrens, die zwischen Gott und den Menschen vermittelt. Seine Eltern waren Poros und Penia, was soviel bedeutet wie Überfluss und Mangel. Eros galt im Altertum als universelles Prinzip des Einen, sich Entzweienden und doch mit sich selbst Einigen. Könnte diese Charakterisierung nicht auch für das moderne Individuum gelten?

In der globalisierten Welt von damals verehrten auch die Römer den Gott Eros. Die entzweite Welt sollte sich einigen. Sie bauten deshalb das Pantheon, den aussergewöhnlichen architektonischen Tempel, der allen Göttern geweiht war und ihnen Gastrecht bot. Im Pantheon konnte jeder Mensch seinen Gott verehren und damit sein metaphysisches Bedürfnis befriedigen. Um der Unbehaustheit des modernen Menschen, wie Roland Neyerlin den Zustand nennt, zu überwinden, bräuchte es vermehrt den Glauben an den Eros, die Urkraft des Lebens, an die gesamte Natur. In ihr waltet das Göttliche und man spürt dessen Atem. Doch noch immer nehmen zwei eine viel stärkere Position ein: es sind Mars, der Kriegsgott, und Hephaistos, der Gott der Schmiedekunst.

Darum postuliere ich den Neubau eines Pantheons mit einem prächtigen Altar für die schöpferische Urkraft des Lebens, die durch Eros abgebildet wird. Wer an einem solchen Ort Andacht halten würde, dem ginge es nicht um Kirchentürme, Minarette, Moscheen oder andere Tempel. All diese Bauwerke hätten nebeneinander Platz. Der Betende bräuchte sich auch nicht zu überlegen, ob Gott wirklich die Macht über die Schöpfung verloren habe, und sich nicht zu fragen, ob der Ursprung des Marienkultes auf die griechische Fruchtbarkeitsgöttin Demeter zurückzuführen sei. Die eine Natur steht über allem.

In einem Berner Wohnquartier steht eine markante Eiche, die Giebel vier- und fünfstöckiger Häuser in der Nachbarschaft überragt und deren Stamm so dick ist, dass sieben Erwachsene benötigt werden, um ihn zu umfassen. Wer unter dieser mächtigen Eiche durchgeht, die ein Menschenalter älter ist als ich, spürt den Atem des Eros. Ähnlich ergeht es mir auf der Rigi, wenn die Sonne aufgeht, der Himmel sich rötet und das Licht ganz leise und feierlich die weissen Spitzen der Berneralpen zu beleuchten beginnt; dann atme ich den Geist des grossen Gottes, des Einen sich Entzweienden und doch Einigen. Auch wenn ich grosse Werke von schöpferischen Menschen aus einem manchmal etwas verengten Blickwinkel betrachte, erkenne ich, wie sie jenem Geist verwandt sind, der über der Welt und der Erde schwebt, dem Geist der liebt, was Menschen geschaffen haben noch schaffen werden.

Im Pantheon, wo die Götter der Religionen vereint sind und geachtet werden, drohen keine «Sinnwüsten», braucht sich der andächtige Mensch nicht vor einem «Identitätsverlust» zu fürchten oder unter «Orientierungslosigkeit» zu leiden. Er kann Asyl bei Eros, dem Urgrund der Natur, finden. Eros hat von der Mutter den Überfluss und vom Vater den Mangel geerbt. Wer ihm dient, weiss, dass es um die Welt gut bestellt wäre, wenn diese sich die Waage halten und sich im Gleichgewicht befinden würden. Ein Politiker, der sich mit dieser Haltung der Staatskunst annimmt, weiss, dass eine Gleichgewichtslage dem Menschen den grössten Handlungsspielraum offen lässt. Da braucht «Gott mit dem Teufel» keinen Pakt zu schliessen, um die Welt in Ordnung zu halten. Die Natur in ihrer Gesamtheit gibt sie ihm vor. Vielleicht fühlt sich der Mensch nur dann unbehaust, wenn er den Atem des Eros nicht mehr spürt.

 

erschienen in: Neue Luzerner Zeitung

 

Moskauer Schwartenmagen

publiziert: 20.09.12

Mit der Einladung einer Schriftstellerin flog ich Ende Juli nach Moskau. Ich wurde am Flughafen Domodedovo abgeholt. Zehn Tage Moskau: das sind zehn Tage voller Strapazen. Was ich alles erlebt habe, würde zwei Seiten der NLZ füllen. Meine erste Begegnung mit der russischen Hauptstadt begann in der Metro. Einige der Stationen wirkten auf mich wie unterirdische Kathedralen. In den folgenden Tagen schloss ich mich einer deutsch sprechenden Reiseführerin an, die mich zu weiteren sehenswerten U-Bahnstationen führte, etwa zu der unter dem Revolutionsplatz, die 1952 zu Stalins Zeiten gebaut worden war. In Bogennischen stehen 80 Eisenplastiken, die Sowjetmenschen abbilden: darunter: Soldaten, Matrosen, Frauen und Männer aus dem Volk. Aber da gibt es auch einen Hund. Seine Schnauze ist völlig abgeschabt. «Die Leute streifen mit der Hand darüber und erhoffen sich davon ein bisschen Glück», führte meine Reiseführerin aus. Ähnlich strapaziert wirkt das Gefieder des Hahns in den Armen eines Mädchens. «Den Hahn streicheln, bedeutet Hoffnung auf Reichtum, enttäuschte Liebhaber dagegen berühren das Bein des Mädchens», lachte die Frau.

Täglich benützen 9 Millionen Menschen die Metro. Ein 300 Kilometer weites Schienennetz verbindet 250 Stationen. Zur tiefstgelegenen Station fährt man vier Minuten lang auf der Rolltreppe. Zur Stosszeit herrscht ein Riesengedränge, und doch wirken die Moskauer seltsam gelassen und ruhig. Mir und anderen älteren Menschen boten jüngere Passagiere in der Bahn sofort einen Platz an. Stellen Sie sich diese Situation mal in einem unserer Busse vor!

Ich hatte das grosse Glück, dass mich auch die Schriftstellerin, die Deutsch kann, begleitete und mich mit einem Kollegen, einem Lyriker bekannt machte, der wiederum mit mir französisch sprach. Sie führten mich in ein Literaturhaus, das noch den Geist der Sowjetunion atmet. Die Serviererinnen trugen weisse Häubchen und Schürzen. Ob ich ein typisches russisches Menu kosten wolle, fragte mich der Gregorj. Als ich bejahte, wurde mir als ersten Gang Schwartenmagen aufgetragen. Zuerst war ich überrascht, dann schaute ich misstrauisch auf das Schweinefleisch mit Sülze. Schon als Kind hatte ich den Schwartenmagen nicht gemocht. Ich spiesste tapfer die Bissen auf, kaute sie kaum und schluckte sie rasch hinunter. Dann folgte eine Suppe und als Hauptgang ein grosser Teller mit Eierschwämmen und Spätzle.

Am nächsten Tag fuhren wir mit Hunderten von Verehrern des grossen Dichters Alexander Blok (1880-1921) aufs Land. Hei, war das ein fröhliches Fest! In der Nähe von Bloks Landhaus, auf einer Anhöhe gelegen, wurde drei Stunden lang rezitiert, deklamiert, gesungen und musiziert. Obwohl ich kein Wort Russisch verstand, faszinierten mich die unterschiedlichen Auftritte. Auch Grigorj trug drei wohlklingende Gedichte vor. Doch auf einmal begann mich der Schwartenmagen vom Vortag zu plagen und ich flüchtete in den nahen Wald.

Zwei Tage später besuchte ich den Ehrenfriedhof. Er ist riesengross. Wo die Sowjetgeneräle und die Vertreter der Politikerkaste liegen, sieht alles sehr gepflegt aus. Die Gräber der Dichter und Denker werden hingegen von Unkraut überwuchert. Chruschtschows Büste ist von zwei Marmorstelen eingefasst, die eine weiss, die andere schwarz. So sei er gewesen, er habe zwei Seiten gehabt, wie auch Jelzin. Raissa Gorbatschowa wird mit einem schönen Denkmal verehrt. Ich wollte aber auch ich die Gräber der grossen Literaten sehen: Gogol, Tschechow, aber auch diejenigen der Musiker Skrjabin, Prokofjew, Schostakowitsch, des Filmemachers Eisenstein und von anderen. Als wir auf dem Weg zufällig beim Denkmal des Politikers Anastas Mikojan vorbeikamen, erzählte mir die Begleitperson, einmal, als es zu regnen begonnen habe, habe man dem alten Bolschewiken, der unter Stalin eine führende Rolle gespielt hatte, einen Schirm angeboten. Er brauche keinen, denn als Armenier schlängle er sich stets zwischen den Regenfäden durch, gab er zu Antwort. Kein Wunder, hatte er doch Stalin und Chruschtschow überlebt und war unter Breschnew Staatsoberhaupt der Sowjetunion gewesen.

Moskau ist gigantisch, alles schiesst ins Monumentale und Monströse. Von den Hochhäusern mit den Türmen, sagen die Moskauer, es seien Stalin-Kathedralen. Auf dem Platz der «Sowjetischen Errungenschaften» stand ich vor dem Riesendenkmal: Ein dem Raketenschweif nachgebildeter Bogen trägt einen vergoldeten Sputnik ins Weltall. Imposant stehen Juri Gagarin und andere Weltraumhelden daneben. Auf einem alle Dimensionen sprengenden Platz mit zwei Triumphbogen findet heute eine Art westlicher Jahrmarkt statt. Stalin hätte wenig Gefallen an dem Treiben auf seinem «heiligen» Boden.

Auf der gegenüberliegenden Seite der Stadt wird weiterhin im Skulpturenpark gearbeitet. Der Park bietet eine spezielle Mischung von Denkmälern mit sowjetischen Führern, die längst niemand mehr haben will und Arbeiten zeitgenössischer Künstler. Eines Tages werden vielleicht alle Sowjethelden durch Plastiken ersetzt werden, die weniger auf den Magen drücken. Jedenfalls kam mir dieser Park wie Schwartenmagen vor, wie manch anderes, das ich in der russischen Hauptstadt beobachtet habe.

Begeistert war ich dennoch immer wieder aus Neue. Mitten in der Grossstadt entdeckte ich ein Idyll, nämlich das ehemalige Stadtwohnhaus von Lev Tolstoj, dem grossen Dichter von «Krieg und Frieden» und «Anna Karenina». Ich bewunderte in dem Haus nicht nur das Bärenfell, das dem Tier abgezogen wurde, nachdem es Tolstoj beinahe getötet hätte, sondern auch die Ballkleider seiner Frau Sofja und der Töchter. Das Haus steht am Rande eines kleinen Parks und strahlt die Ruhe einer längst vergangenen Zeit aus.

 

erschienen in: Neue Luzerner Zeitung

 

Arbeiten ist nicht bloss Mühsal

publiziert: 06.08.12

Liebevoll sagte der Vater zum kaum vierjährigen Knaben auf dem Weg zum Meer: «Cinque é più di quattro». Einmal stand ich mit dem Sonnenschirm unter dem Arm vor einem Bübchen, das gerade erst richtig laufen gelernt hatte. Es schaute mich mit seinen dunklen, grossen Augen sehr lange an, als wäre ich ein Weltwunder. «Er wird ein Philosoph!», lächelte ich zur Mutter. Die Ankündigung Berlusconis mit einer neuen Partei wieder an den Wahlen 2013 als Spitzenkandidat teilzunehmen, kommentierten meine Freunde unter dem Sonnenschirm mit «Knallkopf» und «Coglione». Ein Wort, mit dem der Cavaliere vor seiner letzten Wahl diejenigen, die ihn nicht wählen wollten, bezeichnet hatte; sie seien Schlappschwänze, eben coglioni.

In einer Glosse unter der Rubrik «Zigzag» zitierte Giovanni Scipioni in «La Repubblica» vier Kollegen, die erzählten, warum sie gerne in die Berge gehen. Das Geheimnis der Berge sei der Wind, der aus den Klüften steige und um die Gipfel brause, in einer Landschaft von Ewigkeit und Beständigkeit. Der Zweite meinte, er nähere sich bergauf dem Himmel. Der Dritte, er wandere in der Dunkelheit auf einen Gipfel und erwarte in der Dämmerung das Erwachen des Tages und die aufsteigende Sonne. Für den Letzten endlich hat der Berg eine Stimme, die zu ihm spreche. Das sei ein Akt der kompletten Liebe. «Mit dem Kopf zwischen den Wolken» hiess der Titel der Glosse. Habe ich nicht bei der Hin- und bei der Rückfahrt kleine Dinge erlebt, die mir den Kopf ein wenig zwischen die Wolken hängten?

Bevor ich ans Meer fuhr, hielt ich mich zwei Tage bei meinem Schwager in der Provinz Belluno auf. Er fuhr mit mir und meiner Schwester ins Val de Mis, in die Dolomiten. Auf einem Fussweg stiegen wir zum Wildbach Brenton hinauf. Der Bach hatte in Jahrmillionen 15 kleine Becken in das Gestein gefressen, und chemische Reaktionen hatten geholfen, sie auszuhöhlen. Fünfzehn Wasserbecken, grössere und kleinere, die das Wasser sammeln, liegen dort wie auf Treppen. Der Bach springt von einer Stufe zur nächsten, nimmt bei hochgehendem Wasser Schotter und Steine mit, wirft das Geschiebe über das nächste Felsband und wälzt es durch die aufnehmende Schale, bis er es schliesslich in den grösseren Mis trägt. Die Becken glitzerten grün im Sonnenlicht, von weit oben leuchteten sie aus dem dunklen Wald wie wilde Katzenaugen. Das war mein «Gesang der Geister über den Wassern» (Goethe).

Am darauf folgenden Tag fand im Dorf Sospirolo eine Sagra, eine Chilbi, zu Ehren der Apostel Peter und Paul statt. Das Volk strömte zusammen und amüsierte sich bei Speis und Trank und Musik. Die Einheimischen begrüssten gut gelaunt auch die Heimwehitaliener aus der Schweiz und aus Deutschland. Die Auswanderer haben sich in der Fremde eine Existenz aufgebaut. Sie kehren Jahr für Jahr, von Sehnsucht getrieben, zurück. Unter ihnen befinden sich viele Gelatiers und Pizzabäcker. Neben dem Zelt erinnerte eine Fotoausstellung an die Zeit der Auswanderung. «Laorar no l’e sol fadiga»; stand in Mundart auf dem Prospekt und mein Schwager übersetzte: «Arbeit ist nicht bloss Mühsal.» Eine Familie war in den Kanton Aargau ausgewandert. Eine weitere Photographie zeigte einen stolzen jungen Mann neben einem Auto mit Milchkannen. «Mein Bruder hat mit dem Patron Milch in die Läden und Haushalte getragen.» Ich studierte die Gesichter etwas genauer. War da nicht vielleicht der Giovanni von Belluno zu finden, der nach dem Krieg kurze Zeit bei uns als Knecht gearbeitet hatte und dessen hagere Gestalt und sein ausgemergeltes Gesicht mir im Gedächtnis haften geblieben sind?

Wenn ich vom Meer zurückfahre, führt mich der Weg über die Berge, in die Dolomiten oder durch den Vinschgau und über Pässe nach Hause. Ich erlaube mir jeweils einen Zwischenhalt und übernachte unterwegs. Diesmal entschied ich mich für Glurns. Ich wollte meinem Bruder und der Schwägerin, die ich auf den Zeltplatz eingeladen hatte, dieses zauberhafte kleine Städtchen zeigen. Auf dem Hauptplatz fand gerade ein Markt statt. Und da ich versäumt hatte, ein kleines «Bhaltis» zu kaufen, schlenderte ich von Stand zu Stand. Ein Südtiroler bot Schokolade an und gleich daneben eine Bäuerin verschiedene Schnäpse. Als mich der nette Verkäufer als Schweizer erkannte, liess er mich seine Produkte kosten und sagte: «Das ist ein gefülltes Matterhorn.» Ich lachte. War das ein Witz? Er beharrte darauf, indem er mir ein weiteres mit einer anderen Füllung gab: «Beste Schweizerschokolade!» Wieder lachte ich. «Von Felchlin!» Mit diesem Namen hatte er mich überzeugt. Dann reichte er mir ein schwarzes Täfelchen. «Wir produzieren aus getrockneten Früchten, Beeren und Nüssen ein Füllung und verfeinern die Pralinees und Schokoladen.» Und schon hatte ich einige Tafeln gekauft.

Plötzlich streckte er mir ein Messer entgegen. «Ein Messer von Victorinox!». Ich schaute ihn fragend an. «Dank Victorinox können wir unser Marmorwerk in Laas wieder rentabel betreiben. Die Firma in Ibach verkauft unseren Marmor in aller Welt, in Amerika und Australien und …Kommen Sie nach Laas. Ich zeige Ihnen das Marmorwerk. Sie werden sehen, es ist imposant.» Erfreut in Glurns gleich zwei Unternehmen aus dem Kanton Schwyz zu begegnen, versprach ich ihm das Buch «Victorinox – die Messermacher von Ibach» von Heidy Gasser, aus der Reihe «Innerschweiz auf dem Weg ins Heute», zu schicken. Die Bäuerin bot mir zur Degustation Marillenschnaps und an andere Schnäpse an. Am Ende schien mein Kopf auch in den Wolken zu bammeln. Mental war ich in der Schweiz, real aber in Glurns. Auf dem Weg zum Hotel Post dachte ich: «Arbeiten ist nicht bloss Mühsal.»

 

erschienen in: Neue Luzerner Zeitung

 

Sachzwangst

publiziert: 22.06.12

Im Breitenrainquartier, an der Berner Tramlinie Nr. 9, hat zu Beginn der 90er Jahre ein Sprayer die Wortkreation «Sachzwangst» an eine Hauswand geschmiert. Als ich sie entdeckte, habe ich zuerst gestutzt. Auf der Weiterfahrt fand ich den Ausdruck, zusammengesetzt aus Sache, Zwang und Angst, mehr als nur treffend. Heute ist er topaktuell. Der Club of Rome zeichnete in seiner neuesten Studie vom Mai 2012, vierzig Jahre nach «Grenzen des Wachstums», ein düsteres Bild. Im Kleinen, in unserer Schweiz, schauen die Vermarkter der Skiarenen mit langen Gesichtern auf die schmelzenden Gletscher. Auf dem Gemsstock versuchen sie das Eis mit einer Plane gegen die Sonneneinstrahlung zu schützen. Auch der Permafrost schmilzt. Die kommenden Gewitter machen viele Menschen schon heute unruhig. Seit ein paar Jahren hatten wir uns doch so fein eingerichtet, dank all der technischen und sozialen Fortschritte, und jetzt diese Befürchtungen.

Der Fortschritt ist eben nicht nur Fortschritt, manchmal fragt man sich, wohin er führen wird. Im Bus und im Tram haben Sie bestimmt schon beobachtet, wie vor allem Jugendliche dauernd am Handy manipulieren, telefonieren oder es wird ihnen angerufen. Kürzlich sprang eine junge Frau an einer Haltestelle aus dem Bus, der Richtung Ägeri fuhr. Gerade war sie von ihrem Freund mit dem Natel erreicht worden. Er sei unten am See und trinke ein Bier, stellte sich für uns Mithörer heraus. Was denn, wenn die junge Frau kein Handy gehabt hätte? Stellen Sie sich die verpasste Chance einmal vor!

Über solche «Sachzwängste» kann ein älterer Herr freilich nur lächeln, obwohl die Handymanie auch viele Erwachsene erfasst hat. Vielmehr beschäftigt ihn, wie sehr die wirtschaftlichen Zwänge in den letzten Jahren zugenommen haben. Ein Wettlauf zwischen dem Erreichten und dem Erreichbaren ist entstanden. Firmen, die das Erreichbare mit neuen Innovationen ankündigen, haben die Nase vorn und zwingen die Konkurrenz möglichst rasch nachzuziehen. Wer auf dem Erfolg ausruht, stagniert und lässt sich überholen. Am Ende wird er vom Fortschrittssieger aufgefressen. Immer mehr wechseln Firmen den Besitzer, und erst kürzlich berichtete diese Zeitung, dass die Konkurse in den Schweizer Grossregionen stark zugenommen haben.

Der Fortschritt ist in sich unersättlich, denn je mehr erreicht wird, desto mehr wird erwartet. Der Fortschrittsdrang führt zu einem Wettlauf und unversehens fühlt sich der Mensch vom Wachstumszwang mitgerissen. Die sich rascher drehende Wachstumsspirale zwingt zu investieren, sowohl in Arbeitsplätze als auch in die neuste Technik. Wer investiert, muss mehr verdienen, um die Fixkosten bezahlen zu können und Gewinn zu generieren. Mehr Gewinn ruft nach weiteren Investitionen und schafft neue Fixkosten, die wiederum nur amortisiert werden können, wenn mehr produziert wird. Ohne Amortisation nimmt die Zinslast zu, also muss die Produktion nochmals gesteigert werden. Es braucht neue Fachkräfte, bessere und teurere Maschinen – unermüdlich dreht sich die Spirale. Die Folgen: «Wachstumszwangst» macht sich breit.

Der ehemalige St. Galler Professor für Volkswirtschaft Hans Christoph Binswanger fordert deshalb, ein «Vorwärts zur Mässigung»*. Die Realität des Geldes, sagt er, sei mit der Realität der Natur in Konflikt geraten. Der Wachstumsdrang müsse gebremst werden. Gewinnmaximierung und Spekulation würden zu Finanzblasen und Wirtschaftskrisen führen, aber die gegebenen Bedingungen unseres Geldsystems sähen kein Ende des Wachstums vor. Die Geldschöpfung sei zu einem Perpetuum mobile geworden, das keine Rücksicht auf die natürlichen Ressourcen nehme. So würden der Konflikt mit der Natur und die Krisenanfälligkeit immer grösser.

Politik und Wirtschaft haben bis anhin kein anderes Rezept gegen das wachsende Unbehagen gefunden als den Ruf nach mehr Wachstum. Wissenschaftliche Erkenntnisse nützten wenig, wenn die Politik sie nicht umsetze, meint Binswanger. Solange das traditionelle Gelddenken unangefochten die Politik beherrsche, werde sich nichts ändern. Es ist absehbar, dass die Geldindustrie von einer Krise zur nächsten schlittert.

Zurück zum Sprayer. Vor ungefähr zwanzig Jahren war der Begriff «Sachzwangst» noch visionär, ja prophetisch, heute hat er die Bühne längst betreten. Die Menschen realisieren, dass die Finanzmarktkrise noch nicht ausgestanden ist. Der Euro-Schuldenberg wird gar nicht mehr abgebaut werden können. «Neuwahlen in Griechenland – Europa zittert», lautet die Schlagzeile. Die Schweiz steht mitten drin, ob sie will oder nicht, und selbst wenn sie besser dasteht als andere europäische Länder, weiss im Augenblick niemand, wie sich deren Schuldengau auf unser Land auswirken wird.

Das Krüppelwort «Sachzwangst» ist eine Neuschöpfung, das die Unruhe widerspiegelt. Unruhe – in Liebesdingen allerdings – steckt auch in Christian Morgensterns (1871-1914) «Lieb ohne Worte», das erst kürzlich im «Tages-Anzeiger» abgedruckt worden ist. Die zweite Strophe – «Sei du meinst! / Komm Liebchenschte zu mir – / ich vergehste sonst / sehnsuchtsgepeinigst» – wirkt hingegen wie ein Spiel, eines, das mit seinen Superlativen überhaupt keinen Staub angesetzt, auch wenn das Liebesgedicht mehr als hundertjährig ist. Ist der Ausdruck «Sachzwangst» einmal so alt wie Morgensterns Gedicht, wird jedermann froh sein, wenn daraus kein Superlativ geworden ist.

* Hans Christoph Binswanger: Vorwärts zur Mässigung. Perspektiven einer nachhaltigen Wirtschaft, Hamburg 2010

 

erschienen in: Neue Luzerner Zeitung

 

Noch romantische Gefühle?

publiziert: 17.05.12

An einem wolkenlosen Tag im März plauderte ich mit einer Schriftstellerin am See. Wir schauten auf die schneeverhangenen Berge, sprachen über Literatur und Menschen und tranken einen guten Weisswein. Der Autor sei in seinen Gedanken weniger verlässlich als im Schreiben, behauptete ich. «Ja», meinte sie, «beim Schreiben tritt etwas hervor, von dem man von vorneherein nichts weiss.» Immer wieder mussten wir die Stimme heben, pausenlos dröhnte der Verkehr am Quai entlang. Stoppen! Nachrücken! «Ach ja», sagte sie plötzlich, «ich bin keine Romantikerin mehr. Das ist vorbei. Ich nehme das Leben, wie es ist, und was nicht zu ändern ist, lasse ich. Was sein muss kann sein, was aber sein kann, muss nicht immer sein.»

Auf einmal bog ein roter Ferrari donnernd ein und parkierte vor dem Hotel. «Wir leben in einer selbstverliebten Zeit. In ihr gibt es keinen Platz mehr für Romantik», sagte meine Kollegin nachdenklich. Sie klang resigniert, was mich leicht überraschte. «Sind nicht eher die Hetze und die Gier nach Vergnügen schuld, die jedes romantische Gefühl wegputzen», antwortete ich. «Woran mag wohl ein Ferrari-Fahrer denken?», unterbrach sie mich. Verlegen suchte ich nach einer Antwort: «Bestimmt liebt er sein Auto. Vielleicht ist dies eine moderne Form von Romantik. Einen Ferrari zu fahren, ist doch eine emotionale Angelegenheit.» «Was für eine männliche Antwort!», lachte sie und steckte mich damit an. Wir beobachteten, wie der Fahrer leicht an den Wagen lehnte und eine Zigarette rauchte.

Sie hatte meinen ironischen Unterton sehr wohl verstanden und wechselte das Thema. «Frühling lässt sein blaues Band / wieder flattern durch die Lüfte …» wie ein singender Vogel flog auf einmal ein wenig Romantik hinzu. Der blaue Himmel verlief vom Pilatus zur Rigi, kein Kondensstreifen trübte ihn, nur gerade das Horn eines Dampfers, der gerade anlegte, zerriss die Stimmung für einen Augenblick. Ich nahm den Vers auf: «Süsse, wohlbekannte Düfte / Streifen ahnungsvoll das Land.» Was habe doch das Gedicht für eine eigene Kraft, wir sollten aber unten an der Reuss weiterrezitieren, empfahl sie. Mit dem Blick auf die Wasservögel und auf den Fluss lasse sich die Stimmung besser bewahren.

Wir freuten uns darüber, dass wir das Gedicht auswendig aufsagen konnten, den einen Vers jeweils dem anderen weiterreichend: «Veilchen träumen schon / Wollen balde kommen.» Das sei von Mörike, unterbrach sie mich und fuhr gleich fort: «Horch, von fern ein leiser Harfenton! / Frühling, ja du bist’s! / Dich hab ich vernommen!»

Auf der Brücke beschleunigte ein Fahrer seinen Wagen und schloss lärmend eine Lücke in der Kolonne. Mir entfuhr; «Idiot!», vergass die Verwünschung aber schnell, denn unten an der Reuss herrschte eine Art Ferienstimmung. Wir sprachen am Wasser über die Schriftstellerei und machten uns ein paar Gedanken darüber, wie denn heute romantisches Glück in einem Text überhaupt beschwört und dargestellt werden könne, ohne dass es sofort kitschig und voller Metaphern wirke.

Nach dem anregenden Treffen fuhr ich nach Hause. Gegen Abend wanderte ich im Licht der untergehenden Sonne über den Panoramaweg am Hang über dem Tal. Ich schaute auf das immer noch wachsende Dorf, den See, die Berge. Buschwindröschen und Veilchen schmückten den schmalen Trampelpfad, sie lachten mich an, und schattenhalb blühte der Huflattich. Kleine Wunderwerke der Natur! Diesen Weg gehe ich oft, für mich ist er der Philosophenweg. Ich liess meine Gedanken über die Dächer des Dorfes schweifen. Manchmal lese ich auf einem Bänkchen in einem Buch. Diesmal blieb ich an einem Satz von Franz Tumler hängen: «Wir halten in uns Dinge für wichtig, die es nicht sind; und halten das Wichtige, das die andern sofort sehen und als unsere eigentliche Kraft oder Schwäche erkennen, oft nicht für der Rede wert.» Sollte jemand finden, mein Hang zu romantischer Dichtung seine Schwäche, dann würde ich es tatsächlich für nicht der Rede wert halten.

Der nächste Tag strahlte wieder wolkenlos. Kinder sprangen lachend und singend über den Panoramaweg. Werden sie in eine Welt hineinwachsen, die ihnen noch Raum für romantische Gefühle bietet? Ich beobachtete, wie sie bei einem frischen Erdloch stehen blieben, sich bückten, neugierig schauten und sich fragten, von welchem Tier es wohl stammen könnte. Als ich näher kam, schauten sie mich fragend an. Ich wusste nicht Bescheid. Ein Wiesel oder ein Marder? Ein grösseres Tier konnte es auf alle Fälle nicht sein.

Ich ging freudig meines Wegs und war glücklich, dass ich diese neugierig verspielten Kinder getroffen hatte. Jedes hatte ein Sträusschen Wiesenblumen in der Hand gehalten. Die Welt hatte für sie an diesem Tag einen eigenen Klang. Wie lange, dachte ich, widersteht ihr Gemüt der Sogwirkung der modernen Welt? Wird das Kind im Manne, in der Frau erhalten bleiben? Wird es ihnen vielleicht Spass machen, ein Gedicht auswendig zu lernen? Zwar wusste ich, «Poesie kommt immer zu spät oder zu früh, eine kräftige lebendige Gegenwart macht ihr den Platz streitig. Und das ist gut so», meinte Eichendorff, man soll zuerst die Poesie im Leben entdecken, ehe  man sie in die Wörterwelt einsperrt**, aber mir spendet sie halt schon heilende Kraft, auch wenn ich sie nur in einem Buch finde.

 

* Franz Tumler. Wie entsteht Prosa. Haymon tb.
** Rüdiger Safranski: Romantik. Eine deutsche Affäre. Hanser

 

erschienen in: Neue Luzerner Zeitung

 

Politische Phantomschmerzen

publiziert: 01.04.12

Auch der modernen Forschung gibt das Phänomen Phantomschmerzen noch immer Rätsel auf. Da gibt es zum Beispiel den Unterschenkelamputierten, der täglich Schmerzen im Glied verspürt, das gar nicht mehr vorhanden ist. Was soll dieser mysteriöse Schmerz ausgerechnet mit der Politik zu tun haben? Beschäftigt sie sich etwa auch mit Problemen, bei denen der reale Hintergrund schon abhanden gekommen ist, wenn eine Motion oder eine parlamentarische Initiative eingereicht wird. Darum möchte ich diese Frage anhand der Flut von Vorstössen im eidgenössischen Parlament zu beantworten versuchen, mit denen die Verwaltung auf Trab gehalten wird. Sie verursachen hohe Kosten, und dennoch werden sie jeweils nach zwei Jahren zu 80 Prozent summarisch abgeschrieben und lösen sich in Luft auf.

Es könnte sehr wohl sein, dass gewisse Vorstösse, die sich erst noch oft ähnlich sind, unter dem Einfluss von Phantomschmerzen eingereicht werden. Natürlich lassen sich diese nicht mit Elektrostimulation, Physiotherapie, Akupunktur oder Biofeedback behandeln, Methoden, die übrigens bei realen Schmerzen sehr wenig nützen. Während der letzten eidgenössischen Legislaturperiode wurden 7792 Vorstösse eingereicht, während es zwischen 2003-2007 «erst» 4346 waren. So ist etwa aktenkundig, dass der Nationalrat am 30. September 2010 14 Vorstösse zum Thema Wolf behandelt hat. Das war wohl ein Dutzend zu viel. Immerhin mag schmerzlindernd sein, wenn der eine oder andere Vorstoss beim Einreichen in der Presse wenigstens erwähnt worden ist.

Haben am Ende die FDP-Liberalen ihre leidige Initiative «Bürokratie-Stopp» wegen chronischen Phantomschmerzen lanciert? Die Partei hat grosse Mühe, die nötigen Unterschriften zusammenzubringen. Selbst eingefleischte Freisinnige unterschreiben nicht. Da nützt es auch nichts, wenn Nationalrat Otto Ineichen seine Ratskollegen stärker verpflichten will, damit jeder auch wirklich ein bestimmte Anzahl Unterschriften aus seinem Umkreis besorgt. Der wirblige Mann sollte wohl besser die Frage stellen, wie viele Vorstösse unser politisches System denn noch verträgt. Zudem bringt jedes Auftauchen eines Bärs, jede Krise, jeder neue Skandal so manchen Bundespolitiker dazu, rasch eine Eingabe einzureichen. Dabei wird gleichzeitig nach griffigen Gesetzen gerufen, und gibt der Bundesrat nach, gerät der Staat jedes Mal tiefer in den Paragraphenwald. Auch beim Fall Hildebrand wird die Gesetzesmaschine unnötigerweise wieder angeworfen.

Als die Initianten der «Anti-Minarett-Initiative» mit dem Sammeln der nötigen Unterschriften begannen, beschlich mich ein komisches Gefühl. Das Kribbeln in den Gliedern der Initianten habe ich förmlich gespürt. Doch damals wusste ich erst wenig über den medizinischen Fachbegriff. Ich erinnere mich, wie ich sagte, in der Schweiz würden Tausende Kirchtürme stehen, an Wegrändern Kreuze und Kapellen, da ertrage es gewiss das eine oder andere Minarett. Schliesslich gelte Abraham nicht nur als Stammvater der Juden und Christen, sondern auch der Mohammedaner. Anfang März ist eine CVP-Nationalrätin, geplagt von frischen Phantomschmerzen, mit ihrer parlamentarischen Initiative in der grossen Kammer durchgekommen, die verlangt, dass unsere Verfassung für christliche Symbole eine Sonderstellung vorsieht. Für was die Verfassung doch nicht alles herhalten soll!

Als der Ständerat am 8. März zwei sich widersprechende Motionen zur gleichen Materie gegen den Widerstand des Bundesrates überwies, war ich mehr als nur erstaunt: da soll der Bundesrat also die laufenden Gespräche über ein Agrar-Freihandelsabkommen abbrechen und andererseits in einem Bericht aufzeigen, wie eine schrittweise und kontrollierte Einführung des Lebensmittelfreihandels mit der EU möglich gemacht werden könnte. Als Ständerat Felix Gutzwiller nach der Abstimmung in den Vorraum des Ratsaales stürmte und auf Nationalrat Christophe Darbellay traf, soll er laut NZZ aufgeregt ausgerufen haben, das sei doch schizophren. Der Walliser, selber kein Verfechter des Agrarfreihandels, aber Mitverursacher der einen Motion, habe gelacht und geantwortet: «Das nennt man Politik!» Dennoch war die Überweisung in heikler Angelegenheit eine schlaue Lösung, denn bei künftigen kontroversen Diskussionen zum Agrarfreihandel kann sich nun jedes Ratsmitglied je nachdem auf die eine oder auf die andere Motion berufen.

Das beste Heilmittel dagegen verschrieb sich der 2003 verstorbene ehemalige CVP-Nationalrat und wortgewaltige Zuger Baudirektor Alois Hürlimann gleich selber. Mir hat er einmal gestanden, er habe während seinen Jahren in Bundesbern (1963-1979) höchstens drei vier Vorstösse eingereicht, jeder weitere wäre nutzlos gewesen. Vielleicht war dies eines seiner Rezepte, um entspannt zu bleiben und witzige Ansprachen zu halten. Aber dies allein war nicht der Grund, dass er viermal glorreich in den Nationalrat gewählt wurde. Er war ein Tatmensch und ein guter Verkehrspolitiker. Einmal führte er den Kantonsrat auf dem jährlichen Ausflug zu einer fast fertig gestellten Brücke und rief stolz: «Dafür habt ihr heute Morgen den Baukredit bewilligt!» Hürlimanns Auftritt löste an Ort und Stelle ein grosses Gelächter aus, aber da einige Gesetzespuristen dabei doch Phantomschmerzen verspürten, setzte es im Ratsaal ein Nachspiel ab. Er musste Red und Antwort stehen, was er wohl verschmerzt haben wird. Das Lachen jedenfalls verlor er zeitlebens nicht.

 

erschienen in: Neue Luzerner Zeitung

 

Götter im Exil

publiziert: 08.02.12

Seit der Zeit, als die griechischen Götter aus dem Olymp vertrieben wurden, leben sie im Exil. Heinrich Heine hat ihnen mit «Die Götter im Exil» eine spöttische Erzählung gewidmet, in der er berichtet, wie er sie an den Orten ihrer Verbannung gefunden habe. Jupiter zum Beispiel traf er im hohen Norden an, in einer jämmerlichen Hütte, sozusagen eingesargt in Eis und Schnee, neben ihm stand ein halbgerupfter Adler. Einst war er der Mächtigste im griechischen Götterhimmel, auch wenn er nicht etwa vorbildlich war. Vielmehr fiel er als Intrigant und Weiberheld auf. Hermes, der Gott der Diebe und der Kaufleute, tarnt sich mit einer Maske, und irrt als Heimatloser auf der Erde herum. Noch immer betätigt er sich als gerissener Briefträger der Götter. Und Pluto, der als Beschützer der Beschützer der Bodenschätze und des Reichtums galt, hält sich nun in der Unterwelt versteckt und sitzt «warm bei seiner Proserpina». Trotz des christlichen Anathemas, des Bannfluchs, habe sich seine Position in der Welt nicht verändert, meint der Dichter.

Heines Lachen über die exilierten Götter ist ansteckend. Blickt man in die Welt, so hat man den Eindruck, die Sagenfiguren seien noch immer aktiv. Die modernen Götter allerdings sind nur noch Halbgötter, und viele von ihnen leben heute im Exil; sei es, weil sie unfreiwillig geschickt worden sind, oder weil sie sich eines Tages einfach davongeschlichen haben. Dem Kolumnisten wurde von einem Bekannten, der gerne wandert, kolportiert, er habe O, den einst mächtigen Herrscher an der Spitze einer Bank, hoch oben am Hornberg im Saanenland, in einer alten, wettergegerbten Hütte hocken gesehen. Zuerst sei ihm aber der dünne Rauch aufgefallen, der aus dem Kamin stieg, und den der Wind auf das Dach drückte. Dann habe er doch gewagt, einen Blick durch das Fenster zu werfen und realisiert, dass O nicht allein war, sondern mit E zusammen, der gestikulierte und wahrscheinlich bei O einen Rat geholt habe. Vielleicht habe er von O wissen wollen, wie er sein Kapital zu einem Zinssatz von 18 Prozent anlegen könne. Zwar sei E selber so schlau wie einst Pluto gewesen war, und doch würde O bestimmt einige gute Tipps vorrätig haben. Eigenartig habe es den Spion am Fenster gedünkt, dass E in einer derart armseligen Hütte noch immer eine Fliege getragen habe, als wolle er auch einen Safe in der Unterwelt anständig gekleidet aufsuchen.

V, einst ein mächtiger Regierungsmann, kehrte nach seinem Rücktritt wieder aus dem Exil zurück und übernahm die Spitze jener Bank, die einst O geleitet hatte. Hier geriet er mit einem anderen Halbgott in Streit und realisierte bald einmal, dass er nicht viel zu sagen hatte. Jedenfalls gelang es ihm nicht, sich gegen die plutonischen Kräfte durchzusetzen und die masslose Gier einzudämmen. So musste er kapitulieren, verlor sein Gesicht und überlegte sich, ob es nicht besser gewesen wäre, im stillen Exil zu verbleiben. Pluto ist ein mächtiger Verführer, und da er, wie Heine berichtet, im Schattenreich noch immer die Fäden zieht, war es eben nicht leicht, ihm zu widerstehen. Als letzte Konsequenz blieb V nur der Rücktritt. Regieren war für ihn bedeutend einfacher gewesen, als die plutonischen Mächte zu bändigen.

Heine hat recht, wenn er behauptet, Hermes – zwar im Exil – sei immer noch am Werk. Auch im Schattenreich der Finanzen zehrt er von seinem Vorleben und seinen Talenten. Hermes ist ja auch als Briefträger der Götter bekannt. Somit lässt sich von ihm sagen: ein Zuträger ist immer auch ein Wegträger. Gerade im jüngsten Fall des nunmehr exilierten H trifft dies zu. Da kann man eine ganze Kette von Zuträgern und Wegträgern namhaft machen. Einer ist zum Beispiel darunter, der hat sich sogar erfrecht zu lügen und vor aller Augen behauptet, er habe der Regierungsfrau keine Dokumente vorgelegt. Das erwies sich dann als ein typisch hermetisches Versteckspiel. Von Journalisten zur Rede gestellt, griff er in die Trickkiste und korrigierte, davonschleichend, es seien eben keine Originalpapiere gewesen.

Dieser B wollte, einmal im Besitz der Daten von H, den Sturz des von den Meisten in unserem Land anerkannten Präsidenten. Vom Sturz der Titanen erzählen zahlreiche griechische Sagen, und selbst die Olympier liessen sich von Skandalen nicht einschüchtern. B wusste natürlich, wie er hätte vorgehen können, damit die Verletzung des Bankgeheimnisses nicht ruchbar geworden wäre. Er nahm aber um des Sieges willen in Kauf, dass sogar in deutschen Medien hämische Kommentare über die selbstwillige Verletzung des Bankgeheimnisses geschrieben wurden. Hätte er das gestohlene Wissen den Oberwächtern der SNB nämlich weitergeben, wäre H scharf zurecht gewiesen worden, die Institution aber hätte keine Kratzer abbekommen.

Da Halbgötter oft sehr eifersüchtig sind und es nicht mit ansehen können, wenn ihnen andere machtvoll in die Quere kommen, entspann sich ein kleinschweizerischer olympischer Machtkampf. B stürzte H. Und dieser gelungene Sturz löste bei B ein fast homerisches Lachen aus, bis sich A alias Dölf öffentlich ermannte, ihm nahezulegen, ins Exil zu gehen. Was in diesem Fall nicht viel bedeuten würde, denn wir wissen jetzt, dass auch Götter und Halbgötter im Exil weiterhin tätig sind. Danke, Heinrich Heine!

Andreas Iten

 

*Heinrich Heine: Die Götter im Exil. In: Heinrich Heine. Sämtliche Werke, Band II. Winkler Dünndruck-Ausgabe.

 

erschienen in: Neue Luzerner Zeitung

 

Das Ende der Ausschliesslichkeit

publiziert: 13.01.12

Der Mensch ist in Geschichten verstrickt. Und will man genauer wissen, wer der andere ist, muss man seine Geschichten kennen. Frisch Verliebte fragen einander aus, bis sie den Eindruck haben, sie wüssten nun alles vom Vis-à.vis. Taucht eine neue Geschichte auf, beginnt das Fragespiel von vorne. Eine solche Geschichte kann das Gegenüber plötzlich in einem neuen Licht erscheinen lassen. «Aha, so war das mit deiner letzten Liebe. Davon hast du mir noch nichts erzählt.» «Das war bis heute auch nicht nötig, denn schliesslich ist unsere, die eben ihren Anfang genommen hat, einzigartig», lautet dann die Antwort.

Ein altes Paar, das zusammen ein langes Leben bestanden hat, lebt auf einem Berg von Geschichten. Diese machen ihr Leben reich und lassen wiederholt die Frage zu: «Weißt du noch?» Schon mit der Geburt standen sie auf zwei verschieden grossen Erinnerungshügeln und haben Geschichten von ihren Vorfahren geerbt. Grosseltern, Eltern, Geschwister, nahe und entfernte Verwandte wurden ihre Begleiter durchs Leben. Das Paar wurde hineingeboren in ein Dorf, in eine Religion, in eine spätere Berufswelt, vielleicht waren sich die Familien feind wie in «Romeo und Julia auf dem Dorf» bei Gottfried Keller.

Wir lesen sehr gerne Familiengeschichten oder Romane, die von ungewöhnlichen Zusammentreffen erzählen. Oskar Peer schildert in seinem Roman «Das alte Haus», wie ein junger strebsamer Mann in einem Dorf zum Aussenseiter wird, und wie er schliesslich das Haus seiner Herkunft anzündet. Damit allerdings hat er den Berg seiner Geschichte nicht abgetragen, vielmehr eine hinzugefügt, eine düstere zwar.

Mein Schwiegervater, der während des Ersten Weltkriegs in Berlin festgehalten wurde, sagte immer, man könne seiner eigenen Geschichte nicht entgehen, und selbst wenn einer nach Amerika fliehen würde, würde er sie mitnehmen. Viele Einwanderer und Flüchtlinge kommen von ihren Herkunftsgeschichten nicht los. Obwohl sie unversehens in neue Geschichten geglitten sind, können sie den alten nicht entgehen. Das macht es oft schwierig, sich in einem Land zurechtzufinden und zu assimilieren.

So wie ein einzelner Mensch in Geschichten verstrickt ist, so auch ein Land oder ein Kontinent. Im Geschichtsunterricht erzählte der Lehrer mit strahlenden Augen, wie sich die Eidgenossen gegen fremde Vögte gewehrt, wie sie sich ihrer durch den Burgenbruch entledigt haben. Im «Weissen Buch von Sarnen» wurden diese Geschichten festgehalten. Sie dienten damals der inneren Festigung der alten Orte, denn die Eidgenossen sahen sich von aussen bedroht. Also mussten sie sich eine Identität geben und gründeten sie auf die heldenhaften Vorfahren.

Die Geschichte eines Landes wird immer wieder neue geschrieben. Neue Quellenfunde verändern das Bild, und der Blick auf die Vergangenheit wandelt sich. National gesinnte Menschen aber wollen von ihrem verklärten Bild nicht abrücken. Als der Schlussbericht der Kommission von Jean-François Bergier «Die Schweiz, der Nationalsozialismus und der Zweite Weltkrieg»* veröffentlicht wurde, stiess er auf starken Widerspruch. Und später noch liess ein Politiker seine Getreuen wissen, der Bericht «sei schlicht falsch». Aber die umfangreiche Schrift wies nach, dass die Schweiz die Kriegsjahre nicht derart mustergültig und lupenrein bewältigt hatte. Nun sah sich unser Land auf einmal mit einer Vergangenheit konfrontiert, «die so in das vorherrschende Geschichtsbild nicht Eingang fand» (19).

In unsicheren Zeiten wie den unsrigen scheint es besonders geboten zurückzuschauen und zu fragen, woher wir kommen, wer wir sind. Die Schweizer Geschichte liefert Anhaltspunkte für die Identität in einer neuen Zeit. Aber diese kann nicht mit einem «Weissen Buch» befestigt werden. Vielmehr beruht sie auf einem Konsens über die Grundsätze von Freiheit, Fairness und materieller Gerechtigkeit. Nach dem Zweiten Weltkrieg herrschte Vertrauen in die Behörden. Die Institutionen genossen hohes Ansehen. Die schwierigen Jahre hatten zudem die Menschen gelehrt, dass Glück und Lebensqualität nicht nur an materiellen Werten zu messen sind. Mit dem Streben nach materiellem Gewinn aber drehte ganz allmählich der Wind.

Der Mensch begann sich auf eigene Interessen zu konzentrieren. Je stärker am Arbeitsplatz nur noch Top-Leistung zählte, desto mehr schaute jeder für sich. Leistung versprach Erfolg. Vor allem mit dem Einsetzen der Globalisierung begannen viele Arbeitnehmer zu nomadisieren. Fremde Menschen kamen zu uns ins Land. Eine multikulturelle Gesellschaft etablierte sich und verunsicherte vor allem die leistungsschwächeren Menschen. Jeder, der neu dazukam, hatte wiederum eine eigene Geschichte. Die gefestigte Identität des Landes von früher – wir sind wir – begann zu bröckeln.

Die Reaktionen der Menschen auf die gesellschaftlichen Veränderungen sind unterschiedlich. Die einen werden Patrioten, ja sogar Nationalisten. Andere entdecken in der Differenz der unterschiedlichen Geschichten eine Bereicherung. Sie akzeptieren Unterschiede, die fortan zur Gesellschaft unseres Landes gehören werden, das sich sowieso nicht mehr dem Druck der internationalen Konkurrenz entziehen kann. Das Grundgefüge einer neuen Identität entsteht, falls ein Konsens herrscht, dass wir das Rad der Zeit nicht zurückdrehen können, was nicht nur für die Schweiz, sondern für jedes demokratische Land gilt. Mit dem Beginn der Globalisierung ist gleichzeitig das Ende der Ausschliesslichkeit eingeläutet worden.

* Die Schweiz, der Nationalismus und der Zweite Weltkrieg. Schlussbericht der Unabhängigen Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg. Pendo 2002.

 

erschienen in: Neue Luzerner Zeitung

 

2011

Ein Buch als Weihnachtsgeschenk?

publiziert: 30.12.11

 

Kürzlich schmunzelte ich wieder einmal ganz besonders, als ich den Cartoon «Rabenaus wundersame Erlebnisse» in der NLZ anschaute. Der drollige Kerl mit dem grossen Wasserkopf und der roten Nasen versucht mühsam seinen wackligen Tisch ins Gleichgewicht zu bringen. «Mist», sagt er und starrt dabei auf das Tischbein, das er bereits mit einem Buch gestützt hat. Dennoch wackelt der Tisch und so meint er, er müsse noch eines kaufen. Kauft es, legt es unter das Bein und stöhnt: «Der Tisch wackelt immer noch.» Soll er doch wackeln, denkt dabei vielleicht der Buchhändler, so kauft er wenigstens ein Buch, denn der Absatz stockt. Allein im Oktober ist er um mehr als zwölf Prozent bei der Belletristik eingebrochen.

«Bücher drucke ich immer gern», sagte mir ein renommierter Buchdrucker. An einer Feier wurde uns beiden ein schöner Bildband überreicht. Da flüsterte er mir zu: «Schon wieder eines fürs Büchergestell…» Auch für ihn hätte Rabenau also eine kleine Bildgeschichte zeichnen können, etwa so: Da hantiert der Wasserkopf gerade in einem Raum, in dem volle Bücherregale stehen. «Mist, schon wieder nur ein Buch.» Er legt es auf einen Stapel, der neben dem Büchergestell in die Höhe wächst und fragt: «Hält der noch?» Da stürzt im dritten Bildchen die Beige um: «Verdammt, warum schenken sie einem immer Bücher?» Im vierten Bildchen, endlich, tritt seine Frau hinzu, und Rabenaus Held schenkt ihr das Buch: «Blumen welken schnell, Bücher bleiben.» Doch die Frau rümpft die Nase.

Der lächelnde Leser von Rabenaus wundersamen Erlebnissen versteht den leisen Spott des Zeichners. Er fragt sich sogar, ob er selber gemeint sein könne. «Wer liest hat mehr vom Leben», so hat einmal ein Werbespruch der Verleger gelautet. Ist es nicht immer noch eine schöne Idee, die Partnerin oder sich selber auf Weihnachten mit einem guten Roman zu beschenken? Der Roman zielt auf das Wesentliche einer Person und ihr Schicksal. Das wusste schon Aristoteles, der um 355 v. Chr. eine Poetik geschrieben hat.

Der Grieche sagt, es sei nicht Aufgabe des Dichters mitzuteilen, was wirklich geschehen ist. Das sei die Aufgabe der Historiker. Sie müssten auch Details wiedergeben, die nicht wichtig seien. Der Dichter aber beschäftige sich in seinem Werk mit dem, was nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit und Notwenigkeit geschehen könne. So erhalte ein Werk eine philosophische Tiefe. «Daher», sagt er, «ist Dichtung etwas Philosophisches und Ernsthafteres als Geschichtsschreibung; denn die Dichtung teilt mehr das Allgemeine, die Geschichtsschreibung hingegen das Besondere mit.» Dieser Erkenntnis hat später auch der romantische Dichter Novalis* beigepflichtet, wenn er sagt, es sei mehr Wahrheit in den Märchen als in gelehrten Chroniken. Ein guter Historiker müsse notwendig auch ein Dichter sein.

Ein schriftstellerisches Werk zehrt von der Lebenserfahrung der Autorin oder des Autors, wie auch von der Recherche in Archiven und von der genauen Kenntnis der Schauplätze eines Ereignisses. Ich möchte dies mit einem Roman von Maria Barbal** kurz belegen. Die katalanische Autorin hat mit «Wie ein Stein im Geröll» ein wunderbar ruhiges Buch geschrieben, das in der Zeit des Franco-Regimes spielt. Die Autorin sagt selber, sie habe mit diesem Roman den vielen namenlosen Menschen eine Stimme geben wollen, die von der Geschichte mitgerissen worden seien.

Der Roman erzählt das Leben einer Generation. Ein Mädchen wird in die katalanischen Pyrenäen zur kinderlosen Tante geschickt. Es arbeitet im Haushalt und auf dem Feld und lernt später einen jungen Mann kennen. Conxa, die junge Frau, verliebt sich in Jaume, heiratet ihn gegen den Widerstand der Familie und schenkt drei Kindern das Leben. Ihr Mann schliesst sich einer republikanischen Bewegung an. Als der spanische Bürgerkrieg ausbricht, wird er verhaftet und von den Faschisten umgebracht. Conxa wird der Boden unter den Füssen weggezogen, sie fühlt sich getrieben und sagt schliesslich, sie fühle sich wie ein Stein im Geröll.

Die Erzählung von Maria Barbal ist wie ein individuelles Panorama im faschistischen Regime. Die genauen historischen Details und Jahrzahlen interessieren weniger als das Schicksal der betroffenen Menschen. Barbal schildert die Folgen des Gewaltregimes: Menschen verlieren ihre Identität, ihre Sprache und Kultur, sie werden innerhalb der eigenen Gesellschaft heimatlos, das Selbstverständliche ihrer Existenz wird ausgelöscht. Die Autorin stösst zum Kern eines durch äussere Gewalt verpfuschten Lebens vor, und dieser Vorgang wiederholt sich in jeder Diktatur.

Zurück zu unserem kleinen Kerl, zu Rabenau im Cartoon: Da haben wir es nun mit einem Nichtleser zu tun, dem vorgeworfen wird, er benütze ein Buch bloss als Unterlage, verkenne also seinen Wert oder handle wie der Buchdrucker, der es nach der Feier einfach im Gestell versorgt hat. Vielleicht kommt sogar ein Nichtleser auf die Idee, seiner Frau oder Freundin – Frauen lesen lieber und häufiger als Männer – auf Weihnachten ein gutes Buch zu schenken.

Am 6. Dezember titelte die NLZ einen Artikel mit «Schweizer Kinder sind Lesemuffel.» Darin werden die neusten Ergebnisse einer vergleichenden Schweizer Pisa-Studie referiert. Die Ergebnisse seien ernüchternd, sagt der Experte. Bei Nichtlesern sinkt die Leistung im Sprachunterricht und die Fähigkeit einen richtigen Texte zu schreiben, nimmt ab. Wo aber sollen die Kinder die Freude am Lesen entdecken, wenn das Buch bloss als Unterlage für einen wackligen Tisch dient?

 

* Novalis: Heinrich von Ofterdingen. Insel Verlag
** Marian Barbal: Wie ein Stein im Geröll. Roman. Taschenbuch Diana Verlag, 6. Auflage.

 

erschienen in: Neue Luzerner Zeitung

 

 

Über Wahrhaftigkeit und Populismus

publiziert: 25.11.11

 

«Wahrhaftigkeit zählte niemals zu den politischen Tugenden, und die Lüge galt immer als ein erlaubtes Mittel in der Politik», schreibt Hannah Arendt.* Christoph Blocher gestand laut NLZ vom 31. Oktober ein, seine Partei habe im Wahlkampf Fehler gemacht, möglicherweise sei sie mit dem Plakat über die Masseneinwanderung zu präsent gewesen. Mit diesem Eingeständnis gibt er einen taktischen Fehler zu. Somit ging es bei dem Plakat nicht um die Wahrheit, sondern um die richtige Taktik. Taktik wird als ist ein erlaubtes Mittel in der Politik eingesetzt. Nur geraten die Akteure damit rasch in Gefahr, Tatsachen zu verfälschen, sie verkürzt wiederzugeben, meist um die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.

Die Einwanderung zum Beispiel hat viele Gründe. Der Hauptgrund ist wohl doch die Wachstumsspirale in unserem Land, die sich unaufhaltsam weiterdrehte. Vor mehr als zwanzig Jahren fuhr ein Unternehmer der Baubranche, den ich persönlich kannte, jeden Frühling in den Kosovo, um Arbeiter zu rekrutieren. Er umwarb besonders gern tüchtige Bauernsöhne, weil er die einfachen Menschen als zuverlässige Arbeitskräfte schätzte. Im Winter brauchte er sie nicht mehr und schickte sie nach Hause zurück. Nach Jahren auf dem Bau suchten sich die meisten Arbeit in einer Fabrik, blieben hier und heirateten. Das war noch, bevor es das Freizügigkeitsabkommen gab.

Damals begann der grosse Bauboom als Folge eines dynamischen wirtschaftlichen Wachstums. Nun waren auch hochqualifizierte Fachkräfte gefragt, die im eigenen Land nicht zu finden waren. So wurden sie im Ausland angeworben. Und da die Fixkosten des Staates im Gesundheitswesen, bei den Sozialwerken und vielen anderen staatlichen Aufgaben stark wuchsen, benötigte die Schweiz Wachstum, um das Steuerpotential zu erhöhen. So konnten sich viele Kantone und Gemeinden sogar Steuersenkungen leisten.

Gern wird verschwiegen, dass die eingewanderten Fachkräfte unserem Land sehr hohe Ausbildungskosten ersparen. Bezahlt hat sie der Staat, in dem die ausländischen Spezialisten herangebildet worden sind. Es handelt sich dabei um Beträge, die in die Milliarden gehen. Allein ein Ausbildungsjahr für einen zukünftigen Lehrer an der Pädagogischen Hochschule kostet den Kanton vierzigtausend Franken.

Es war also in erster Linie die Wachstumsspirale, die für die Zuwanderung von fremden Menschen verantwortlich ist. Das Plakat mit den gespenstisch marschierenden Stiefeln gerät so in die Nähe der Verwischung wahrer Tatsachen. Somit ist es denkbar, dass bei den Wählern die Frage aufkommt, wie es denn um die Wahrhaftigkeit steht, die hinter einer solchen Propaganda steckt.

Der Politiker ist nicht zur Wahrheit verpflichtet, er kann ja schweigen, aber redet er, dann muss, was er sagt, wahr sein, den Tatsachen entsprechend. Eine kleine Lüge genügte, und Elisabeth Kopp sah sich im Dezember 1988 gezwungen, den Rücktritt aus dem Bundesrat bekanntzugeben. Der Einzige, der lügen darf oder durfte, ist Silvio Berlusconi, weil ihn seine eigenen Massenmedien immer wieder deckten und es ihm gelang, Parlamentarier anderer Parteien anzuwerben, so auch der in der Schweiz gewählte Antonio Razzi, der ursprünglich der Gruppe «Italien der Werte» von Di Pietro angehörte.

Auf der Suche nach einer Definition des Populismus, kommt man nicht darum herum zu sagen, es handle sich dabei um eine Politik, die die Lüge oder die Halbwahrheit jederzeit als legitimes Mittel zum Erreichen politischer Zwecke einsetzt. Der Populismus braucht sich um die politische Tugend der Wahrhaftigkeit nicht zu kümmern, geht er doch von Devise aus: Die Hunde bellen und die Karawane schreitet weiter. Hernach erklärt er den Kritiker für unzuständig, der von Politikern Wahrhaftigkeit fordert. Erkläre ihn als unzuständig, und seine Waffe wird stumpf!

Warum aber hat der Populismus Erfolg und warum ist die Wahrhaftigkeit kein Thema in der öffentlich verhandelten politischen Ethik? Eine Antwort könnte lauten: Die Fakten, die ein Populist vorbringt, könnten tatsächlich so sein, wie er behauptet. Ohne die Nähe zur Realität verfängt auch der Populismus nicht. Dem Gegnern, der populistische Aussagen zu widerlegen versucht, geht es wie einem Wirt, der um seinen Ruf kämpft, weil er einmal ein zu zähes Entrecote serviert hat. Er muss mindestens dreizehn Mal ein sehr zartes auf den Tisch bringen, bis der Rufschaden beseitigt ist. Unterdessen ist der Populist bereits beim nächsten Thema.

Populisten halten nichts von einem Intellektuellen, der ihr Versteckspiel durchschaut und versucht aufzuklären. Sie nennen ihn einen Gutmenschen oder Schöngeist. Damit ist er gebrandmarkt und ausser Gefecht gesetzt. Darum scheut sich manch ein Intellektueller, den Kampfplatz des Populismus zu betreten. Zum Glück ist es dann die Torheit der Taktiker selber, die sich mit ihren unwahren Behauptungen übernehmen. Ich selber teile mich Menschen in meinen «Ansichten» mit, freilich offenbar nur solchen, die sich die Mühe machen, hie und da auch Kritisch-Kompliziertes nicht nur zu überfliegen. Jedenfalls sagte mir jüngst ein Leserbriefschreiber, er lese meine Artikel nicht. Er erklärte mich für unzuständig.

 

* Hannah Arendt: Wahrheit und Lüge in der Politik. Serie Piper 1987, München.

 

erschienen in: Neue Luzerner Zeitung

 

November mit leichter Melancholie

publiziert: 16.10.11

Der November nimmt mit Allerheiligen und Allerseelen seinen Anfang. An diesen Tagen gedenken viele der verstorbenen Angehörigen. Ein Lebensmensch, den man verloren hat, ist immer gegenwärtig, nur verliert er in der Geschäftigkeit des Alltags oft an Konturen. Allerseelen macht aber auch bewusst, dass der Mensch sterblich ist. Wenn die Blätter fallen und die Bäume kahl dastehen, schleicht sich leise Melancholie ins Gemüt. Die Kälte und der Nebel lassen selbst die Reihe von schönen Herbsttagen vergessen. Es wird bald Winter werden. Wir gönnen der Natur ihre Ruhe, den Murmeltieren ihren Schlaf und den Eichhörnchen ihr Nest.

Ich liebe die Melancholie der Landschaft, wenn in den Bäumen der Nebel hängt, und hat er sich am Tag verzogen, das Glitzern des Raureifs in den kahlen Bäumen. Sie offenbaren nun erst recht ihren wahren Charakter. Die Blätter drapieren die Äste und Zweige nicht mehr. Nun tritt das Gestänge hervor. Was ein Mensch ist, erkennt man oft erst, wenn er gestorben, wenn er kahl und kalt von uns gegangen ist. Da erfasst man plötzlich unter welchem Stern er angetreten ist und wohin ihn der Lebensdrang geführt, der ihn zum Guten oder Bösen gesteuert hat.

Tomas Tranströmer, der neuerkorene schwedische Nobelpreisträger für Literatur schildert in dem Gedicht «Tief in Europa», wie «er» – es ist das lyrische Ich, das spricht – im Bett eines Hotels liegt, während die Stadt ringsum erwacht und der stumme Lärm und das graue Licht hereinströmt. Das bringt ihn auf einen neuen Gedanken: «Belauschte Horizonte. Sie wollen etwas sagen, die Toten. / Sie rauchen, aber essen nicht, sie atmen nicht, haben aber dennoch eine Stimme.» Mit einfachen Bildern erinnert der Dichter, dass die Toten gegenwärtig sind. Sie haben ihre Stimme nicht verloren. Sie reden mit uns, wenn wir an sie denken. Was sie sagen, verrät der Dichter nicht. Die Stimme der Toten ist nicht immer angenehm. Sie lobt oder tadelt uns, sie redet uns ins Gewissen und sagt, dass das Leben, das wir führen, nicht durchwegs gut ist.

Die zwei Verszeilen von Tranströmer sprechen nicht nur von Menschen, die uns vielleicht nahe gestanden sind, denn sie haben sogar immer noch eine Stimme. Die Historiker, die Memoirenschreiber oder Familienangehörige geben Verstorbenen oft ihre Stimme zurück. Kürzlich habe ich von Sandra Kalniete die Geschichte ihrer Familie «Mit Ballschuhen im sibirischen Winter»* gelesen. Sie erzählt aus persönlicher Betroffenheit von zwei Familien, die im Zweiten Weltkrieg nach Sibirien deportiert und unter unmenschlichen Bedingungen zur Zwangsarbeit in verschiedenen Kolchosen jenseits des Urals gezwungen worden sind. Sie wurden gedemütigt und entwürdigt. Sie lebten im Dreck und in der eisigen Kälte und mussten täglich ihr Plansoll erfüllen. Es ist ein Zufall, doch der Titel von Transtömers Gedicht und seine zweite Strophe passt zum autobiographischen Bericht von Sandra Kalniete, die als Enkelin den Mitgliedern der Familie eine bleibende Stimme gegeben hat. Diese spricht stellvertretend für Millionen von geschundenen Menschen.

Es ist November. Der November ist ein melancholischer Monat, es ist die Zeit im Jahreslauf, in der viele Menschen sterben. Der Melancholie darf sich der Mensch aber nicht einfach überlassen. Der Philosoph Hans Saner** unterscheidet zwei Arten von Melancholie. Er spricht von einer sentimentalen und einer kognitiven. Während die rein gefühlsbetonte für den Menschen gefährlich ist, weil sie in Bitternis und Depression des Gemüts und damit in eine Entfremdung von der Lebenswelt führt, schärft die kognitive Melancholie den Blick für die wahren Verhältnisse des Lebens. Sie lehrt, die Illusionen zu durchschauen und führt auf den Weg eines erhellenden Erkenntnisprozesses.

Es stimmt uns oft traurig, wie es im Leben zu und her geht, besonders wenn ein junger Menschen stirbt und uns scheint, die verteilende Gerechtigkeit komme zu kurz. In kognitiver Melancholie erkennt der Einzelne, was zu tun wäre. Oft ruft sie zu einem freiwilligen gesellschaftlichen und politischen Engagement auf. Viele Menschen finden mit dem Einsatz für andere oder einem Ehrenamt in einem Verein einen befriedigenden Lebenssinn.

Die kognitive Melancholie macht hellhörig für Ereignisse, die dem Menschen persönlich zustossen können. Mit geschärftem Blick erkennt er, dass sich nie alle Erwartungen erfüllen werden und mancher Plan misslingt. Die vom Verstand geleitete Melancholie lehrt das Leben richtig einschätzen. So weiss der Mensch, dass er zwar gut sein soll, aber auch klug. Ein Guter, der nicht klug ist, wird übertölpelt, aber ein Kluger, der nicht gut ist, bringt anderen Menschen Verderben.

Es ist November. Der Sommer hat sich verabschiedet. Der Herbst ruft den Winter. Die Nächte werden länger, die Gedanken richten sich nach innen. Die Autos fahren unablässig vorbei. «Der stumme Lärm und das graue Licht strömen herein / und heben mich sachte aufs nächste Niveau: Der Morgen. // Belauschte Horizonte. Sie wollen etwas sagen, die Toten. / Sie rauchen, aber essen nicht, sie atmen nicht, haben aber noch ihre Stimme.»

 

* Sandra Kalniete: Mit Ballschuhen im sibirischen Schnee. Die Geschichte meiner Familie. Verlag Herbig. München. Zweite deutschsprachige Auflage 2009.
** Hans Saner: Melancholie und Leichtsinn. Grenzstimmungen der Vernunft. In: Der Schatten der Orpheus. Lenos 2009.

 

erschienen in: Neue Luzerner Zeitung

 

Eine Schaukel für jedes Parlament

publiziert: 14.09.11

Hugo Kükelhaus (1900 bis 1984), der zuerst ein vielseitiger Schreiner war, anschliessend Soziologie, Philosophie und Logik studierte, später in verschiedenen Berufen gearbeitet hat, betonte in einem seiner brillanten Vorträge, in jedes Parlament gehöre eine Schaukel, damit jeder Politiker, der dort ein- und ausgeht, die Pendelschwingungen körperlich erlebt, spürt wie das Hin- und Herschaukeln in der Mitte ausschwingt. Darauf stellt sich Ruhe ein. Nun ist er frei, nachzudenken oder ein wenig zu phantasieren, was er realisieren möchte. Sollte er aber meinen, der Wendepunkt sei das Zentrum, dann wird er die nötige Balance sowieso nicht finden, sondern hängt jenem Aktivismus nach, der ihn ständig veranlasst, Anfragen an den Bundesrat zu richten, Motionen und Interpellationen einzureichen oder Initiativen zu starten.

Für Kükelhaus ist das Schaukeln eine Metapher für die Gegenläufigkeit des Lebens. Diese Ansicht belegt er zugleich mit der Doppelhelix, der Doppelspirale, die aus zwei Strängen besteht, die wider einander laufen. Die sich aufwärts windende Spirale geht vom Endpunkt her wieder abwärts, ähnlich wie die Welle, die an ein flaches Meerufer treibt. Der Beobachter hat den Eindruck, die Welle würde nur in einer Richtung laufen. Die Welle aber ist gegenläufig wie die Doppelhelix. Die eine läuft zum Ufer und unter der Oberfläche, unsichtbar, fliesst sie zurück ins grosse Wasser. Kommt ein Sturm auf und peitscht das Meer, klatschen die Wellen ans Ufer. Hat er sich ausgetobt, kehrt tiefe Stille ein. Das ist jener wunderbare Moment, wo der Beobachter beruhigt das glitzernde und funkelnde Wasser betrachtet, gleichsam jener Augenblick, wo die Phantasie ungestört kreativ sein kann.

Schaukel und Welle sind wie ein Sinnbild für das Leben, das in sich gegenläufig ist. Der Mensch lebt zwischen zwei Polen. Sein Leben ist ambivalent, aber es tendiert doch immer wieder zur ruhigen Mitte. Kein Mensch kann sich auf Dauer im Extrem bewegen. Fanatiker oder Menschen, die sich einbilden, nur der eigene Standpunkt sei der einzig richtige, bleiben beharrlich der Übertreibung verhaftet.

Auch die Politik ist gegenläufig, doch wenn es zu einem Kompromiss zwischen den Parteien kommt, gibt es ein bisschen Ruhe. Die Frage eines Journalisten, ob ohne starke Mitte ein Land nicht gesund sei, bejaht Thomas Hürlimann und sagt: «Eine Demokratie lebt aus der Mitte. Wenn die Mitte zur Leerstelle wird, übernehmen die Flügel, sprich die Ideologen (das Sagen) – und dann gute Nacht»*. Die Schweiz verdankt ihren Erfolg einer ausgewogenen Politik der Mitte. Darum sind Konsens, Kompromiss und Konkordanz zu Leitbegriffen der schweizerischen Politik geworden. Sie deuten darauf hin, dass es um Lösungen geht. Das ist oft alles andere als einfach, müssen doch verhärtete Meinungen zuerst aufgeweicht und all die verschiedenen Meinungen auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden. Sind sich Ständerat und Nationalrat in einer Sachfrage nicht einig, kommt es am Ende zu einer Differenzbereinigung zwischen den Räten. Ohne diesen Dialog, bei dem das bessere Argument gewinnt, findet das Parlament keine konstruktiven Lösungen.

Kompromisse kommen freilich nur zustande, wenn politische Gegner unsere moderne Welt von einem Gesichtspunkt des Unterschieds erfahren können. Werden sich die Streitenden bewusst, dass das Leben gegenläufig ist und sich zwischen Polen abspielt, sind sie eher bereit, die eigene vorgefasste Meinung aufzugeben, sich dem Gegner zu nähern, ihm zuzuhören. Heute aber scheint es immer schwieriger, selbst in Sachfragen eine Einigung zu erzielen. «Wenn ihr uns mit eurer Meinung nicht folgt, dann werden wir dem Geschäft XY nicht zustimmen. Hättet ihr uns das letzte Mal Recht gegeben, würden wir keine neue Initiative starten.» So tönt es. Dabei führen das Wörtchen «wenn» und das Wörtchen «hätte» nur ganz selten die Gegner zusammen, vor allem dann nicht, wenn ein unerfüllbare Bedingung daran geknüpft wird. Das Verharren auf dem eigenen Standpunkt, selbst dann, wenn eine übergeordnete Rechtsordnung dagegen spricht, kommt einer Verweigerung des Dialogs gleich.

Der Rechtsstaat ist ein hohes demokratisches Gut, der sich aber etwa mal quer zur Volksmeinung stellt. Das lateinische Wort «vox populi, vox dei» (Volkes Stimme sei Gottes Stimme) ist keine brauchbare Begründung für das Verharren in der eigenen Ideologie. Es war der Faschismus, der mit dem Schlagwort von der Vox dei operiert hat. Und was dabei heraus gekommen ist, können wir beispielhaft bei den Historikern nachlesen.

Für Kükelhaus waren die Natur und ihre physikalischen Gesetze eine Lehrmeisterin, denn die Natur sucht nach ausgewogenen Lösungen, wie wir etwa an einem Baum ablesen können. Es ist der Stamm, der die ausladenden Äste zusammenhält. Auch eine ausgewogene Politik wird von der Mitte getragen, vom Konsens und vom Kompromiss. Pole bilden nur die Eckpunkte, aus denen her sich vernünftige Lösungen einpendeln sollten.

So wie die Tugend, nach Aristoteles, als mittleres Verhalten darauf zielt, die rechte Mitte zu treffen, so muss auch die Politik bedacht sein, den Ausgleich zwischen Extremen zu schaffen. Kükelhaus hat sich bestimmt erhofft, dass jeder Parlamentarier auf seiner Schaukel – am besten mit geschlossenen Augen – spürt, wie er allmählich in der Mitte ausschwingt. Wenn er zurück an den Sitzungstisch oder in den Ratsaal geht, wird er sich daran erinnern.

 

* Thomas Hürlimann in einem Interview im «Der kleine Bund» vom 2. Juli 2011.

 

erschienen in: Neue Luzerner Zeitung

 

Zwanzig Jahre Weg der Schweiz

publiziert: 04.08.11

Wer auf einem Teilstück oder auf dem ganzen Weg der Schweiz wandert, den fesselt der Anblick der Umgebung. Im stillen, glatten See spiegeln sich die Berge. Sie strecken die Gipfel ins Wasser. Wenn es sich kräuselt, ziehen sie sich zurück. Peitscht es gar der Föhn auf, klatschen mächtige Wellen ans felsige Ufer. Urgewaltig umranden der Gitschen, der Urirotstock, die Bauenstöcke auf der einen, der Fronalpstock und der Rophäen auf der anderen Seite den Urnersee.

Vor kurzem nahm ich endlich das letzte Teilstück unter die Füsse, das zwischen Brunnen und Sisikon liegt. Ich stieg im angenehm kühlen Wald hinauf nach Morschach und nach einem Halt bis zur Wasserscheide, wo der steile Weg zum herrlich in einer Landschaftsmuschel eingebetteten Sisikon hinunterführt. Mit der Zeit über Weg und Steg spürte ich die Knochen bei jedem Schritt. Wolken zogen am Himmel vorbei, die den See hell- und dunkelgrün befleckten. Ruhig glitten die Dampfer und die Motorboote dahin.

Am 4. Mai 1991 wurde der Weg der Schweiz eingeweiht. Ich durfte als Standsvertreter von Zug dabei sein und von Bauen nach Flüelen wandern. Die Kantone waren durch Regierungen und die Präsidentinnen und Präsidenten der kantonalen Parlamente vertreten. Kurz nach Bauen geriet ich in eine erregte Diskussion. Offenbar trug ich den Stolz des Innerschweizers zu sehr auf der Zunge.

Die damalige Basler Grossratspräsidentin warf ein, sie könne mit der Geburtszahl 1291 nichts anfangen. Die Schweiz bestehe erst seit 1848. Vorher habe es verschieden «Schweizen» gegeben. Das Dreiländereck Basel sei eine ebenso wichtige Region wie die Urschweiz gewesen. Was ich nicht etwa bestritt. Aber doch griff ich sie mit der verbalen Hellebarde an und behauptete, ohne die Urkantone würde es die Schweiz, wie wir sie heute kennen, nicht geben. Hätte sich das Land aus der Basler Ecke entwickelt, würde wohl ein anderer Geist durch das Land wehen. Gewiss sei der Staat ein neuzeitliches Produkt. In der Urschweiz sei aber der Same gestreut worden, der die Eidgenossenschaft habe keimen lassen. Um den Vierwaldstättersee habe keine herrschaftliche Familie dominiert wie die Stockalper in Brig mit ihrem unbeschränkten Einfluss. Die Macht in der Innerschweiz sei schon früh von Genossenschaften und von Gemeinden übernommen worden und diese hätten sich gegen einseitige obrigkeitliche Herrschaftsansprüche gewehrt. Hier, auf diesem Boden – ich zeigte sogar darauf – sei die Idee der «Vergemeindlichung» der Macht entstanden. Der revolutionäre Geist der Waldstätte habe schliesslich zur 8-örtigen und dann 13-örtigen Eidgenossenschaft geführt.

Wir zankten uns verbissen weiter. Es entstand ein Streit der Meinungen, ein Glaubenskrieg, der kein Ende finden wollte. Nach der Bernerstrecke, die am See entlang durch die Tunnel der alten Strasse führt, schlich ich mich davon, holte fröhlichere Kollegen ein. Es war schliesslich ein eidgenössischer Festtag. Die Grossratspräsidentin hätte nur den glänzenden Aufsatz von Peter Blickle* im Jubiläumsband «Innerschweiz und frühe Eidgenossenschaft» lesen müssen, dann hätte sie mich verstanden und vielleicht meine Argumente akzeptiert. Dieses leider viel zu wenig gewürdigte Werk stellt eine fundierte, ja glänzende Darstellung der frühen Schweizergeschichte dar.

Mir schien die Baslerin habe sich vom gerade grassierenden Ruf: «Siebenhundert Jahre sind genug» anstecken lassen, den ein Philosoph der Nordwestschweiz in die Welt gesetzt hat. Das Gerede von «Genügeln» an der Schweiz beeindruckte mich nicht, wusste ich doch, dass der Weg, auf dem wir wanderten, dieses überleben würde. Auch heute spüre ich keine Heimatmüdigkeit bei meinen Gesprächspartnern. Dass dann 1992, als das Motto «La suisse n’existe pas» am Pavillon der Weltausstellung von Sevilla prangte, im Ständerat eine heftige Debatte ausbrach, hatte damit zu tun, dass es nicht verstanden wurde. Die Ausstellungsmacher wollten sagen, die Schweiz existiere nicht so, wie sie sich manche Kreise denken. Sie ist immer viel mehr. Die Teile sind mehr als das Ganze.

In den letzten Jahren habe ich gewisse Teilstücke des Wegs der Schweiz mehrmals abgewandert. Meine Lieblingsstrecken liegen nahe am Wasser. Jüngst sass ich mit dem ehemaligen Bundesrat Samuel Schmid im Zwyssighaus in Bauen. Wir unterhielten uns über die Schweiz, die uns verbindet. Und dass diese sich nicht mit der Suisse miniature einer modernen Swissness deckt und auch nicht mit der Igelschweiz, brauche ich nicht auszuführen. Alberik Zwyssig, dem Komponisten des Schweizerpsalms, erwiesen wir nach dem vorzüglichen Essen die Reverenz.

Bei jeder Wanderung auf dem abwechslungsreichen Weg gedenke ich auch Karl Bolfing, meinem verehrten Lehrer am Seminar Rickenbach. Er war der Pionier und erste Präsident der Stiftung «Weg der Schweiz». Vor zwanzig Jahren überreichte er beim Start in Bauen den eingeladenen Gästen einen Rucksack und einen Wanderstock. Seither haben jährlich um die zweihunderttausend Wanderer den Weg unter die Füsse genommen. Feiern hingegen sind flüchtig und fast schon vergessen. Der Grund der Feier aber bleibt bestehen. Dafür, dass der Weg weiter gut unterhalten wird, sorgt die Stiftung mit ihrem derzeitigen Präsidenten Josef Dittli und sie verdient den Dank der Wanderer.

 

* Peter Blickle. Friede und Verfassung. Voraussetzung und Folgen der frühen Eidgenossenschaft von 1291. In: Innerschweiz und frühe Eidgenossenschaft. Jubiläumsschrift 700 Jahre Eidgenossenschaft, Band 1: Verfassung- Kirche – Kunst. Walter Verlang 1990.

 

erschienen in: Neue Luzerner Zeitung

 

Noch romantische Gefühle?

publiziert: 17.05.12

An einem wolkenlosen Tag im März plauderte ich mit einer Schriftstellerin am See. Wir schauten auf die schneeverhangenen Berge, sprachen über Literatur und Menschen und tranken einen guten Weisswein. Der Autor sei in seinen Gedanken weniger verlässlich als im Schreiben, behauptete ich. «Ja», meinte sie, «beim Schreiben tritt etwas hervor, von dem man von vorneherein nichts weiss.» Immer wieder mussten wir die Stimme heben, pausenlos dröhnte der Verkehr am Quai entlang. Stoppen! Nachrücken! «Ach ja», sagte sie plötzlich, «ich bin keine Romantikerin mehr. Das ist vorbei. Ich nehme das Leben, wie es ist, und was nicht zu ändern ist, lasse ich. Was sein muss kann sein, was aber sein kann, muss nicht immer sein.»

Auf einmal bog ein roter Ferrari donnernd ein und parkierte vor dem Hotel. «Wir leben in einer selbstverliebten Zeit. In ihr gibt es keinen Platz mehr für Romantik», sagte meine Kollegin nachdenklich. Sie klang resigniert, was mich leicht überraschte. «Sind nicht eher die Hetze und die Gier nach Vergnügen schuld, die jedes romantische Gefühl wegputzen», antwortete ich. «Woran mag wohl ein Ferrari-Fahrer denken?», unterbrach sie mich. Verlegen suchte ich nach einer Antwort: «Bestimmt liebt er sein Auto. Vielleicht ist dies eine moderne Form von Romantik. Einen Ferrari zu fahren, ist doch eine emotionale Angelegenheit.» «Was für eine männliche Antwort!», lachte sie und steckte mich damit an. Wir beobachteten, wie der Fahrer leicht an den Wagen lehnte und eine Zigarette rauchte.

Sie hatte meinen ironischen Unterton sehr wohl verstanden und wechselte das Thema. «Frühling lässt sein blaues Band / wieder flattern durch die Lüfte …» wie ein singender Vogel flog auf einmal ein wenig Romantik hinzu. Der blaue Himmel verlief vom Pilatus zur Rigi, kein Kondensstreifen trübte ihn, nur gerade das Horn eines Dampfers, der gerade anlegte, zerriss die Stimmung für einen Augenblick. Ich nahm den Vers auf: «Süsse, wohlbekannte Düfte / Streifen ahnungsvoll das Land.» Was habe doch das Gedicht für eine eigene Kraft, wir sollten aber unten an der Reuss weiterrezitieren, empfahl sie. Mit dem Blick auf die Wasservögel und auf den Fluss lasse sich die Stimmung besser bewahren.

Wir freuten uns darüber, dass wir das Gedicht auswendig aufsagen konnten, den einen Vers jeweils dem anderen weiterreichend: «Veilchen träumen schon / Wollen balde kommen.» Das sei von Mörike, unterbrach sie mich und fuhr gleich fort: «Horch, von fern ein leiser Harfenton! / Frühling, ja du bist’s! / Dich hab ich vernommen!»

Auf der Brücke beschleunigte ein Fahrer seinen Wagen und schloss lärmend eine Lücke in der Kolonne. Mir entfuhr; «Idiot!», vergass die Verwünschung aber schnell, denn unten an der Reuss herrschte eine Art Ferienstimmung. Wir sprachen am Wasser über die Schriftstellerei und machten uns ein paar Gedanken darüber, wie denn heute romantisches Glück in einem Text überhaupt beschwört und dargestellt werden könne, ohne dass es sofort kitschig und voller Metaphern wirke.

Nach dem anregenden Treffen fuhr ich nach Hause. Gegen Abend wanderte ich im Licht der untergehenden Sonne über den Panoramaweg am Hang über dem Tal. Ich schaute auf das immer noch wachsende Dorf, den See, die Berge. Buschwindröschen und Veilchen schmückten den schmalen Trampelpfad, sie lachten mich an, und schattenhalb blühte der Huflattich. Kleine Wunderwerke der Natur! Diesen Weg gehe ich oft, für mich ist er der Philosophenweg. Ich liess meine Gedanken über die Dächer des Dorfes schweifen. Manchmal lese ich auf einem Bänkchen in einem Buch. Diesmal blieb ich an einem Satz von Franz Tumler hängen: «Wir halten in uns Dinge für wichtig, die es nicht sind; und halten das Wichtige, das die andern sofort sehen und als unsere eigentliche Kraft oder Schwäche erkennen, oft nicht für der Rede wert.» Sollte jemand finden, mein Hang zu romantischer Dichtung seine Schwäche, dann würde ich es tatsächlich für nicht der Rede wert halten.

Der nächste Tag strahlte wieder wolkenlos. Kinder sprangen lachend und singend über den Panoramaweg. Werden sie in eine Welt hineinwachsen, die ihnen noch Raum für romantische Gefühle bietet? Ich beobachtete, wie sie bei einem frischen Erdloch stehen blieben, sich bückten, neugierig schauten und sich fragten, von welchem Tier es wohl stammen könnte. Als ich näher kam, schauten sie mich fragend an. Ich wusste nicht Bescheid. Ein Wiesel oder ein Marder? Ein grösseres Tier konnte es auf alle Fälle nicht sein.

Ich ging freudig meines Wegs und war glücklich, dass ich diese neugierig verspielten Kinder getroffen hatte. Jedes hatte ein Sträusschen Wiesenblumen in der Hand gehalten. Die Welt hatte für sie an diesem Tag einen eigenen Klang. Wie lange, dachte ich, widersteht ihr Gemüt der Sogwirkung der modernen Welt? Wird das Kind im Manne, in der Frau erhalten bleiben? Wird es ihnen vielleicht Spass machen, ein Gedicht auswendig zu lernen? Zwar wusste ich, «Poesie kommt immer zu spät oder zu früh, eine kräftige lebendige Gegenwart macht ihr den Platz streitig. Und das ist gut so», meinte Eichendorff, man soll zuerst die Poesie im Leben entdecken, ehe  man sie in die Wörterwelt einsperrt**, aber mir spendet sie halt schon heilende Kraft, auch wenn ich sie nur in einem Buch finde.

 

* Franz Tumler. Wie entsteht Prosa. Haymon tb.
** Rüdiger Safranski: Romantik. Eine deutsche Affäre. Hanser

 

erschienen in: Neue Luzerner Zeitung

 

Dem Land etwas zurückgeben

publiziert: 01.07.11

Auch wer sein Land liebt, übt gelegentlich Kritik, schaut dabei auf andere Staaten und wünscht sich, die eigene Heimat schlage nicht etwa deren politische Neuausrichtung ein. Er muss zum Beispiel zur Kenntnis nehmen, wie sich Ungarn eine Verfassung gegeben hat, die ein autoritäres Regime ermöglicht. Er wundert sich, dass im europäischen Vorzeigeland Finnland die rechtspopulistischen «Wahren Finnen» im April die Wahlen gewonnen haben. Ein Blick auf Italien wiederum, das mir selber näher liegt, ist einerseits erheiternd und andererseits niederschmetternd. Ich bleibe also bei unserem südlichen Nachbarn, nicht nur, weil ich bald zwei Wochen an der Adria verbringen werde.

Im kürzlich erschienenen Buch «Circus Italia»* lesen sich gewisse Passagen, als würde die Autorin, die ZEIT-Korrespondentin Birgit Schönau, zugleich gewisse Entwicklungen in der Schweiz nachzeichnen. Unter anderem schildert sie differenziert, wie Flavio Tosi, Bürgermeister von Verona und Mitglied der Lega Nord, mit harter Hand regiert und am liebsten alle Ausländer wegweisen würde. Die Arbeiten, die diese verrichten, könnten schliesslich auch von Italienern erledigt werden. Kleine und mittlere Unternehmer unterstützen vorwiegend die fremdenfeindliche Lega. Auch der Pastafabrikant Gianluca Rana, der Bandnudeln und Lasagne, Ravioli und Tortellini in alle Welt verkauft, erkennt in seiner Lega-Parteimitgliedschaft keinen Widerspruch zur Tatsache, dass er in seinem Betrieb zahlreiche Ausländer beschäftigt. Achselzuckend beantwortet er eine diesbezügliche Frage der Journalistin: «Die Politik betreibt ihr eigenes Marketing. Wir Unternehmer aber tun alles für die Integration unserer ausländischen Arbeitnehmer. Denn wer sich integriert fühlt, arbeitet besser. So einfach ist das.» Ja, so einfach lässt sich mit Widersprüchen leben, falls es profitabel ist.

Einer wie Rana überlässt den Lokalpolitikern ihre Marketing-Auftritte. Schliesslich muss er für sich selbst schauen. Doch sogar Berlusconi stecken viele Italiener weg. Ach je, man muss ihn halt zum eigenen Vorteil benutzen, sagt der Aristokrat und Milliardär Gian Marco Moratti, dessen Frau Letizia als Bürgermeisterin von Mailand nicht wiedergewählt worden ist. Berlusconi hatte mit seinem aggressiven Wahlkampf und seinen Sprüchen Moratti geschadet. Berlusconis missionarischer Eifer ist auf das Niveau eines Bonmots abgesunken. Als Johannes Paul II. ihm eine Audienz gewährte, sagte er lächelnd: «Wir zwei tragen beide eine siegreiche Idee in die Welt. Sie das Christentum und ich den AC Milano.»

Die Zeitung «La Repubblica» berichtete anfangs April, der frühere Präsident der Industriellenvereinigung Confindustria und heutige Ferrari Chef, Luca Cordero di Montezemolo, habe in einer Rede bedauert, dass Italiens Zivilgesellschaft im Laufe der letzten Jahre verschwunden sei. Wie sollte sie nicht? Seit Jahren werden die Institutionen schlecht gemacht, doch, sagte er, die Unternehmer, die grossen Banken und vor allem viele Intellektuelle schauten dem Treiben schweigend, teilweise angeekelt zu. Entweder engagierten sie sich wieder für das Land oder es gerate an den Rand des Abgrunds.

Der liberale Staat ist auf eine starke Zivilgesellschaft angewiesen. Sie trägt die Mitverantwortung für das Gedeihen des Landes. Heute stellen wir aber einen Rückzug ins Private fest. Der Chefredaktor der Berlusconi nahen Zeitung «Il Foglio», Giuliano Ferrara, sagte einmal, auf Recht und Gesetz zu pochen, sei ein Geschäft für Fanatiker ohne Humor und Esprit. So eine Aussage müsste eine Unzahl von Reaktionen auslösen. Sie darf nicht einfach hingenommen werden.

Wer mit dem italienischen Vergrösserungsglas auf unsere Gesellschaft blickt, entdeckt bei uns ähnliche Tendenzen. Der Club der Egoisten, Spekulanten und Zyniker hat zugenommen. Es wird auf die Classe politique eingedroschen, so dass immer weniger Bürgerinnen und Bürger bereit sind, Verantwortung im Staat zu übernehmen. Parteien haben Mühe, geeignete Kandidatinnen und Kadidaten für ein politisches Amt auf Gemeindeebene zu finden. «I bi doch nöd blööd!», lautet etwa die Antwort auf eine Anfrage.

Als der Slogan «Mehr Freiheit und Selbstverantwortung, weniger Staat» in den 90er Jahren den Siegeszug antrat, wurde das Wort Selbstverantwortung geflissentlich ausgeblendet. Die Fesseln des Staates sollten gesprengt werden. Aber es wurden immerhin gute Rahmenbedingungen geschaffen. Ein Mann, der davon profitierte, war Hansjörg Wyss, der die Firma Synthes erfolgreich geführt und nun mit grossem Gewinn verkauft hat. Er äusserte sich anfangs Juni in einem Interview in der NZZ ** wie Montezemolo in Italien. Er glaubt, dass sich viel zu wenig reiche Leute als Mäzene betätigen würden. Auch die Schweizer Industrie sei ein hoffnungsloser Fall. «Nur die beiden Grossbanken geben noch etwas Geld. Die Kulturbudgets der Schweizer Institutionen sind lächerlich tief. Spenden liegt den Schweizern einfach nicht im Blut.» Er habe im Land gute Jahre gehabt, nun wolle er der Gesellschaft etwas zurückgeben.

Es gibt sie also noch, die Unternehmer, die kulturelle und soziale Werke unterstützen. Sie fühlen sich wie frühere Generationen des wohlhabenden Bürgertums für das Funktionieren des Staates und der Gesellschaft persönlich verantwortlich. Wo Unternehmer nicht selber tätig werden können, treten sie als Mäzene auf. Sie halten nichts von einer «Ohne-mich-Gesellschaft». Was dennoch bedauerlich ist, sie schweigen zum unverantwortlichen politischen Marketing.

 

* Circus Italia. Aus dem Inneren der Unterhaltungsdemokratie. BV Berlin Verlag, 2011.
** NZZ. Fokus der Wirtschaft, 11. Juni 2011. Hansjörg Wyss über die Gründe des Verkaufs von Synthes und seine zahlreichen wohltätigen Projekte

 

erschienen in: Neue Luzerner Zeitung

 

Auswandern und einwandern

publiziert: 09.06.11

Auch wer sein Land liebt, übt gelegentlich Kritik, schaut dabei auf andere Staaten und wünscht sich, die eigene Heimat schlage nicht etwa deren politische Neuausrichtung ein. Er muss zum Beispiel zur Kenntnis nehmen, wie sich Ungarn eine Verfassung gegeben hat, die ein autoritäres Regime ermöglicht. Er wundert sich, dass im europäischen Vorzeigeland Finnland die rechtspopulistischen «Wahren Finnen» im April die Wahlen gewonnen haben. Ein Blick auf Italien wiederum, das mir selber näher liegt, ist einerseits erheiternd und andererseits niederschmetternd. Ich bleibe also bei unserem südlichen Nachbarn, nicht nur, weil ich bald zwei Wochen an der Adria verbringen werde.

Im kürzlich erschienenen Buch «Circus Italia»* lesen sich gewisse Passagen, als würde die Autorin, die ZEIT-Korrespondentin Birgit Schönau, zugleich gewisse Entwicklungen in der Schweiz nachzeichnen. Unter anderem schildert sie differenziert, wie Flavio Tosi, Bürgermeister von Verona und Mitglied der Lega Nord, mit harter Hand regiert und am liebsten alle Ausländer wegweisen würde. Die Arbeiten, die diese verrichten, könnten schliesslich auch von Italienern erledigt werden. Kleine und mittlere Unternehmer unterstützen vorwiegend die fremdenfeindliche Lega. Auch der Pastafabrikant Gianluca Rana, der Bandnudeln und Lasagne, Ravioli und Tortellini in alle Welt verkauft, erkennt in seiner Lega-Parteimitgliedschaft keinen Widerspruch zur Tatsache, dass er in seinem Betrieb zahlreiche Ausländer beschäftigt. Achselzuckend beantwortet er eine diesbezügliche Frage der Journalistin: «Die Politik betreibt ihr eigenes Marketing. Wir Unternehmer aber tun alles für die Integration unserer ausländischen Arbeitnehmer. Denn wer sich integriert fühlt, arbeitet besser. So einfach ist das.» Ja, so einfach lässt sich mit Widersprüchen leben, falls es profitabel ist.

Einer wie Rana überlässt den Lokalpolitikern ihre Marketing-Auftritte. Schliesslich muss er für sich selbst schauen. Doch sogar Berlusconi stecken viele Italiener weg. Ach je, man muss ihn halt zum eigenen Vorteil benutzen, sagt der Aristokrat und Milliardär Gian Marco Moratti, dessen Frau Letizia als Bürgermeisterin von Mailand nicht wiedergewählt worden ist. Berlusconi hatte mit seinem aggressiven Wahlkampf und seinen Sprüchen Moratti geschadet. Berlusconis missionarischer Eifer ist auf das Niveau eines Bonmots abgesunken. Als Johannes Paul II. ihm eine Audienz gewährte, sagte er lächelnd: «Wir zwei tragen beide eine siegreiche Idee in die Welt. Sie das Christentum und ich den AC Milano.»

Die Zeitung «La Repubblica» berichtete anfangs April, der frühere Präsident der Industriellenvereinigung Confindustria und heutige Ferrari Chef, Luca Cordero di Montezemolo, habe in einer Rede bedauert, dass Italiens Zivilgesellschaft im Laufe der letzten Jahre verschwunden sei. Wie sollte sie nicht? Seit Jahren werden die Institutionen schlecht gemacht, doch, sagte er, die Unternehmer, die grossen Banken und vor allem viele Intellektuelle schauten dem Treiben schweigend, teilweise angeekelt zu. Entweder engagierten sie sich wieder für das Land oder es gerate an den Rand des Abgrunds.

Der liberale Staat ist auf eine starke Zivilgesellschaft angewiesen. Sie trägt die Mitverantwortung für das Gedeihen des Landes. Heute stellen wir aber einen Rückzug ins Private fest. Der Chefredaktor der Berlusconi nahen Zeitung «Il Foglio», Giuliano Ferrara, sagte einmal, auf Recht und Gesetz zu pochen, sei ein Geschäft für Fanatiker ohne Humor und Esprit. So eine Aussage müsste eine Unzahl von Reaktionen auslösen. Sie darf nicht einfach hingenommen werden.

Wer mit dem italienischen Vergrösserungsglas auf unsere Gesellschaft blickt, entdeckt bei uns ähnliche Tendenzen. Der Club der Egoisten, Spekulanten und Zyniker hat zugenommen. Es wird auf die Classe politique eingedroschen, so dass immer weniger Bürgerinnen und Bürger bereit sind, Verantwortung im Staat zu übernehmen. Parteien haben Mühe, geeignete Kandidatinnen und Kadidaten für ein politisches Amt auf Gemeindeebene zu finden. «I bi doch nöd blööd!», lautet etwa die Antwort auf eine Anfrage.

Als der Slogan «Mehr Freiheit und Selbstverantwortung, weniger Staat» in den 90er Jahren den Siegeszug antrat, wurde das Wort Selbstverantwortung geflissentlich ausgeblendet. Die Fesseln des Staates sollten gesprengt werden. Aber es wurden immerhin gute Rahmenbedingungen geschaffen. Ein Mann, der davon profitierte, war Hansjörg Wyss, der die Firma Synthes erfolgreich geführt und nun mit grossem Gewinn verkauft hat. Er äusserte sich anfangs Juni in einem Interview in der NZZ ** wie Montezemolo in Italien. Er glaubt, dass sich viel zu wenig reiche Leute als Mäzene betätigen würden. Auch die Schweizer Industrie sei ein hoffnungsloser Fall. «Nur die beiden Grossbanken geben noch etwas Geld. Die Kulturbudgets der Schweizer Institutionen sind lächerlich tief. Spenden liegt den Schweizern einfach nicht im Blut.» Er habe im Land gute Jahre gehabt, nun wolle er der Gesellschaft etwas zurückgeben.

Es gibt sie also noch, die Unternehmer, die kulturelle und soziale Werke unterstützen. Sie fühlen sich wie frühere Generationen des wohlhabenden Bürgertums für das Funktionieren des Staates und der Gesellschaft persönlich verantwortlich. Wo Unternehmer nicht selber tätig werden können, treten sie als Mäzene auf. Sie halten nichts von einer «Ohne-mich-Gesellschaft». Was dennoch bedauerlich ist, sie schweigen zum unverantwortlichen politischen Marketing.

 

* Circus Italia. Aus dem Inneren der Unterhaltungsdemokratie. BV Berlin Verlag, 2011.
** NZZ. Fokus der Wirtschaft, 11. Juni 2011. Hansjörg Wyss über die Gründe des Verkaufs von Synthes und seine zahlreichen wohltätigen Projekte

 

erschienen in: Neue Luzerner Zeitung

 

Ein Trinkgeld für ein Lächeln

publiziert: 29.04.11

In den vergangenen Tagen war ich dabei, eine neue Kolumne über Schweizer Werte zu schreiben. Bald einmal musste ich einsehen, dass ich den Platz von mindestens drei Kolumnen benötigen würde, sollte eine wirklich überzeugende Abhandlung entstehen. Also gab ich das Unterfangen besser auf, packte dafür das Buch*: «Bei näherem Hinsehen. Beobachtungen zu Georg Christoph Lichtenbergs Sudelbüchern» ein und ging auf eine Lesefahrt nach Basel. Lichtenberg, der berühmte Physiker in Göttingen, hatte nicht nur Experimente durchgeführt, sondern auch Tagebücher geschrieben, die er Sudelbücher nannte. Lesen im Zug ist eigentlich sehr anregend. Nicht nur ein Buch hatte ich mit dabei, sondern auch Briefe mit guten Wünschen. Da fand ich zum Beispiel eine Passage, die lautete: «Ich wünsche Ihnen weiterhin (…) auch eine Fortsetzung des Geniessens und Erfreuens, wie es Ihre Kolumnen so oft vermitteln.» Diese Briefzeilen veränderten meine Gemütsverfassung derart, dass ich beschloss, die Nachbetrachtung zur Waffen-Initiative und zur Behauptung, ihre Annahme würde Schweizer Werte zerstören, endgültig sein zu lassen.

Als Georg Christoph Lichtenberg auf einer Reise in Hannover angelangt war, schrieb er am 9. April 1772 dem Ehepaar Dietrich, in deren Haus er wohnte: «Vor allen Dingen grüsse mir die beyden Jungfern Köchinnen Marie und Regine, ich esse zuweilen gerne etwas gutes, deswegen lasse ich keine Köchin ungegrüsst …» Mehr als 200 Jahre später halten wir es mit Lichtenberg, essen gerne gut, aber vergessen dann oft ein Merci. Das ist unverzeihlich. Darum möchte ich den Köchen und den Köchinnen einmal öffentlich mit folgender hübschen Episode danken.

Kurz vor Weihnachten sass ich im Railjet, der von Wien kam und nach Zürich fuhr. In Innsbruck war ich zugestiegen und hatte mir für einmal den Luxus geleistet, in der Abteilung «Premium» zu reisen. Da fand ich meine Ruhe und konnte lesen. Eine junge hübsche Frau kam und fragte mich, was ich wünsche. Sie tat es mit österreichischem Charme, stellte sich mit hochgeschnürtem Busen leicht provozierend vor mich hin und lächelte. Ich durchschaute sie: Sie dachte bestimmt, da sitze wieder ein älterer Herr, der sich gerne von einer schönen Frau bedienen lasse. Ich bestellte einen Süssmost. Sie stutzte, verstand mich nicht und so sagte ich schliesslich: «Bringen Sie mir einen Apfelsaft.» Das tat sie gerne.

Als ich das Glas leer getrunken hatte, erschien sie wieder und fragte, was sie mir, dem Herrn, wie sie mich nannte, servieren dürfe. Ich erklärte ihr, dass ich ein gutes Frühstück genossen hätte, noch würde der Magen nicht knurren, aber nach dem Arlbergpass sollte sie mich bitte nochmals fragen. Was dann auch geschah. Sie könne mir heisse Frankfurter Würstel offerieren. Aber dieses Angebot behagte mir gerade nicht. Hingegen nickte ich, als sie mir Chili con Carne anbot. «Möchten Sie dazu ein Glas Wein?», fragte sie. Das war mir willkommen, und schon kurze Zeit später stand ein Glas Zweigelt auf dem Klapptischchen.

Später brachte sie mir ein Dessert und einen Kaffee, war immer sehr nett und gesprächig. Wie sie denn heisse, wollte ich wissen. Sie nannte mir ihren Namen, und ich wiederum schlug den Bogen zum Essayisten Simic. Ob sie denn ihren berühmten Namensvetter kenne. «Nein, mein Herr! Aber in Wien gibt es sehr viele Leute mit diesem Namen.» Als wir am Zürichsee entlang fuhren, trat sie wieder vor mich hin und fragte mit der noch immer gleichen Freundlichkeit nach meinen Wünschen. Ich bestellte noch einmal einen Apfelsaft, aber sie schüttelte den Kopf. Ob sie mir nicht etwas Besseres servieren dürfe, zum Beispiel einen Glühwein? Ich bejahte befriedigt. Sie ging zurück in die Bordküche, brachte nach ein paar Minuten ein Glas und entschuldigte sich zugleich, der Glühwein sei nicht ganz perfekt, sie habe leider keinen Zimt mit dabei.

Kurz vor Thalwil wollte ich zahlen. Erstaunt sah sie mich an. In dieser Bahnklasse sei die Verpflegung inbegriffen, sagte sie. Ein Trinkgeld aber nehme sie gewiss. Sie bejahte. Nun fragte ich sie leicht verschmitzt, wie viel denn ihr Service wert sei. «Noch nie hat mir jemand eine solche Frage gestellt. Ich weiss es nicht.» Was sie jeweils auf die Hand bekomme. Zwei, drei Euros oder auch mal einen Fünferschein, meinte sie und eilte weg. Sie komme aber gleich wieder, sie müsse noch einen anderen Gast bedienen. Unterdessen entnahm ich meiner Geldtasche einen blauen Schein, und als sie erschien, streckte ich ihn hin. Sie nahm ihn, tat so, als ob sie den Schein küssen wollte und bedankte sich derart herzlich, dass mir ihre Freude nachging und zu meinem schönsten Weihnachtsgeschenk wurde.

Ich habe mir vorgenommen, nur noch denjenigen Serviceangestellten ein rechtes Trinkgeld zu geben, die mir auch ein Lächeln schenken. Ein guter Service ist viel wert, und das Trinkgeld am Schluss ist eine Art Bewertung. Werte hängen davon ab, wie Menschen eine Sache oder eine Dienstleistung bewerten. Wer dankt, drückt seine Wertschätzung aus. Zurück zu Lichtenberg. Am 24. Januar 1775 schrieb er an Dietrichs Frau Christiane: «Was macht denn Marie? Wenn sie artig ist, so grüssen Sie sie doch in meinem Namen. Wenn Dietrich sagt, Sie sollten es nicht thun, so grüssen Sie sie dreymal und wenn er böss werden sollte, sechsmal und so weiter.» Lichtenbergs Grüsse an Marie sollten der Dienstmagd beweisen, dass der Abgereiste ihr gegenüber Dankbarkeit empfand.

Bei näherem Hinsehen sind kleine Werte manchmal gross, und grosse sind oft nicht so gross, wie sie scheinen. Im zwischenmenschlichen Bereich jedenfalls zählen die kleinen doppelt. Ein Lächeln, das eine Zugfahrt überdauert, bleibt ein Wert und ermuntert einen, auch einer anderen freundlichen Person für einen guten Service ein reichliches Trinkgeld zu geben.

 

* Horst Gravenkamp: Bei näherem Hinsehen. Beobachtungen zu Georg Christoph Lichtenbergs Sudelbüchern. Göttingen 2011

 

erschienen in: Neue Luzerner Zeitung

 

Prometheisches Feuer in Japan

publiziert: 06.04.11

Das Erbeben in Japan und der anschliessende Tsunami sind Naturkatastrophen. Die schrecklichen Folgen, die Schäden am Atomkraftwerk Fukushima, wurden aber von Menschhand riskiert, auch wenn die Fachleute beim Bau die Erdbeben- und Tsunamigefahr berücksichtig haben, ähnlich wie z. B. in den Niederlanden, wo man über Jahrhunderte Dämme gegen die unberechenbaren Sturmfluten erstellt hat.

Wie gingen denn frühere Kulturen mit Katastrophen um? Die Griechen erfanden einen Mythos für das Grauen, dass jedes schreckliche Unglück in ihnen auslöste. Prometheus, der Sohn des Titanen Iapetos, kämpfte listig und geistreich gegen Göttervater Zeus. Auf Erden formte er Menschen aus Ton nach seinem Bilde. Er stattete sie mit den nötigen Eigenschaften aus, nach seinem Bilde, und wollte ihnen im Umgang mit den Göttern helfen. Dann versuchte er, verführt durch die eigene Klugheit, Zeus zu betrügen. Da verhängte dieser eine Strafe über die Menschen. Er versagte ihnen die göttliche Gabe des Feuers und liess sie darben und frieren. Prometheus aber stahl die Glut, indem er einen Riesenfenchel am vorbeirasenden Sonnenwagen entzündete. Er hatte das Feuer zwar zurückgeholt. Doch die sterblichen Menschen standen von nun an im Widerstreit mit der vorgegebenen göttlichen Ordnung. Sie wollten selber Schöpfer sein. Sie gebrauchten das Feuer für ihre Zwecke, schmiedeten das Eisen und forschten weiter, bis sie auf das Uran stiessen, das radioaktiv und spaltbar ist. Dabei waren die alten Griechen überzeugt, Atome (atomos = altgriechisch für unteilbar) würden sich nicht teilen lassen. Das gewaltigste und gefährlichste Feuer, das Phänomen der Kernspaltung, wurde 1938 in einem deutschen Labor entdeckt.

In der Zeit von «Sturm und Drang», als sich das Maschinenzeitalter abzuzeichnen begann, verfasste der junge Goethe einen Hymnus auf Prometheus. Darin verspottete er Zeus:

Bedecke deinen Himmel, Zeus,
Mit Wolkendunst!
Und übe, Knaben gleich,
Der Disteln köpft,
An Eichen dich und Bergeshöhn!
Musst mir meine Erde
Doch lassen stehn,
Und meine Hütte,
Die du nicht gebaut,
Und meinen Herd,
Um dessen Glut
Du mich beneidest.

In kräftigen Bildern und starken Rhythmen endet das Gedicht:

Hier sitz’ ich, forme Menschen
Nach meinem Bilde,
Ein Geschlecht, das mir gleich sei,
Zu leiden, weinen,
Geniessen und zu freuen sich,
Und dein nicht zu achten,
Wie ich.

Der Hymnus wurde im Laufe der Zeit verschieden interpretiert. Es geht einerseits um das Gegensatzpaar Zeus und Prometheus, aber er drückt doch auch den Hochmut der Menschen aus, die im Begriff waren, die Dampfmaschine zu konstruieren, Elektrizität zu erzeugen und tief in die Grundgesetze der Natur einzudringen.

Das Feuer ist ambivalent. Das wussten die Griechen. Es nützt, wenn es gut gehütet wird, es richtet Schaden an, wenn es ausbricht. Der Blitz kann einen Menschen oder einen Gebäudebrand auslösen. Da erfand der Mensch den Blitzableiter. Als er dann aber die Atome zu spalten begann, erschrak er erst nach Hiroshima.

Im Prometheus-Mythos steckt die frühe Ahnung, was geschehen kann, falls der Mensch aus der Ordnung der Natur fällt, falls er frevelt. Zeus’ Strafe traf Prometheus. Er übergab ihn Hephaistos, dem Gott der Schmiedenkunst, der ihn an einen Felsen im Kaukasus kettete. Täglich landete ein Adler und riss Stücke aus der nachwachsende Leber. Das Feuer hatte von nun an ein doppeltes Gesicht: Es schenkte dem Menschen einerseits Wärme und andererseits bürdete es ihm die Last der Freiheit auf. Fortan musste er verantworten, was er mit dem Feuer anstellte.

Das prometheische Handeln des Menschen erweist sich seit der Atomkatastrophe in Japan wieder einmal mehr als verhängnisvoll. Es führt an die Grenzen des Fortschritts, eines Fortschritts, der masslos und unersättlich geworden ist. Der Philosoph Karl Löwith (1897-1973) meinte seinerzeit, es gebe ein Art Wettlauf zwischen dem faktischen Fortschritt und dem progressiven Verlangen danach. Denn je mehr erreicht werde, desto mehr werde gefordert und erstrebt. «Und solange wir nicht unser gesamtes Verhältnis zur Welt, und damit zur Zeit, von Grund auf revidieren, sondern mit der biblischen Schöpfungsgeschichte und den christlichen Begründern der modernen Naturwissenschaften voraussetzen, dass die Welt der Natur für den Menschen da ist, ist nicht abzusehen, wie sich an dem Dilemma des Fortschritts etwas ändern sollte.»*

Löwiths Pessimismus ist gerechtfertigt. Erst wenn sich die Katastrophe einstellt, beginnt der Mensch über die Folgen nachzudenken und sein Verhalten zu überprüfen. Vor genau fünfzig Jahren, 1961, hat Karl Löwith vor den Folgen des forcierten Fortschritts gewarnt. Seine warnende Stimme verhallte im Leeren – wie die vieler anderer. Niemals wird der Mensch das progressive Verlangen nach Fortschritt aufgeben, bevor die schädlichen Folgen grösser sind als die Vorteile.

Vor einer so gewaltigen Katastrophe wie in Fukushima versagt die menschliche Sprache. Unermessliches Leid lässt sich nicht mit sprachlichen Mitteln beschreiben und somit bewältigen. Das wussten die Griechen, und sie verliehen ihm im Mythos Gestalt. Gäbe es einen Prometheus-Felsen in Japan, dann bräuchte es wohl mehr als ein paar Ketten.

 

Karl Löwith: Sämtliche Schriften. Band 2. Weltgeschichte und Heilsgeschichte. Stuttgart 1983.

 

erschienen in: Neue Luzerner Zeitung

 

Was wählen Schweizer eigentlich?

publiziert: 09.03.11

Es ist schwer, keine Satire zu schreiben. Difficile est satiram non scribere, meinte der Römer Juvenal (60-140 n. Chr.). Was Juvenal, der letzte der grossen Satiriker, ausspricht, gilt auch heute: Nicht nur zur Fastnachtszeit möchte man satirisch schreiben. Da grinst dich zum Beispiel von einem Abstimmungsplakat die schreckliche Fresse mit einem Gewehr in der Hand an, und du glaubst erst noch, eine solche Art von Propaganda würde niemanden hinter dem Ofen hervorlocken. Das wäre ja die Abschaffung der Vernunft. Was zählt sind doch Argumente, denkst du. Und das war sogar bei der Waffenschutzinitiative der Fall.

Und nun hat auch das Wahljahr so richtig begonnen, wobei du schon heute weißt, dass du dich nicht auf eine bestimmte ultimative Forderung einlassen wirst, überlegst nur gerade, ob du dein Käppi mit dem Schweizerkreuz nicht besser entsorgen solltest. Du bist zwar ein zufriedener Schweizer, aber dir muss niemand sagen, wen du zu wählen hast. Du schaust dir dann schon noch die Köpfe an.

Schweizer wählen gerne trendige Mode. Oft sind es Modelle, in die Prominente schlüpfen und damit werben, verkauft aber werden sie weltweit. Und doch fühlen sich die Schweizer darin sicher, das Selbstwertgefühl platzt fast aus den Nähten. Herumstolzieren im globalisiert gestylten Kleid und auf Absätzen, die klipp, klapp auf den Asphalt schlagen. Das Schweizerkreuz auf der Stofftasche akzentuiert dafür ein wenig den Sonderfall. Neudeutsch wird dies «Swissness» genannt.

Schweizer wählen Schnäppchen. Am liebsten Aktionen und Drei für Zwei-Angebote. Trockenfleisch aus Malbun und Parmaschinken, möglichst günstig. Sie wählen eher Parmesan als Emmentaler. Italienische Käser arbeiten zu niedrigeren Löhnen als sie hierzulande gelten. Warum sollten Schweizer nicht wählen, was günstiger ist? Eine Fahrt nach Konstanz zahlt sich im Moment mehr denn je aus. Vom tiefen Euro profitieren und sparen beim Shoppen, heisst die Devise. Dafür reicht es noch für einen Schweinsbraten in einem deutschen Restaurant.

Schweizer wählen Billigflüge nach Antalya und reisen nach Side, nach Lara oder Belek. Sie fliegen mit Edelweiss nach Puerto Plata oder nach Varadero. Andere schnorcheln auf den Malediven oder reiten mit Kamelen bei Abu Dhabi durch die Wüste. Die Demonstrationen vor kurzem in Tunesien und Ägypten führten zu Annullierungen und so wird als Ersatz Marokko, Teneriffa oder Mallorca gewählt. Warum nicht doch noch Sharm el-Sheikh fahren? Mubarak hat dort seine Villa, und seine Wächter oder das Militär werden schon dafür sorgen, dass den ausländischen Touristen nichts passiert.

Schweizer wählen schöne Autos. Das Auto ist die nach aussen gestülpte Haut des Fahrers. Am Steuer ändert der Mensch sogar seine Persönlichkeit. Das Auto ist eine Körpermaske, und maskiert ist man um einiges bedeutender als ohne Maskerade. Kaum ins Auto eingestiegen, beginnt das Rollenspiel und das kleine Ich bläht sich auf. «Diese blöden Velofahrer! Verdammt, immer trifft es mich, der vor dem Fussgängerstreifen stoppen muss! Nur nicht abbremsen, einfach noch schnell durch. Hallo, ich bin doch vor dir, du Trottel, im Kreisel gewesen!»

Schweizer wählen «20 Minuten», doch die welsche Ausgabe lassen sie liegen, wenn der Zug aus Genf oder Lausanne kommt. Es gibt ja dann noch den «Blick am Abend». Viele informieren sich in den Klatschspalten. Klatsch betont, was in ist, wer gerade das Maul zerreisst und wer einen unschuldigen Menschen niedergeschlagen hat. Nichts gegen Klatsch, man ist dann im Bild und hat genügend Gesprächsstoff. Hoffentlich waren die Schläger keine Schweizer! Sind es Ausländer, bleibt die Welt in Ordnung. Man hat es ja immer gesagt! Populär ist, wer über die richtigen Vögel flucht. Schweizer schwingen gerne «die krude Keule des Populismus», stand in der NZZ. Sogar Akademikern würde es selten gelingen, ihn «mit dem Degen des differenzierten Arguments zu parieren».

Schweizer wählen, was auf der Bestsellerliste ganz oben angekommen ist. Sie wählen, was auf der Theke vor der Kasse liegt, ziehen vor, was laut angepriesen wird, flott daherkommt und auf den ersten zehn Seiten alle Klischees bedient. Boulevard in Romanform! Paradox eigentlich: Da hat der Kapitalismus unzählige Möglichkeiten geschaffen auszuwählen, und doch dominiert der Einheitsbrei und die Gleichmacherei mehr denn je. Und schon stellt sich die Frage: Haben die unglaublichen Wahlmöglichkeiten denn ein Mehr an Glück geschaffen? Auffällige Werbefarben und laute Töne sind keine Garantie für Vielfältigkeit und Originalität. Und wer mit dem Lautsprecher politisiert, löst noch lange keine Probleme.

Bis vor vierzig Jahren haben die Männer noch keine Frauen gewählt. «Wollt ihr solche Frauen?», wurden die Männer seinerzeit gefragt. Das eine Abstimmungsplakat präsentierte ihnen eine magersüchtige, die Hände spreizende, keifende Frau, ein anderes schlicht und verständlich einen Teppichklopfer. Heute triumphiert in Bern der Teppichklopfer. Unser Land wird deswegen nicht schlechter regiert.
Nein, dir kann man nicht einhämmern, wen und was du zu wählen hast, und zugleich hoffst du, es ergehe anderen wie dir. Du möchtest ein Schweizer bleiben dürfen, der sich vorbehält zu wählen, wie und wen er will. Also brauchst du dein Käppi mit dem Schweizerkreuz und dem schönen Rigi-Signet nicht zu entsorgen.

 

erschienen in: Neue Luzerner Zeitung

 

Hochdeutsch im Kindergarten?

publiziert: 14.02.11

Mit dem Schlagwort Kuschelpädagogik wurde vor nicht allzu langer Zeit die Schule als Wahlkampfthema erkannt und seither wird es aus taktischen Gründen dauernd wiederholt. Erfolgreiche Taktik ist die Wiederholung der Wiederholung der Wiederholung einer Behauptung oder eines eingängigen Wortes, ohne auf Argumente dagegen einzugehen. Wer von Kuschelpädagogik spricht, erhebt zugleich den Vorwurf, dass die Schüler von heute verhätschelt würden. Die Politik sei deshalb gefordert, von der Schule wieder mehr Leistung zu verlangen.

Vor kurzem ist die neuste Pisa-Studie erschienen. Diesmal ging es explizit um die Lesefähigkeit der 15-Jährigen. Da haben die Schweizer Schülerinnen und Schüler gegenüber früheren Erhebungen Fortschritte gemacht. Und doch ist der Abstand zur Spitze geblieben, darum sollte vermehrt bei der Sprach- und Leseförderung angesetzt werden. In den Fächern Mathematik und Naturwissenschaften stiegen sie hingegen aufs Podest. Was mir aufgefallen ist: Keiner, der den Vorwurf der Kuschelpädagogik erhoben hat, anerkannte die erzielten Fortschritte. Ganz bestimmt würden die Lehrerinnen und Lehrer dafür mal ein Lob verdienen.

Und da wird nun plötzlich im Widerspruch zum Schlagwort der Kuschelpädagogik gefordert, dass im Kindergarten ausschliesslich kuschelige Mundart gebraucht wird. Die Lektionen in Hochdeutsch sollen wieder abgeschafft werden. Wie können sonst Kindergartenkinder Geborgenheit und Heimat finden, wird geklagt. Bevor die mundartliche Sprachentwicklung ihr festes Fundament habe, dürfe man die Kinder nicht mit hochdeutschen Wörtern verunsichern. Da begann ich mich an die Sprachentwicklung meiner älteren Tochter zu erinnern, und hörte mich auch anderswo ein wenig um.

Als ich vor Jahren mit meiner Familie ein Jahr in Berlin weilte, war Teresa gerade fünfjährig. Sie besuchte einen Kinderhort und spielte mit den gleichaltrigen Kindern. Gelegentlich begleitete ich sie auf den Spielplatz, auf den Buddelplatz, wie er in Berlin genannt wird und schaute dem Spiel der Kinder zu. Immer wieder überraschte mich mein Töchterchen mit ihrem Geplauder: «Kiek mal, Theres, dat it ne Stullle», sagte ein Mädchen. «Ne glob ick nich, dit is wie ne Schrippe.» Ich bewunderte die Kleine, mit der wir zu Hause schweizerdeutsch sprachen, und die derart echt den berlinerischen Tonfall traf. Auf dem Heimweg wollte ich erfahren, was denn eine Stulle und eine Schrippe sei. «Das isch ä Brotschiebe mit Anke, Papi, und e Schrippe isch äs Bürli.»

Vor einigen Wochen diskutierte ich mit einer Journalistin und fragte sie, was sie davon halte, dass im Kindergarten wieder ausschliesslich Mundart gesprochen werden soll. «Davon halte ich gar nichts», meinte sie. Die Mundart setze sich umgangssprachlich bei Schweizern sowieso durch. Dann erzählte sie mir, dass sie zur ersten Generation gehöre, die mit einem Fernsehapparat in der Stube gross geworden sei. Hochdeutsch habe sie schon im Vorschulalter reden können, und sie sei nicht etwa in einem bildungsbürgerlichen Quartier aufgewachsen. «Für uns Fünf- und Sechsjährige», führte sie aus, «hat Hochdeutsch eine bestimmte Funktion gehabt. Es war die Sprache des eher Exotischen, des etwas Aussergewöhnlichen gewesen.» Sie hätten auf Schweizerdeutsch «g’mütterlet», dagegen auf Hochdeutsch «g’indianerlet», so wie sie es am Deutschen Fernsehen gehört hätten, mit dem stummen «r» an Wortenden und dem vorne, am Gaumen ausgesprochenen «k» und «ch». Etwa so: «Wiä führen Krieg gegen die Kaubois.»

Sie erzählte auch von einer Studienkollegin, die als Deutsche im Primarschulalter in die Schweiz, nach Burgdorf, gekommen sei. In der Schule habe sie sich aber schnellstens abgewöhnen müssen, deutsches Hochdeutsch zu sprechen. Rasch habe sie sich unserer alemannischen Standard-Hochsprache angepasst, um nicht gehänselt zu werden. Wer ein solches «Gstürm» um Mundart im Kindergarten mache, beleidige die natürliche Intelligenz unserer Kinder. Es mache ihnen doch Spass hochdeutsch zu parlieren. Das könne sie auch bei ihrem Patenkind beobachten, das noch nicht in die Schule gehe.

Die Empfehlung, im Kindergarten einige Lektionen auf Hochdeutsch zu halten, ist wissenschaftlich abgestützt, sie entspricht zudem einer alltäglichen Erfahrung. Wer das Glück hat, zweisprachig aufzuwachsen, wird später nicht mühsam und krampfhaft versuchen müssen, den mundartlich gefärbten Akzent in seinem Französisch oder Italienisch auszumerzen, was übrigens nur musikalisch begabten Menschen gelingt.

Kuschelige Mundart ist heimelig. Doch Kindergärtnerinnen brauchen genug Handlungsspielraum, wann und wie sie diese gebrauchen. Die Welt von Heute verlangt sprachliche Flexibilität. Unter anderen klagen Lehrmeisterinnen und Lehrmeister, dass die Schulabgänger nicht einmal mehr einen Bewerbungsbrief in korrekter Hochsprache schreiben könnten. Warum also nicht jene sensible Phase der Sprachentwicklung ausnützen, in der das Sprechen am Leichtesten gelernt und eingeprägt wird? Kinder sollten nicht dauernd in einer Kuschelsprache angesprochen werden, die manchmal so richtig kindisch klingt. Von Schlagworten, die taktisch wiederholt werden, sollte man das eigene Denken und Beobachten nicht ausser Kraft setzen lassen.

 

erschienen in: Neue Luzerner Zeitung

 

Wer ist integriert?

publiziert: 02.01.11

Begriffe, die leicht über jede Zunge kommen, werden selten klar und eindeutig gebraucht. So verhält es sich etwa mit dem Wort Glück, das bei jedem Jahreswechsel häufig kursiert. Jeder versteht darunter etwas anderes. Ähnlich verhält es sich auch mit dem Begriff der Integration, der ja vor der letzten eidgenössischen Abstimmung in aller Munde war. Dazu liess sich in der «Weltwoche» auch der Multimillionär Gunter Sachs vernehmen, der in St. Moritz lebt. Richtig integriert sei ein Ausländer erst, wenn er perfekt Schweizerdeutsch spreche. Am Ende seiner Ausführungen meinte er: «Eines möchte ich unserem Volk von Brüdern (hüt bin i en Papirli-Schwyzer) noch aus Erfahrung und von Herzen sagen: Dem schwyzerdütschen Charme können sich die Michels schwerlich entziehen.» Täuscht sich der Neu-St. Moritzer da vielleicht nicht doch ein wenig? Es kommt wohl schon darauf an, wie das von ihm geliebte Schwyzerdütsch in den Ohren klingt.

Aus der Ergänzung richtig im oben zitierten Satz ist herauszulesen, dass Gunter Sachs unter Integration eigentlich Assimilation versteht. Mancher Zugezogene spricht zwar gut Schweizerdeutsch und ist dennoch nicht assimiliert. Die Schweiz genügt ihm als Aufenthalts- oder Niederlassungsland, um Geschäfte oder Karriere zu machen. Aber assimiliert ist er eben gerade nicht, weil er sich überhaupt nicht für seine Wohngemeinde und das weitere Umfeld interessiert.

Sehr viele Deutsche in der Schweiz sprechen nicht Schwyzerdütsch und sind doch integriert. Sie arbeiten, verdienen ihr Leben, zahlen Steuern, erziehen ihre Kinder, geben dem Land durch ihre Arbeit Impulse und tragen ihren Teil zum Wachstum der Gesellschaft bei. Sie fühlen sich einbezogen, eingegliedert in unsere Gesellschaft. Warum sollte ein Türke, der mit Erfolg einen Kebab Betrieb führt, und nur gerade seine zwei tausend schweizerdeutschen Wörter kennt, um auch Schweizer Jugendliche bedienen zu können, und der sich im Übrigen nichts zu Schulden kommen lässt, sich und seine Familie selber durchbringt, ja sogar genug Ehrgeiz besitzt, damit es seine Kinder im Gastland zu etwas bringen, nicht integriert sein? Wollte er sich einbürgern lassen, müsste er freilich besser Deutsch sprechen.

Und wie steht es mit den vielen Ausländern, die nur Englisch sprechen, und sogar in den Führungsetagen der Banken und in den Niederlassungen internationaler Unternehmen von den Schweizern verlangen, dass sie die englische Sprache beherrschen? Sie wohnen in Zug oder Luzern, schicken ihre Kinder in englische Privatschulen und verkehren unter ihresgleichen. Verlegen sind sie, wenn sie Schweizerdeutsch oder Hochdeutsch sprechen sollten. Sind sie nun integriert, einbezogen in die gesellschaftliche Einheit dieses Landes oder eben gerade nicht? Natürlich tragen sie zu unserem Wohlstand bei, besuchen Konzerte im KKL, Ausstellungen und Messen in Zürich und Basel und nehmen auf ihre Art am gesellschaftlichen Leben des Landes teil. Aber Schweizerbürger wollen sie nicht werden.

Johannes Mario Simmel, der jahrelang in Zug lebte, war gebürtiger Österreicher. Er sprach kein Schweizerdeutsch. Als er von Monaco nach Zug umgezogen war, rühmte er seinen neuen Aufenthaltsort über alles. Zug gefiel ihm sehr, und weil er jahrelang ein Bestsellerautor war, gefiel er uns Zugern auch. Er bewunderte nicht nur den Sonnenuntergang, sondern war ausdrücklich zufrieden, dass man mit ihm hierzulande keinen Starkult betrieb. So konnte er in Ruhe schreiben. Dafür bezahlte er reichlich Steuern. Damit schien er einbezogen in die Gesellschaft. Jedenfalls erregte er keinen Anstoss, sondern trug mit seinem Beitrag dazu bei, dass das Gemeinwesen gesellschaftliche und kulturelle Aufgaben erfüllen konnte. Wie aber steht es denn mit den einfachen ausländischen Arbeitern, die ihren Dienst ohne Murren und meist mit niedrigen Löhnen versehen? Sind die etwa nicht integriert, nur weil sie nach Jahren immer noch gebrochen Deutsch sprechen oder das charmante Schwyzerdütsch nicht richtig verstehen?

Mir scheint, wir sollten den Begriff der «Integration» nicht zu eng auslegen. Falls ein Ausländer unsere Sprache spricht und rege am Brauchleben teilnimmt, sollten wir eher sagen, er sei assimiliert. Die meisten jugendlichen Ausländer der zweiten und dritten Generation sind es. Sie spielen in Vereinen mit, johlen wie ihre Schweizer Kollegen, wenn der FC Luzern oder der EV Zug gewinnt. Ausländer verlieben sich in Schweizermädchen, genauso wie sich ein Schweizer in eine Ausländerin verliebt. Das war schon nach dem Zweiten Weltkrieg der Fall, als vermehrt Österreicherinnen und Italienerinnen in unseren Fabriken arbeiteten.

Wir dürfen uns nicht vom politischen Gesäusel irritieren lassen, dass nur integriert sei, der Mundart spricht. Wie sollte die Schweiz in der globalisierten Welt bestehen können, ohne die zahlreichen Ausländerinnen und Ausländer? Wir sind nun einmal ein multikulturelles Land geworden. Unsere zentrale Aufgabe besteht darin, eine neue Vielheit in der Einheit zu schaffen. Warum polemisieren diejenigen, die es anders sehen als ich, nicht gegen die reichen Amerikaner und Russen, die in Parallelgesellschaften leben? Warum fühlt sich der «Ägeritaler» bemüssigt, einen Beitrag English text on page 5 zu bringen, wo auf dem Titelbild die Morgartenschützen im Stroh liegen? Und warum tut er dies nicht auch auf Türkisch? Da stimmt doch einfach etwas nicht. Offensichtlich erliegen die vielen englischsprechenden Menschen dem Charme des Schwyzerdütsch auch nicht und sie sind dankbar, wenn ihnen das «Ägeri Valley» mit seinem Brauchtum in ihrer Muttersprache näher gebracht wird. Und dass ein Gunter Sachs seine Brüder als Deutsche Michels anredet, besitzt nicht viel vom Charme der Bourgeoisie, wie Arrogante eben selten besonders charmant sind.

 

erschienen in: Neue Luzerner Zeitung

 

2010

Vom Törggelen zum Torkeln

publiziert: 10.12.10

 

Glückliche Umstände führten mich vor ein paar Wochen zum Guggerhof im Tirol. Dort findet zur Erntezeit das sogenannte Törggelen statt. Früher wurde der Brauch vor allem im Eisack-Tal an der Brennerroute gepflegt. Inzwischen ist er aber auch ins Nordtirol übergeschwappt. Ich erkundigte mich am Ort, woher denn der Begriff törggelen komme. Er lasse sich von Torggl ableiten und bedeute eigentlich die Weinpresse, die in einem Raum steht, wo früher auch das Erntedankfest gefeiert wurde. Da trank und ass man tüchtig, sang und spielte. Auf den Tisch kamen neben Wein und Most, saftige Koteletten und Rippchen, Speck und Hartwürste, Kraut aus der eigenen Produktion, Käse, Nüsse und Kastanien. Zur Nachspeise wurden gefüllte Krapfen aufgetragen. Schliesslich, gab es zur Verdauung einen Nussler, einen Nussschnaps.

Wieder zu Hause, ging ich dem alten Brauch weiter nach. Das Deutsche Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm belehrte mich, dass das Wort auf das lateinische torculare zurückgehe, was keltern bedeute. Davon leite sich wiederum das Wort torkeln ab, das für einen schwankenden Gang gebraucht werde, wenn einer nach einem weinseligen Fest heimwärts torkelt. Schon Martin Luther hat den Begriff gebraucht: «Da gehen sie daher, torkeln auff den gassen von einer wand zu der andern.»

Doch nun zurück auf den Guggerhof: Vom Hof, der an einem Hang liegt, hatte ich einen schönen Blick ins Tal. In der Umgebung wachsen Rebstöcke, alte Obst-, Nuss- und Kastanienbäumen. Vor dem blumengeschmückten Haus erfreut ein gepflegter Garten die Gäste. Solche Gutshöfe, wie der Guggerhof einer ist, mit getäfelten Stuben und geschnitzten Decken, mit einem Herrgottswinkel und Porträts von Vorfahren an den Wänden, erhalten von der Obrigkeit eine Erlaubnis, um während der Erntezeit selber Gäste bewirten zu dürfen.

Als ich eintrat, ging es schon laut zu und her. Ich fand einen Eckplatz an einem der gut besetzten Tische. Mir gegenüber sassen Innsbrucker Herrschaften. Die Haarpracht der einen Frau erinnerte mich an alte Gemälde mit Samson und seiner Mähne. Ein anderes Ehepaar kam aus Bregenz. Die Leute am Tisch begannen mich in ein Gespräch zu verwickeln, und ich geriet ins Erzählen. Schon bald stiess ich mit den Leuten auf ihr Wohl an und am Ende duzten wir uns.

Der Mann aus Bregenz entpuppte sich als Bewunderer der Schweiz. Er sollte meine Zunge noch mehr lockern, als er nicht aufhören wollte, unser Land zu loben und Fragen zu stellen. Wie denn die direkte Demokratie funktioniere, wollte er wissen. Es würden ja Ende November wieder sehr umstrittene Abstimmungen stattfinden. Die Schweizer seien aber schlau, ja meist raffiniert. Er spielte natürliche auf unser Verhältnis mit der EU an. Das Abseitsstehen lohne sich halt doch. Ich mochte aber nicht auf dieses Thema eingehen, denn bald herrschten am Tisch völlig unterschiedliche Meinungen zur die Europäischen Gemeinschaft.

Der Bregrenzer, der offensichtlich über den Bodensee guckte, gelegentlich eine Schweizer Zeitung liest, wollte unbedingt mehr über das Erfolgsrezept seines Nachbarlandes wissen, und ich holte ein bisschen aus, betonte, unsere Politik werde von der Mitte gesteuert, und diese bestimme auch die politischen Entscheidungsprozesse. Deshalb würden die Verhältnisse stabil bleiben. Der Tischnachbar wollte mir nicht recht glauben, denn gerade jetzt komme doch ein scharfer Wind von Rechts und von Links. «Ach», antwortete ich, «das lässt sich alles mit einem reinigenden Gewitter vergleichen. Viel verändern werden die beiden polarisierenden Parteien nicht. Am Ende bleibt die Mitte doch am Ruder, und das ist auch nötig.» Der Bregenzer schüttelte ungläubig den Kopf und auch die Innsbrucker nahmen mir meine Behauptung nicht ab. Es brauchte also weitere Argumente, und deshalb sprach ich über die Konkordanzregierung und darüber, dass jeder Gesetzesentwurf so ausgestaltet werden müsse, dass er auch ein Referendum überstehe. Zudem fuhr ich fort, unterscheide das Volk scharfsichtig zwischen Parlament und Regierung. In kantonale Regierungen würden keine extremen Parteipolitiker gewählt. Erfolgreich seien immer nur Kandidatinnen und Kandidaten, die zur Zusammenarbeit mit anderen Parteien bereit seien. Wer sich quer lege, werde bei der ersten Gelegenheit abgewählt. Eine Politik der Mitte sei es, die unser Land zusammenhalte. Somit heisse das das schweizerische Erfolgsrezept «Mitte und Mass».

Die Innsbruckerin widersprach. Von aussen betrachtet, sehe die Situation in der Schweiz aber anders aus. Freilich habe sie Recht, und es sei ja auch gut, dass an den Rändern Wind herrsche, sonst schlafe die Mitte ein, meinte ich nur. Das geschehe immer dann, wenn die Mitteparteien zu lange erfolgreich regiert hätten. In der Mitte aber herrsche der Kompromiss, der Ausgleich um der Sache willen. Mit einer Regierung, die nur aus Polparteien bestehen würde, käme es zum totalen Stillstand. Unsere Nachbarn, die nach fast jeder Legislaturperiode die Regierung auswechseln würden, torkelten von links nach rechts, und von dort wieder zurück. Dieser Wechsel verunsichere vor allem die Wirtschaft. Bei uns würden die Gegensätze in der Mitte ausbalanciert.

Auf dem Weg ins Gästehaus fühlte ich den leichten Schwips. Er kam mehr vom Reden als vom Alkohol. Dabei erinnerte ich mich, wie ich vor Jahren einmal weinselig heimwärts geschwankt war. Dabei knickte ich auf dem Trottoir links ein und geriet, Gegensteuer gebend, rechts an die Wand und kam kaum mehr vorwärts. Da klopfte ich mir in Gedanken auf die Brust: «Wer in der Mitte geht und nicht torkelt, ist schneller am Ziel.» Hatte ich im Guggerhof also nicht Recht mit dem, was ich ausführte?

 

erschienen in: Neue Luzerner Zeitung

 

Auch Götter verschwinden

publiziert: 18.11.10

 

Auf der Insel Lesbos, wo ich kürzlich meine Ferien verbracht habe, entdeckte ich an den Häusern Stromzähler der Firma Landis&Gyr. Sie lösten nostalgische Gefühle und Überlegungen aus, denn der Name das Zuger Industrieunternehmens ist für die ältere Generation noch immer wie eine Legende – ähnlich wie es einem mit manchem Namen der griechischen Götter ergeht, die auch nur noch in Geschichten weiter existieren. Derjenige von Landis&Gyr hat glücklicherweise überlebt, dank der gleichnamigen Zuger Kulturstiftung.

Lesbos ist eine schöne, aber karge Insel. Vom Massentourismus blieb sie bis heute verschont. Die Dörfer sind intakt und weisen eine gut erhaltene, traditionelle Architektur auf, wie sie zum Beispiel noch im Goms anzutreffen ist. Molyvos mit seinen engen Gassen und den gut in den natürlichen Abhang eingepassten Häusern hat mich bezaubert. In Skala Sikamineas wiederum ass ich einen Hummer. Das Meer leuchtete und die kleine weisse Kirche auf einem Felsen reflektierte das Sonnenlicht. Am Strand von Eresos stand ich auf dem hohen, steilen Riff, von dem die antike Dichterin Sappho in den Tod gesprungen sein soll. Von ihren Götterhymnen, Hochzeits- und Liebeslieder ist das Meiste verloren gegangen. Folgender schöne Vierzeiler wird ihr zugeschrieben: «Es tauchte der Mond schon unter – / Das Siebengestirn – nun Mitte / der Nacht – es verstreicht die Stunde – / Ich selbst aber schlafe allein.»

Durch uralte Olivenhaine und Kiefernwälder fuhr unsere Reisegruppe an einem andern Tag nach Agiasos und stieg dann auf den tausend Meter hohen Olymbos (nicht zu verwechseln mit dem berühmten Olymp, auf dem Zeus, der höchste griechische Gott und Feind aller Irdischen, herrschte). Ich hingegen erkundete den Ort, wo die orthodoxen und traditionellen Werte besonders gepflegt werden. In der prächtigen Kirche fand gerade eine Taufe statt. Die Priester bereiteten sie mit langen Gebeten und Gesängen vor. Endlich war es so weit: Der etwa viermonatige Knabe wurde entkleidet. Der Mesner schüttete Wasser in das Taufbecken. Die Patin hielt den Knaben, der so schön wie Adonis war, über den Kessel: Der Pope salbte ihn an allen sensiblen Körperstellen, dann tauchte er ihn dreimal bis zum Hals ins Wasser. Wenn er ihn wieder emporhob, lächelte der Knabe und zeigte stolz seine junge Männlichkeit. Er sah aus wie das Jesuskind, das wir auf italienischen Gemälden der Renaissance bewundern. Kaum war dieser Teil der Zeremonie beendet, steckten die Frauen den Täufling mit einer gewissen Hast in schöne Kleider. Der Pope nahm nun das Weihrauchfass und schritt dreimal um das Taufbecken. Als würde er alle vier Himmelsrichtungen abschreiten, schwang er, zwischendurch innehaltend, das Weihrauchfass. Er räuchert die im Taufbecken abgestreifte Erbsünde aus, ging mir durch den Kopf. Der Mutter mit dem Knaben gebot er, sie solle sich immer vis-à-vis von ihm aufstellen. Nach Abschluss dieser Liturgie hiess er sie nach vorne, zur wundertätigen Gottesmutterikone gehen. Dreimal musste sie den Boden berühren und dreimal das Gnadenbild küssen.

Während unseren Reisepausen, und wenn wir nicht gerade einen Jass klopften, beschäftigte ich mich mit den Göttern Griechenlands. Sie alle sind verschwunden, und hätten Dichter nicht von ihnen erzählt, gäbe es keine Überlieferungen, dann wären sie längst im sternenreichen Äon untergegangen, hätten nicht überlebt. Wie die schöne Helena zum Beispiel, die zum Auslöser des Trojanischen Kriegs wurde. Später brachte Odysseus die List mit dem berühmten Pferd vor, um Troja einzunehmen. Ohne die Hilfe von Hermes und der Göttin Pallas Athene wäre der listenreiche Held allerdings nicht von Troja nach Ithaka zurück, zu seiner Penelope gelangt. Oder Zeus, der sich einmal in einen Stier verwandelte, und auf seinem breiten Rücken Europa trug, die Tochter von König Agenor, damit er sich mit ihr an einen idyllischen Ort vergnügen konnte. Hera, seine eifersüchtige Gattin zürnte ihm und es kam zu olympischen Streitigkeiten.

Auf einmal ging die Phantasie mit mir durch. Plötzlich dachte ich an die Götter unserer Zeit, von denen in der Boulevardpresse jeden Tag zu lesen ist; an Shootingstars, die einen Schweif hinter sich nach ziehen; an Silvio Berlusconi und seine Frau Veronica Lario, die einen olympischen Streit entfachte, als ihr Mann einem hübschen 18-jährigen Mädchen zum Geburtstag einen teuren Anhänger geschenkt hatte und in seinen Palast Gespielinnen einlud. Noch immer streitet Veronica mit ihrem Noch-Gatten, der sich nicht sich davon stehlen kann, in Gestalt eines Stiers.

Dann fiel mir Apoll ein, der Daphne, einer schönen Nymphe, nachstellte. Als sie nicht mehr aus noch ein wusste vor Erschöpfung, bat sie ihren Vater, Flussgott Peneios, um Hilfe, und verwandelte sich in einen Lorbeerbaum. Wenn ich den Sprung in die Jetztzeit mache, kommt mir der Meteorologe Jörg Kachelmann in den Sinn. Hätte sich die damalige Geliebte, an jenem besagten Winterabend, in eine Orchidee oder in einen Kaktus verwandelt, gäbe es für die Boulevardzeitungen nichts zu berichten.

Als mir Hephaistos, der griechische Gott des Feuers, der Künste und des Schmiedehandwerks einfiel, musste ich den Gedanken abwehren, an Christoph Blocher zu denken. Der Kunstsammler schmiedet ja noch immer Pläne und sorgt damit für heftige Debatten. Aber – Sie wissen es auch – im Halbschlaf geht einem gar vieles durch den Kopf, Je mehr man sich gegen aufsteigende Bilder und Namen zu wehren beginnt, desto bedrohlicher besetzen sie die Einbildungskraft. Mein Wachtraum fand dann doch ein gutes Ende. Ich sagte mir, genauso wie die griechischen Götter verschwunden sind, werden die Stars und die Grössen unserer Zeit verschwinden.

Die Dichterin Sappho wird überleben. Seit ich ihre Lebensgeschichte und viele der ihr zugeschriebenen Gedichte und Ratschläge gelesen habe, übt sie sogar einen gewissen Einfluss auf mich aus, werde ich doch künftig ihren Rat ernst nehmen: «Macht sich in deinem Herzen Zorn breit, nimm sie in acht, die eifernde Zunge.» Im Augenblick auf mich gemünzt: Nimm die eifernde Schreibhand von den Computertasten!

 

erschienen in: Neue Luzerner Zeitung

 

Von einem, der nicht Millionär werden wollte

publiziert: 22.10.10

«Was dem Klüger- und Weiserwerden der Menschen entgegen steht, ist, unter anderem, die Kürze ihrer Lebensdauer: alle dreissig Jahre kommt ein neues Geschlecht zur Welt, das von nichts weiss und vorne anzufangen hat», schreibt Arthur Schopenhauer in «Senilia. Gedanken im Alter.»* Gerade darum ist es wichtig, Geschichten zu erzählen und die Erinnerungskultur zu pflegen. Die schöne und zugleich einzige Prosaerzählung von Julian Dillier (1922-2001, bekannter Mundartlyriker, Radio- und Theatermann), «Frau Bartsch»**, erzählt unter anderem, wie zwei Frauen in einem Kolonialwarenladen die Mitmenschen durchhecheln und das lokale Geschehen verhandeln. Die Leserin und der Leser erhalten ein farbiges Bild, wie es früher in einem Dorf zu- und hergegangen ist. In «Frau Bartsch» werden Geschichten aufbewahrt, wie wir sie heute einander kaum mehr erzählen, wenn wir uns für den täglichen Bedarf in Grossverteilern eindecken.

Einmal erzählte Anni Seiler, die Rathaussekretärin, Frau Bartsch, wie gern sich doch der Obwaldner Landschreiber von Ah als Graue Eminenz selber lobte. Er habe eine Schublade eingerichtet mit der Aufschrift «Geschäfte, die sich von selbst erledigen». Wahrscheinlich waren die Regierungsräte, seine Vorgesetzten, für ihn wie eine Schublade, von Ah hingegen sah sich selber als Kommode. Manches Gefecht hat er mit dem Landammann ausgefochten, aber stets dafür gesorgt, dass sie sich nachher wieder vertragen konnten. Nach jeder Auseinandersetzung im Rathaus hat er ihn in den «Schlüssel» oder in die «Metzgern» begleitet, wo sie immer etwa den gescheiten Rechtsanwalt Lüthold antrafen. Mit ihm setzte sich der Landammann zum vierhändigen Spiel ans Klavier. Der Landschreiber behauptete vor seinen Bürokollegen stolz, dieses Spiel sei nur dank seiner geschickten Regie möglich geworden, «denn auf diese Weise habe er den stockkonservativen Amstalden mit dem überzeugten Liberalen Lüthold zum gemeinsamen Spiel gezwungen. Sie hätten aber nicht bemerkt, dass sie bei ihrem gemeinsamen Gesang vor der Polizeistunde in schöner Harmonie die gleiche Stimme gesungen hätten.»

Rechtsanwalt Albert Lüthold war aber auch mein Schwiegervater, und er hatte in den «Metzgern» wirklich immer einen guten Spruch auf Lager, der dann landauf und landab gegangen ist. «Es mänschelet, es mänschelet bis zum Rathuus und uf d’Stäge, wiiter darf märs nümme säge.» Als der Obwaldner Ludwig von Moos 1959 in den Bundesrat gewählt wurde, behauptete er, das sei ein Bundesrat mit Zukunft. Auf die Frage, wie er das meine, spottete Albert Lüthold, der Mann habe bis jetzt noch kaum etwas geleistet.

Eine seiner Geschichten hat mich das ganze Leben hindurch begleitet. Albert Lüthold sass, wie wir wissen, gern im «Schlüssel» oder in den «Metzgern». Dort traf er oft auch etwa Gymnasiasten aus dem Kollegium Sarnen. Mein Schwiegervater war sehr musikalisch, und so setzte er sich oft vergnügt ans Klavier und begleitete ihre Stundentenlieder, und dann tranken sie noch ein Bier und sangen «Ergo bibamus …». Einmal fragten ihn die Studenten, was er denn als Rechtsanwalt verdiene. Zuerst zögerte er ein bisschen. Aber die jungen Männer, die sich entschlossen hatten, selber Jus zu studieren, liessen nicht locker. Nach einigem Hin und Her meinte er: «Ich verdiene achtzigtausend Franken.» Für damalige Verhältnisse war das sehr viel Geld. Die Studenten sahen ihn zweifelnd an, sie glaubten ihm nicht. Er aber sagte: «Dreissigtausend Franken verdiene ich, fünfzigtausend ist mir die Freiheit wert.» Bestimmt werden sie anschliessend nochmals miteinander angestossen haben

Albert Lütholds Antwort habe ich mir zu Eigen gemacht habe, nicht dass ich unzufrieden bin, mit dem, was ich mit meinen beruflichen Tätigkeiten verdient habe. Nein, die pfiffige Antwort, die vor sechzig Jahren in den «Metzgern» gefallen ist, lehrte mich, nicht immer noch mehr zu wollen. Denn ein grosser Besitz engt die Freiheit ein. Er zwingt den Menschen dazu, sich allzu sehr damit zu beschäftigen.

Mein Schwiegervater hat mir seinerzeit noch eine andere Geschichte erzählt. Einer seiner Cousins, ein Millionär, habe ihn wegen seines breiten Allgemeinwissens, seines Humors und seiner Lebensweisheit beneidet. Einmal kamen beide auf das Geld zu sprechen. Da sagte der reiche Cousin bedeutungsschwer: «Was wäre ich denn ohne meine Million?» Damit hatte er die Identitätsfrage angesprochen. Er empfand sich selber als einer, der ohne seine Million nichts gelten würde, und spürte dennoch, dass Geld allein noch keine Identität stiftet. Wer die eigene Identität von Millionen auf dem Konto ableitet, spürt spätestens dann, dass sie seinem Leben keinen besonderen Sinn und Gehalt geben, sobald sie ihm zu entgleiten drohen oder er ihnen entgleitet.

Albert Lüthold ist vor zwei Generationen verstorben. Vielleicht wird seine kleine Geschichte über die Wertung der eigenen Freiheit anstelle eines riesigen Vermögens weiterleben, weil ich sie nun erzählt habe. Sie erheitert dem einen oder andern das Gemüt, wenn er sich ebenfalls nicht zu den Millionären zählen darf. Aber auch er kann sich an Blumen erfreuen, am Glitzern des Wassers am Ufer des Sees und am Licht des Vollmonds, wenn es in den Blättern eines Baumes spielt.

* Arthur Schopenhauer: Senilia. Gedanken im Alter, München 2010
** Julian Dillier. Frau Bartsch. Alpnach 2010

 

erschienen in: Neue Luzerner Zeitung

Taktik ist nur die halbe Politik

publiziert: 21.09.10

Das Märchen vom «Der Wolf und die sieben Geisslein» ist eigentlich nichts anderes als die Geschichte einer raffinierten Taktik: Bevor der Wolf zum zweiten Mal an der Haustür klopfte, frass er Kreide, damit seine Stimme fein genug wurde. Doch das genügte immer noch nicht. Die Geisslein erkannten ihn an den schwarzen Pfoten. Erst nachdem er sie mit Teig und Mehl weiss gefärbt hatte, liessen sie ihn eintreten, weil sie meinten, die Mutter sei mit dem Futter zurück. Der Wolf fand ihre Verstecke und frass sie alle auf. Aber es unterlief ihm dennoch ein Fehler, weil er das Kleinste nicht fand, das sich im «Zytgänterli» versteckt hatte. Es konnte sich bei der verzweifelten Mutter bemerkbar machen, als der Wolf, vollgefressen wie er war, draussen schnarchte. Sie schnitt ihm den Bauch auf und eines ums andere der Geschwister sprang heraus. Auch Politiker übersehen meist irgendeine Kleinigkeit, ihre Reden zeugen davon. Das Volk aber, im «Zytgänterli», durchschaut die Taktik. Vor den Bundesratswahlen war es nicht anders.

Politiker dürfen nicht lügen, aber man kann sie nicht zwingen, die Wahrheit zu sagen. Der Bundesrat hat seine Strategie zum Verhältnis Schweiz-Europäische Union festgelegt. Er plädiert für die Fortführung des bilateralen Wegs, lässt aber die Frage von Experten prüfen, wie er sich in Zukunft gegenüber der EU verhalten soll, möglichst klug. Staatssekretär Michael Ambühl nahm in der NZZ vom 21.8.2010 eine nüchterne Standortbestimmung vor. Der bilaterale Weg sei, so seine Meinung, eine gute und effiziente Lösung; für unser Land optimal und er lasse noch immer genügend Spielraum für Verhandlungen. Also brauche man von ihm nicht abzuweichen. Diese Auffassung teilt die Mehrheit der Bevölkerung.

Die Aufgabe des Bundesrates besteht darin, möglichst genügend Vorteile für ein Land herauszuholen. So verfolgte der Bundesrat zur Zeit des Zweiten Weltkrieges eine Politik zwischen Anpassung und Widerstand und bewahrte damit das Land vor kriegerischen Übergriffen durch Nazi-Deutschland. Dass diese Anpassung in verschiedenen Bereichen nur dank Kompromissbereitschaft erlangt worden ist, darf man dem damaligen Bundesrat wohl nicht allzu sehr ankreiden. Er versuchte vor allem die Neutralität und Souveränität zu wahren, ohne dabei eine der Kriegsparteien zu brüskieren.

Doch nun zurück zu unserer Zeit! Im Rahmen der Finanzmarktkrise agierte der Bundesrat ebenfalls im Interesse des Landes, um den Schaden möglichst tief zu halten. Er schloss sogar einen Staatsvertrag mit den USA ab und weichte das Bankgeheimnis auf, ein Bankgeheimnis, das er vorher mit Zähnen und Klauen verteidigt hatte. Allein mit Taktik wäre ihm dies nicht gelungen.

Sobald der Expertenbericht zum Verhältnis der Schweiz zur EU vorliegt, wird die lebhafte öffentliche Debatte weitergehen. Eigentlich kann unser Land froh sein, dass es die entscheidende Frage vorläufig nicht beantworten muss, die lautet: Wie verhält sich die Schweiz, falls die Nachteile innerhalb des europäischen Wirtschaftsraums die Vorteile überwiegen? Diese Frage plagt uns also im Augenblick nicht, aber eines Tages könnte sie uns durchaus auf dem Magen liegen. Bereits weist die Euroschwäche darauf hin, vor welchen Problemen die Schweizerische Exportwirtschaft stehen könnte. Werden zum Beispiel weitere Arbeitsplätze ausgelagert?

Wir Schweizer sind Pragmatiker, und unsere Politiker halten nicht viel vom Visionen, denn noch immer haben sich sachbezogene Lösungen finden lassen. Für die meisten Bürgerinnen und Bürger ist die Frage, die ich weiter oben gestellt habe, rein utopisch, denn sie gehen davon aus, dass sie sich nicht stellen wird. Warum soll man sich im Voraus darüber Gedanken machen? Was aber, wenn wir nicht mehr um die Frage herumkommen? Könnte eine bestimmte Taktik helfen, um sich geschickt aus der Klemme zu ziehen, sollte es einmal existenziell werden?

In meinem Alter glaube ich das Verhalten der Menschen zu kennen, und doch misstraue ich ihnen, ob sie sich auf Schwüre und Ideale berufen werden, wenn sich das Verhältnis der Schweiz zur EU verschlechtern wird. Karl Marx, der zwar kaum salonfähig ist, vertritt die Auffassung, dass die materiellen Grundlagen das Bewusstsein bestimmen und, wenn sie sich ändern, sich auch die Menschen und ihre Moral verändern. Lassen Sie es mich mit Bertold Brecht bildhafter sagen: «Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral». Das Gleiche lässt sich allerdings lateinisch eleganter ausdrücken: «Primum vivere deïnde philosophari», also zuerst leben, dann philosophieren.

In der Politik geht es um das «Primum vivere». Die Schweiz hat auf dem eingeschlagenen bilateralen Weg keine schlechten Erfahrungen gemacht. Nach wie vor profitiert sie von deren Vorteilen. Dem Land geht es mitten in einem Europa der grossen Defizite und der Spannungen gut.

Der Staatsphilosoph Niccolò Machiavelli meinte, Menschen seien nicht von Natur aus schlecht, sondern schlecht in der Art, wie sie ihre Ambitionen verfolgen. Sie seien nie wirklich gut und nie wirklich böse, doch man müsse ihnen in jedem Fall misstrauen. Der Fürst (il Principe) wolle unter allen Umständen die Macht erhalten, so passe er sich jeder veränderten Situation an. Wie also wird sich die öffentliche Meinung verändern, wenn die Nachteile des Alleingangs spürbarer werden als seine Vorteile? Dann werden wohl frühere Beteuerungen keine Rolle mehr spielen. Und sogar die Banken und die Mächtigen werden sagen, dass man den EU-Beitritt wagen sollte. Am Ende läuft alles auf die Brechtsche Formel hinaus. Der Bürger aber hockt im «Zytgänterli» und wartet, bis er abstimmen kann.

 

erschienen in: Neue Luzerner Zeitung

 

Vorurteile trüben die Wahrnehmung

publiziert: 19.08.10

Zum 1. August erfüllte ich mir einen Wunsch. Ich fuhr mit dem Panoramawagen der Rhätischen Bahn die Berninastrecke ins Puschlav, bis hinunter nach Tirano. Zuerst gelangte ich über die Albulastrecke ins Engadin, das im leuchtenden Grün der Lärchen lag. Später funkelte der Moteratschgletscher im Licht der nachmittäglichen Sonne. In Tirano, wo ich übernachtete, bummelte ich durch die Stadt, schlenderte am Schloss der Salis vorbei und machte einen Sprung in die Geschichte des Veltlins. Auf der Piazza Cavour liess ich mir einen Zigeunerspiess bringen und fühlte mich wohl. Bei einem Espresso las ich dann in einer italienischen Zeitung und realisierte einmal mehr, wie turbulent es in Berlusconis Reich zu- und hergeht.

Am andern Tag fuhr ich zurück. Es war eine 1. August-Fahrt der besonderen Art. Überall hingen Fahnen. Das Schweizerkreuz leuchtete kräftiger als die Geranien an den Bündnerhäusern. In Disentis verbrachte ich eine weitere Nacht, beschloss an die Feier zu gehen, doch der Wetterbericht verhiess nichts Gutes. Am Tag darauf plante ich, über die Oberalp nach Flüelen und mit der Gallia nach Luzern zu fahren. Es war kein Reisewetter mehr, zudem sollte mir eine recht ärgerliche Begegnung den Tag verderben, aber davon konnte ich ja noch nichts wissen.

Ich durfte im Zug sitzen bleiben, als dieser noch rangiert wurde. Er fuhr in den Tunnel, stand dort eine Weile, und hielt dann auf Perron 3. Jetzt traten verschiedene Fahrgäste ins Abteil. Ein Ehepaar liess sich schräg vis-à-vis von mir nieder. Der Mann schaute sich um, rümpfte die Nase und sagte zu seiner Frau: «Da stinkt es! Da riecht es nach Zigarettenrauch!» Mit bösem Blick schaute er mich an und sagte dann unüberhörbar, dazu mit einer Geste: «Das kommt von denen da drüben.» Er meinte mich und die Frau, ganz in Weiss gekleidet, mir gegenüber. Eine ausländische Touristin. Ich fuhr ihn an, wie es sonst nicht meine Art ist. Was er mir denn unterstelle? Ich sei Nichtraucher. Hätte die Touristin alles verstanden, wäre sie wohl etwas gar perplex gewesen. Nach einer Weile vernahm ich ein Sorry. Ich schwieg. Seine Frau tadelte flüsternd ihren Mann, soviel habe ich noch mitbekommen. Irgendwann beruhigte ich mich wieder, mit Blick in die Berge.

Ich bin ein Nichtraucher. Ich habe früher jeweils am Stammtisch einen Kielstumpen geraucht und an Banketten gern eine Zigarre, mit der grünen Bauchbinde, die den Hinweis gibt, dass es eine schwarze sei. Wenn mich dann ein Konservativer versuchte zu necken, antworte ich jeweils: «Ich rauche einen schwarzen Stumpen, damit wieder einer weniger ist.» Da war ich noch Parteipolitiker.

Fehlurteile und falsche Vorstellungen entstehen immer dann, wenn Fakten nicht geprüft werden und keine genaue Recherche vorangegangen ist. In einem Interview über die Heimatmythen und die schweizerische Identität behauptete ein bekannter Schweizerpolitiker, dessen Namen hier nichts zur Sache tut: «Der Bergier-Bericht ist schlicht falsch. Er profitiert davon, dass ihn niemand liest, weil er so dick ist.» Der Bericht sei verfasst worden, um die Schweiz bei den Leuten schlechtzureden. Wie aber sollten Historiker, die ihre Aussagen auf Fakten stützen, eine Grundlage liefern, damit man die Schweiz schlechtmachen kann? Die Erkenntnisse des Bergier-Berichts zur Rolle der Schweiz während des Zeiten Weltkriegs leisten einen wichtigen und seriösen Beitrag zur Erinnerungskultur unseres Landes.

Diejenigen Länder, die nach dem Zweiten Weltkrieg der Pflicht nicht nachgekommen sind, die Vergangenheit aufzuarbeiten, leben mit einer Lebenslüge weiter. Österreichs Politiker haben nach dem Krieg zum Beispiel lange versucht, glauben zu machen, das Land sei Hitlers erstes Opfer gewesen. Die Mittäterschaft wurde verdrängt. Man muss nur wieder einen Dokumentarfilm anschauen, der zeigt, wie Menschenmassen der einmarschierenden deutschen Wehrmacht zujubelten.

In Italien lebt der Mythos weiter, Mussolini sei im Grunde ein guter Politiker gewesen, keineswegs mit Hitler vergleichbar, obwohl auch er verantwortlich war für Millionen Tote. Der Mythos vom kollektiven Widerstand der Italiener wird noch immer propagiert und die dunkle Seite des Mussoliniregimes bagatellisiert. Jedenfalls ist der Duce wieder «salonfähig» geworden.

Der Luzerner Geschichtsprofessor Aram Mattioli hat ein kenntnisreiches Buch über die Folgen verdrängter Geschichtsforschung in Italien geschrieben. «Viva Mussolini! Die Aufwertung des Faschismus im Italien Berlusconis».* Der Historiker weist darin nach, wie Berlusconi mit seinem Daherreden die Verbrechen der Mussolini-Zeit gezielt verharmlost. Mattioli schreibt: «Schliesslich geht es im Krieg der Erinnerungen nicht bloss um die Vergangenheit. Auf dem Schlachtfeld der Geschichte werden aktuelle Richtungsdebatten ausgefochten, die sich um Güter wie nationale Identität, kulturelle Definitionsmacht, Leitwerte, politische Legitimation und neue Mehrheiten drehen.» Die Abwertung des Bergier-Berichts verfolgt ähnliche Ziele.

Bevor man diesen Bericht angreift, sollte man genau hinschauen. Da wird nicht die Schweiz schlecht gemacht, vielmehr wird deutlich, was auch in der Schweiz hätte passieren können, wenn eine gewisse Elite an die Macht gekommen wäre. Mich bringen Menschen in Rage, wenn sie einfach etwas aus der Luft heraus behaupten. Es muss sich gar nicht etwa nur um den vermeintlichen Rauch in einem Zugsabteil handeln, genauso gut kann es auch ein aus der Luft gegriffenes Urteil über den Bergier-Bericht sein. Dass dieser für den namentlich nicht genannten Politiker zu dick ist, leuchtet aber ein.

 

* Aram Mattioli: «Viva Mussolini!» Die Aufwertung des Faschismus im Italien Berlusconis. Zürich 2010.

 

Sind alle Bürgerlichen bürgerlich?

publiziert: 29.07.10

Die Frage, die im Titel meiner Kolumne steckt, sollte wahrscheinlich exakter lauten: «Sind alle, die sich bürgerlich nennen, bürgerlich?» Jene Reisegruppe, die wegen der Aschenwolke über Europa nicht sofort aus Ägypten heimreisen konnte und sich mit der Aufforderung «Leuenberger, hol uns nach Hause!» oder ähnlich vernehmen und abbilden liess, kann ich nicht zu den Bürgerlichen zählen. Weshalb, werde ich später begründen.

Der Begriff Bürgerlichkeit wurde in der Vergangenheit immer wieder diskutiert. So stiess ich kürzlich auf einen geharnischten Artikel in der damaligen LNN vom18. November 1995 aus der Feder von Alfons Müller-Marzohl, dem früheren Nationalrat. Die Nationalrätinnen Judith Stamm und Rosmarie Dormann waren an einer Delegiertenversammlung der CVP angegriffen worden: «Wir vermissen von den beiden Frauen eine Politik im bürgerlichen Sinn und Geiste», wurden sie kritisiert. Alfons Müller-Marzohl verteidigte die Politikerinnen und führte unter anderem aus, bürgerlich sei ein gefährlicher Begriff. Er sei unscharf, schwammig und eigne sich trefflich für politische Manipulationen. Er selber könne niemals bürgerlich sein, da sich die Vertreter der damaligen Auto-Partei auch bürgerlich nennen dürften.

Die Begriffe, mit denen man die politischen Lager von einander abzugrenzen versucht, sind immer schwammig: Sowohl die Schemata rechts/links, wie auch liberal/konservativ und eben bürgerlich/sozialistisch bilden grobe Zuordnungen, keineswegs starre Kategorien. Ein echter Liberaler verhält sich in vielen Bereichen konservativ, ein Grüner wiederum agiert auch durchaus bürgerlich. Warum sollte ein Konservativer nicht eine grüne Weste tragen dürfen oder ein Freisinniger einen roten Fleck auf dem Gilet haben? Darf ein Sozialdemokrat nicht auch leicht blau sein? Allerdings, würde ein früherer Kollege nun sagen, sei Blau keine Farbe, sondern ein Zustand.

Alfons Müller-Marzohl stellte vor fünfzehn Jahren zu Recht fest, dass der Begriff Bürgerlichkeit oft grobmaschig verwendet werde. Viele nennen sich bürgerlich, die es im Grund gar nicht sind, wie die inzwischen fast verschwundene Partei, die sich nur auf das Auto fokussiert hat. Seit jeher wurde Bürgersinn mit sozialer Verantwortung und Bereitschaft zum Engagement verknüpft, was gewisse Politiker völlig ausklammern, die für sich zwar beanspruchen, bürgerlich zu sein.

Der Philosoph Odo Marquard* schreibt in einem Essay: «In unserer gegenwärtigen Welt steht es nicht deswegen schlimm, weil es zu viel, sondern deswegen, weil es zu wenig bürgerliche Gesellschaft gibt; denn problematisch ist in unserer Gegenwartswelt nicht die Bürgerlichkeit, sondern die Verweigerung der Bürgerlichkeit …» Diese Aussage lässt aufhorchen und zwingt einen zu fragen, was man denn unter Bürgerlichkeit verstehen soll?

Ich habe zu Beginn meiner Kolumne jenen Ägyptenreisenden, deren Rückflug mehrmals abgesagt worden ist und die deshalb den Staat um Hilfe gerufen haben, die bürgerliche Gesinnung abgesprochen. (Allerdings war nie ganz klar, ob dieser Aufruf an Bundesrat Leugenberger als Witz oder eher als Boulevard Posse abzutun sei.) War der Aufruf aber ernstgemeint, dann hat es den Schweizer Touristen zünftig an Bürgersinn gemangelt. Da gibt es doch noch die Selbstverantwortung. Der Staat ist nicht dazu da, alle individuellen und gesellschaftlichen Probleme des Zusammenlebens zu lösen. Er ist kein Grossverteiler, und die Politiker sind nicht Sortimentsleiter, die dafür verantwortlich sind, dass die Regale stets aufgefüllt werden.

Im Slogan «Mehr Freiheit, weniger Staat» wurde der Begriff Verantwortung heraus gebrochen. Seit Jahren existiert nur die Verkürzung. Aus der Eigenverantwortung kann niemand entlassen werden. Verantwortung tragen nach dem Mass des Könnens, ist für die Bürgerlichkeit zentral. Freiheit ist kein Gegenbegriff zum Staat. Es ist die staatliche Rechtsordnung, die unsere Freiheit garantiert und ihren Missbrauch ahndet. Allerdings hat in den letzten Jahren ein Gesinnungswandel stattgefunden: Der Begriff Staat wurde immer wieder abgewertet. Gewisse Kreise meinten voreilig, daraus lasse sich der Schluss ziehen, dass alles erlaubt sei, wenn es nur Gewinn bringt. Die Finanzmarktkrise hat deutlich gemacht, wie wichtig der Staat als Klammer für die Gesellschaft ist.

Freiheit und Staat sind also keine Gegensätze. Aber sowohl viel Staat als auch zu viel Freiheit führen zu einer unbürgerlichen Haltung. Wer zu viel Staat fordert, überträgt die Verantwortung auf das Gemeinwesen. Er macht ihn zu einer Art Heilsagentur für die Lösung unserer Probleme. Wer allein die Markt- und die gesellschaftlich Freiheit preist, vernachlässigt die solidarische Verantwortung. Bürgerliche Politik versucht, Staat und Freiheit in eine Gleichgewichtslage zu bringen. Sie ist besorgt, dass das labile Gleichgewicht nicht kippt.

Gerät eine Gesellschaft aus dem Gleichgewicht, kann sowohl das politische Wollen als auch das Wirken der führenden Kräfte nichts mehr ausrichten. In diesen Wochen lässt sich eine solche Entwicklung an der Situation Griechenlands verfolgen. Die griechische Politik hat ihre Handlungsfreiheit verloren, weil die führenden Kreise, Politiker und Wirtschaftsführer, den Staat in den Bankrott schlittern und verlottern liessen und dem Volk lange suggerierten, er werde es schon richten. Nun sind die Griechen vom EU-Notkredit und vom internationalen Währungsfond abhängig und nicht mehr frei, ihr eigenes Schicksal zu bestimmen. Sie fühlen sich gedemütigt.

 

* Odo Marquard: Zukunft braucht Herkunft. Philosophische Essays. Aus: Apologie der Bürgerlichkeit. S. 247ff., Philipp Reclam 2003

 

erschienen in: Neue Luzerner Zeitung

 

Warum lassen wir uns von Fussball begeistern?

publiziert: 02.07.10

Warum habe ich wieder so viele WM-Spiele verfolgt, sogar solche, bei denen ich eigentlich nur noch auf den Schlusspfiff wartete? Nun sitze ich da, immer noch mit viereckigen Augen, und suche nach stichhaltigen Gründen, weshalb ich den Live-Übertragungen nicht widerstehen konnte, hockte sogar bei schönstem Wetter vor dem Kasten, obwohl ich der Gesundheit zuliebe gescheiter Wanderungen unternommen hätte. Doch auf eine Warum-Frage gibt es selten eine befriedigende Antwort.

Ich wurde gefragt, woher das denn komme, dass die Fussballbegeisterung alle Schichten erfasse, ja sogar Professoren und Geistliche Herren. Ich argumentierte dann recht allgemein, wie: Fussball bietet Spannung. Wer das Spiel liest, versteht die Taktik des Trainers. Fussball weckt Emotionen. Man kann über die Schiedsrichter schimpfen, die Hände verwerfen. Es ist doch eine Augenweide, wie etwa die Spanier oder Argentinier mit dem Ball jonglieren. Jedes Spiel bietet anschliessend Gesprächsstoff.

Mit diesen Argumenten konnte ich auch den Fussballmuffel, der mir die Frage stellte, nicht überzeugen. So musste ich noch bessere Gründe finden, damit ich auch nach den Gruppenspielen meine verschlafenen Augen rechtfertigen konnte. In der Nacht, nachdem Valon Behrami im Spiel der Schweizer gegen Chile die rote Karte gezeigt bekommen hatte, konnte ich nicht schlafen und fragte mich, was denn der Fussball einer Nation und deren Menschen überhaupt bedeutet. Was bewegt Milliarden Menschen dazu, vor dem Fernseher zu sitzen? Andere Sportarten sind auch spannend, aber sie mobilisieren nicht derart viele Zuschauer.

In einem Artikel las ich vom Auftritt und dem Verhalten der französischen Fussballmannschaft in Südafrika, als sie den Einzug in den Achtelfinal verpasst hatte. «Das ist das neue Bild der Bleus: gespalten, entzaubert, ohne Spielwitz und ganz ohne Grandeur. Und dieses Bild bewegt die Franzosen umso mehr, als es ein nationales Grundgefühl wiedergibt. Frankreich steckt gerade in einer Sinn- und Identitätskrise»*. Aha, dieser Kommentar ist wohl der Schlüssel zu einer befriedigenden Antwort: Fussball spiegelt das Befinden eines Landes und ganz allgemein des menschlichen Verhaltens. Frankreichs Stars hielten dem Staatspräsidenten Nicolas Sarkosy und zugleich der Nation vor, wie es eigentlich um das Land steht.

In den Spielen einer Fussballweltmeisterschaft kommt alles zusammen, was menschliches Dasein umfasst. Ein Spiel gelingt, wenn es Kräfte mobilisiert, die aus zentralen Lebensbereichen gespeist werden. So wird es für einen Moment zum Abbild des Bemühens, mit dem Leben zurechtzukommen, nach Erfolg zu streben, sich durchzusetzen. Gewiss es ist ein Spiel. Der Mensch ist ein homo ludens, ein spielendes Wesen. Somit gönnt man jeder Mannschaft, welche die kreative Ballkunst beherrscht, am Ende den Sieg.

Fussballspielen ist aber auch ein hartes Stück Arbeit. Ohne intensives Training, Disziplin und Leistungswille gibt es keinen Erfolg. Es sind nur wenige, die als Spieler in die erweiterte Nationalmannschaft aufgenommen werden, und am Ende stehen nur elf auf dem Platz. Fussballer demonstrieren, dass mit Talent allein nichts erreicht werden kann.

Zum erfolgreichen Fussball gehört der Kampf. Dem kämpferischen Einsatz lässt sich ablesen, wie sich Menschen verhalten, wenn es um sehr viel geht. Und schauen wir richtig hin, dann erfahren wir, wie der Kampf die Menschen verändert: Sie brüllen sich an und beschimpfen den Gegner. Im WM-Final 2006 hat sich Zinédine Zidane zu jenem Kopfstoss hinreissen lassen, der den italienischen Gegenspieler Marco Materazzi niederstreckte. Dafür kriegte der Franzose die rote Karte. Materazzi hatte vorher Zidane mehrmals beleidigt. Im Kampf um den Ball stecken auch alle die Tricks, wie absichtliche Täuschung des Schiedsrichters mit einer theatralischen Schwalbe und heuchlerisches Händehochhalten bei einem Foul.

Ein weiteres Grundphänomen des Daseins ist die Verbundenheit. Vor dem Anpfiff bilden viele Mannschaften einen Kreis und spornen sich gegenseitig an. Jenen Mannschaften, denen es gelingt, Ausnahmetalente auf das gemeinsame Ziel einzuschwören, sind näher beim Sieg als eine eigensinnige, selbstverliebte Truppe von Stars. Und schliesslich gehört zum menschlichen Leben auch das Ausscheiden. Eine Mannschaft muss mit der Niederlage fertig werden, sozusagen «sterben» können. Verlierer gehen mit gesenktem Haupt vom Platz.

Das Fussballspiel auf höchstem Niveau spiegelt also das menschliche Leben. Darum packt es uns und bewegt emotionell. Während anderthalb Stunden erleben wir Spiel, Arbeit, Kampf, Verbundenheit und Ausscheiden, all das, was jedem Menschen im Lauf seines Lebens widerfährt. Die Moderatoren und Kommentatoren sprechen nicht von ungefähr oft in der Mehrzahl, betonen, dass wir gewonnen, wir verloren haben.

Als die italienische Mannschaft ebenfalls nach den Gruppenspielen ausschied, schimpften die in der Heimat laut: Vergogna! Schande!. Die italienischen Gazetten behaupteten, die Mannschaft habe dem Land den Spiegel vorgehalten und bewiesen, wie Italien längst auf den Weg der Mittelmässigkeit gegangen sei. Die grossen Stars waren auf einmal nur noch i bolliti, die Gesottenen. Alle zusammen taugen gerade noch für einen Bollito misto. Und die Schweizer Mannschaft? Sie war hervorragend in der Verteidigung. Doch sie zeigte wenig Mut und Kreativität im Angriff. Und wie steht es mit unserem Schweizbild?

 

* Oliver Meiler, Marseille: Tages-Anzeiger, Republik der Gangs, 22. Juni 2010.

 

erschienen in: Neue Luzerner Zeitung

 

Zuflucht bei Epikur

publiziert: 19.06.10

Bald werde ich in die Ferien verreisen. Ich werde mich unter Pinien und am Meer erholen, über den feinen Sandstrand gehen und der leichten Welle zuschauen, wie sie eine Schnurlinie in den Sand zieht, die von der nächsten wieder verwischt und neu gezogen wird. Ich werde morgen früh am Strand beobachten, wie Kinder und Frauen Muscheln sammeln. Unter dem Sonnenschirm werde ich lesen, im Gepäck unter anderem, quasi wie ein Amuse-Gueule, Aphorismen von Epikur, mit denen ich mich in den ersten Ferientagen von dem politischen Gezänk daheim erholen will.

Von der Sommersession 2010 haben sich viele Bürgerinnen und Bürger irritiert abgewendet. Und was in den Medien darüber geschrieben wurde, war schon eher schwer zu verdauen. Nieten seien am Regieren, schrieb zynisch eine Wochenzeitung. Man konnte Kommentare lesen, die von Begriffen wie Pirouetten, Spitzkehren, Tollkühnheiten und über destabilisierende Trauerspiele nur so strotzten. Und schon hiess es: Kehrt Max Göldi aus Libyen zurück, wird endgültig abgerechnet.

Während den Verhandlungen über den Staatsvertrag mit den USA in Sachen UBS veranstalteten beide Räte einen Zickzackkurs, ein echtes Wischiwaschi. «Nein, den lausigen Vertrag nehmen wir nicht an.» Dann die Kehrtwende: «Doch aus wirtschaftlichen Gründen stimmen wir ihm zu.» Dann wieder: «Nein, wir lehnen ihn ab, doch halt, unter Bedingungen stimmen wir zu.» Am Abend, als der Vertrag im Nationalrat vorerst keine Mehrheit erhalten hatte, lächelte ein SVP-Nationalrat in die Kamera und meinte: «Ach, das sind halt so die Spiele.» In der NLZ vom 12. Juni sagte der Bankier Konrad Hummler: «Spieltheoretisch funktioniert ein solches Hin und Her nur, wenn das Resultat bereits klar ist.» Er sagte voraus, dass der Vertrag angenommen werde.

Die Beobachter draussen im Land hatten lange geglaubt, unseren Schweizer Politikern sei es durchaus ernst, als sie ihre Vorschläge, aber auch Drohungen den Medien verkündeten, und so werde es bei einem Nein bleiben. Die Session hat unterdessen mit der Zustimmung beider Räte zum UBS-Abkommen geendet, und all diese Pirouetten zuvor haben die Glaubwürdigkeit von Parlamentarierinnen und Parlamentariern noch mehr angekratzt. «Was ist nur los in diesem Bern?»

«Basta, es reicht mir!», dachte ich und suchte nach positiven Schlagzeilen für unser Land. Gottlob, gab es die Fussballweltmeisterschaft in Südafrika. Sepp Blatter, ein Walliser, sprach zur Eröffnung vor der Weltöffentlichkeit. Und dann: «Kleines Land, grosser Sieg» Und: «Stolz ein Eidgenosse zu sein.» Der oft geschmähte ehemalige Bundesrat Josef Deiss, ein Freiburger, wurde als Präsident der Uno-Vollversammlung gewählt. Und unser Land musste sich nicht wie ein gerupftes Huhn vorkommen.

Ich aber begann zu packen. Mit ins Gepäck sollte auch Epikur. Der griechische Philosoph lebte zwischen 341 und 270 v. Chr. Er musste wegen politischen Querelen und Streitigkeit vorerst aus Athen flüchten, konnte später zurückkehren, kaufte sich einen grossen Garten und gab, auf und ab wandelnd, auserwählten Zeitgenossen und Schülern Unterricht. Er lehrte sie jenes Streben zu nutzen, das die Seele zur Ruhe bringt. Auch in Athen gab es lautes Parteiengezänk. So schrieb Epikur einem seiner Freunde, er solle sich nicht der Politik zuwenden: «Der Politiker und Staatslenker hat nichts als Arbeit und Sorge, wenig Ehre, viel Undank und zum Schluss womöglich noch Verfolgung und Tod. Darum wird der Weise sich hüten, sich mit der Regierung eines Staates abzugeben.»

Aber irgendjemand muss ja schliesslich den Staat lenken, auf der Kommandobrücke stehen, sich also opfern, Häme einstecken oder sich gefallen lassen, als Niete bezeichnet zu werden. Dem sich wacker schlagenden Bundesrat geht es ähnlich. Und dennoch wird es wieder bessere Zeiten geben. Wie sie zum Beispiel Altbundesrat Josef Deiss eben erleben darf. Und so wird man Hans Rudolf Merz dereinst ehrenvoll verabschieden und betonen, er habe die Staatsfinanzen ins Lot gebracht.

Sobald es wieder um die Sache geht, wird es ruhiger im Land. Manchmal freilich kehrt die Ruhe erst nach den nationalen Wahlen ein, wenn neue Köpfe mit gesammelten Vorschusslorbeeren an die Arbeit gehen. Die Neuen sollten auf Epikurs Rat hören und sich nicht abhängig machen von all dem Überflüssigen und Schädlichen, was täglich verbreitet wird. Wahrscheinlich zählte schon bei den Griechen die öffentliche Aufmerksamkeit mehr als die Sache.

Wenn ich wie Epikur glaube, es komme darauf an, abzuwägen und zu unterscheiden, was zuträglich oder abträglich ist, um alles möglichst richtig zu beurteilen, so wird man mich einen Schöngeist nennen, mir unterstellen, mir fehle es an Realitätssinn. Dennoch gebe ich den Glauben nicht auf, dass Politik im Grunde nur weiter führt, falls besonnene Leute differenzieren und die Sache in den Vordergrund stellen.

Epikur ist eine Art Viatikum, eine Wegzehrung, Ich bin dem Rat des Philosophen gefolgt, so oft ich nur konnte, weil er mich noch etwas anderes gelehrt hat: «Es ist nicht möglich, lustvoll zu leben, ohne das man vernunftgemäss, schön und gerecht lebt, noch vernunftgemäss, schön und gerecht ohne lustvoll zu leben.» Das ist mein Ferienmotto, und deshalb lasse ich mir keine Schweizerzeitungen ans Meer nachschicken.

 

erschienen in: Neue Luzerner Zeitung

 

Mir hat die Pracht des Kirschbaums gefehlt

publiziert: 20.05.10

Der frühere Abt Georg Holzherr von Einsiedeln sagte jeweils an Auffahrt: «Die Zuger kommen, es regnet!» Auch wenn es nicht ständig regnete: Einen Schöpflöffel voll Wasser hatte der Himmel am Auffahrtstag immer vorgesehen. Setzte zu Beginn des Wonnemonats eine schöne Wetterperiode ein und breitete sich Lebenslust und Freude aus, sagte Vater warnend: «Wartet nur auf Pankraz, Bonifaz und die kalte Sophie, die werden sich schon noch melden!» In diesem Jahr fielen die Eisheiligen auf das Auffahrtwochenende. Kein Wunder, dass es kalt und regnerisch war. Wäre es nur von Mamertus bis zur kalten Sophie regnerisch gewesen, hätten mich die vier Heiligen nicht enttäuscht. Sie hätten einfach ihrem Namen Ehre gemacht. Und was in Volkes Mund so geläufig ist, findet man gerne bestätigt. Nun aber dauert das schlechte Wetter an und verdirbt mir die gute Laune. Mir fehlt der Mai, die Gefühlsseite leidet unter einem Defizit.

Der diesjährige Mai hat mir eine der grössten Freuden im Lauf der Jahreszeiten verdorben, und deshalb ist meine Gefühlsbilanz negativ. Sie wird es voraussichtlich so lange bleiben, bis sie durch möglichst lange Schönwetterperioden ausgeglichen ist. Was mir aber 2010 nicht mehr zurückgegeben werden kann, ist der blühende Kirschbaum vor dem Fenster meines Arbeitsplatzes, wo ich meine Kolumnen schreibe. Wie oft habe ich ihn doch schon im üppigsten Blütenrausch bewundert, ja sogar besungen! Öffnete ich dann das Fenster, konnte ich sogar das Bienensummen vernehmen und beobachten, wie sie eifrig von Blüte zu Blüte flogen.

Auch dieses Jahr schien ich wieder in den Genuss des blühenden Baumes zu kommen. Die Knospen trieben, und als unten, um den Zugersee, die Kirschbäume schon fast verblüht waren, kam der meine hier auf über siebenhundert Metern Höhe, erst etwa vierzehn Tage später, wie jedes Jahr, an die Reihe. Schon bald würde er im schönsten Kleid dastehen, als festliches Zeichen, dass wir in der warmen Jahreszeit angekommen sind. Aber dann setzte die Regenperiode ein. Sie störte mich vorerst nicht. Ich sagte zu jedem Bekannten, den ich traf: «Es ist gut, dass es regnet!» Und jeder nickte und ergänzte: «Der Wind hat die Böden ausgetrocknet.» Doch nun, nach Mitte Mai, hadere ich mit dem schlechten Wetter. Es hat mir den Zauber der Blütenpracht vorenthalten, den ich jedes Jahr geniesse. Der Kirschbaum blühte zwar, aber ohne Sonnenlicht gelang es ihm nicht zu strahlen. So blieb sein köstliches Weiss matt und gedämpft, und je länger es regnete, desto mehr kam es mir wie ein trauriges Grau vor.

Auf der Suche nach besserem Wetter flüchtete ich in den Süden. Am Tag der kalten Sophie trat ich in eine Wallfahrtskirche, wo eine Hochzeit stattfand. Vorne im Chor kniete das Paar. Gerade war es so weit, dass sich die Brauleute ewige Liebe schworen und nickten, als der Priester sagte, was im Himmel beschlossen werde, könne der Mensch nicht trennen. Die Braut trug ein weisses Kleid, das matt wirkte. Es schimmerte in der dunklen Kirche beinahe gräulich. Erst als das Paar an mir vorbei aus der Kirche schritt, sah ich, wie kirschbaumblütenweiss es doch war.

Die schöne Braut erheiterte meine in Kälte und Regen abgetauchte Seele und weckte die guten Kräfte meines Gemüts, denn sie lächelte so charmant, dass mein zugekniffener Mund aufsprang und ihr gerne etwas Nettes gesagt hätte. Der Bräutigam strich ein paarmal verlegen seinen schwarzen Schnauz und liess sich mit seiner angetrauten Frau, wie es in Italien Brauch ist, im Vorzeichen der Kirche mit Reiskörnern bewerfen. Seine Angetraute würde wohl fruchtbar sein. Er war zuversichtlich, so machte es wenigstens den Eindruck. Alle anderen, die aus der Kirche traten, spannten sofort den Schirm auf, was die Stimmung aber nicht verdarb. Für mich war dies ein aufheiterndes Intermezzo, und als später der Nordföhn die Wolken aufriss, konnte ich sogar auf der Piazza einen weissen Cinzano geniessen. Kurz darauf leckte die Kälte aber wieder an meiner Haut.

Der regnerische Mai schlägt mir also aufs Gemüt. Und ich gestehe nochmals freimütig, dass meine Gefühlbilanz negativ ist. Wäre mein Kirschbaum nur einen einzigen Tag oder wenigstens einige Stunden im vollen Licht der Sonne gestanden, hätte ich das feierliche Bild, das er jeweils abgibt, als Erinnerung durch die kommenden Tage getragen. Nun muss ich mir mit Ersatzbildern aus früheren Jahren behelfen, damit sein trauriges Blattgrün, voll hängender Regentropfen verschwindet.

Was soll ich tun, mit meinem Wetterkummer? Eines der probaten Trostmittel ist die Lektüre eines Buches. Ich habe gerade mit Arthur Krasilnikoff «Das Augen des Wals» begonnen, dessen dichte poetische Sprache mich beglückt. «Lesen lernen ist eines der grössten Erlebnisse, die es gibt. Astur entdeckt dabei ständig von neuem, dass die kleinen Zeichen Wörter bedeuten, die man laut aussprechen kann. Sobald man fähig ist, seinen eigenen Namen zu buchstabieren, lebt man mit einem ganz anderen Bild von der Welt …»* Astur ist ein Junge, der in den 1940er Jahren mit seiner Familie auf Färöer lebte, bis sie zurück nach Dänemark gingen. Was für ihn einem Kulturschock gleichkam, weil er seine Heimat verlor.

Zu meiner Heimat zählt der Kirschbaum vis-à-vis, und dazu gehört die Fähigkeit, über ihn zu schreiben. Habe ich einmal meinen Kummer beklagt, geht es mir wieder besser, auch wenn ich das Fehlende jetzt nicht herbeireden kann. Mir fehlt der Mai, der mir jedes Jahr einen blühenden Kirschbaum vor das Fenster zaubert, und so hoffe ich, dass ich nächstes Jahr nicht wieder zu jammern brauche. Immerhin, an Pfingsten soll es wärmer sein.

 

* Arthur Krasilnikoff: Das Auge des Wals. Verlag Martin Wallimann, 2010.

 

erschienen in: Neue Luzerner Zeitung

 

Ein Umweg war nicht vorgesehen

publiziert: 30.04.10

Mitte April war ich eingeladen, an der Buchtaufe von «Anna Gelante» in Tallinn teilzunehmen. Mein kleiner Roman, 2002 erschienen, ist unterdessen ins Estnische übersetzt worden, ausgerechnet in eine der schwierigsten europäischen Sprachen. Anschliessend reiste ich nach Helsinki zu einer weiteren Lesung und freute mich auf Rovaniemi, hoch oben in Lappland, wo ich mit dem Botschaftsrat Beat Bürgi an der Universität auftreten sollte. Alles verlief nach Plan, bis mir am Vorabend mitgeteilt wurde, nicht nur unser Flug sei gestrichen worden, sondern alle Flugzeuge stünden am Boden. Der isländische Vulkan mit dem klingenden Namen wollte es so.

Ich sass also fest. Und es wurde mir bald einmal klar, dass ich nur auf dem Seeweg, ganz bestimmt nicht direkt, wieder in die Schweiz gelangen würde. Ich erinnerte mich an jenen Satz von Hans Blumenberg, den ich immer wieder gerne zitiere: «Nur wenn wir Umwege einschlagen, können wir existieren.» Wie sollte ich zurück, in die Schweiz gelangen? Warten, hockend oder stehend? Nein, das war nicht mein Ding. Ganz bestimmt nicht so wie jener Mann, der in der Lobby des Hotels auf einem Stuhl schlief und manchmal laut schnarchte.

Es blieben mir also einige freie Tage, und ich begann mich auf kreative Umwege zu begeben: Ich entdeckte sogar ein ausgezeichnetes Restaurant, in dem Jean Sibelius, der berühmte finnische Komponist, jeweils getafelt hatte. Später trank ich im Café «Fazer», wo feiner Schokoladenduft das Lokal durchzog und gabelte mir zartes Gebäck auf die Zunge. Dieses finnische Unternehmen war von Karl Fazer, einem ausgewanderten Thurgauer Chocolatier und Bäcker, vor Generationen gegründet worden, und es habe in ganz Skandinavien einen ähnlich guten Ruf wie die Firma Sprüngli bei uns, liess ich mir sagen.

Schauen, Eindrücke sammeln, ohne gewisse Details aus einem «Dumont» zu entnehmen, die Stadt Helsinki einfach auf mich wirken lassen, wieder einmal ganz Flaneur sein, ein paar Eindrücke im Tagebuch festhalten, dem Meer entlang spazieren und mich von der Geschäftigkeit des Treibens nicht beirren lassen, am Abend sogar ins Opernhaus, wo die «Die lustige Witwe» von Franz Lehar auf Finnisch gegeben wurde, das war doch gut. Ich verstand kein Wort, ausser etwa Namen wie Vilja oder Maxim. Das Vilja-Lied hatte ich in jungen Jahren gesungen und mich dazu am Klavier begleitet. Da purzelten einige Verse aus dem Gedächtnis und ich sollte etwas später auf dem Weg ins Hotel summen: «Vilja, oh Vilja, du Waldmädelein…» und: «Ach, das Studium der Weiber ist schwer, nimmt uns Männer verteufelt auch her…» Ich sang etwa gleich lückenhaft, wie wenn von mir die zweite Strophe des Schweizerpsalms verlangt worden wäre. Auf der Bühne wurde unterdessen getanzt, mit Gläsern angestossen und geflirtet. Ein bisschen à la Finnisch, vermutete ich, nicht so süss wie bei uns oder in Österreich.

Am nächsten Tag fuhr ich nach Turku, und am übernächsten besuchte ich das moderne Kunstmuseum Kiasma in der Hauptstadt. Ich schlenderte leicht irritiert durch die Säle, bis auf einmal auf einer Leinwand ein Helikopter hochstieg, und ich mich in die Schweiz zurückversetzt glaubte. Richtig, bei näherem Zuschauen kreiste er über Grindelwald und näherte sich dem Agassizhorn, das seinen Namen von Jean Louis Rodolphe Agazziz erhalten hat, einem berühmten Glaziologen, 1807 in Môtier geboren, und der 1846 in die USA auswanderte. In der Fremde trat er allerdings als arger Rassist auf. Diesem Agassiz galt das Video. Gedreht hat es die schweizerisch-haitische Künstlerin Sasha Huber. Mit ihrer Installation wollte die Künstlerin bewirken, dass das fast viertausend Meter hohe Horn umgetauft werde. Künftig sollte es Rentyhorn heissen, zum Andenken an Renty, einen afrikanischen Sklaven. Nach der Abschaffung der Sklaverei wurde Agassiz zu einem Vordenker der Apartheid. Das Gesuch der Aktionskünstlerin wurde aber von Grindelwald heftig abgelehnt. Ich lächelte als ich das gemeindliche Verdikt im Saal las. Unverhofft war ich mitten in der helvetischen Bürokratie.

Am Sonntagnachmittag bestieg ich die Fähre nach Travemünde. Kurz nach Abfahrt war die See unruhig. Die Wellen warfen Schaumkronen, die dann in der gewaltigen Wassermasse zerflossen. Dann aber fuhr die Fähre in ruhigem Gewässer. Auch ich wurde ruhiger und las in Theodor Storms «Der Schimmelreiter». Als das Schiff nach der 27-stündigen Fahrt endlich anlegte, stand ich verloren in der Masse der Wartenden, die auch nicht wussten, wie es weitergehen sollte. Wie würde ich selber weiter kommen?

Nach einer guten Stunde hatte sich der Knäuel entwirrt, und ich sass bereits im Zug nach Lübeck. Dort kam ich um halb elf an. Fand ein Hotelzimmer in der Nähe des Bahnhofs, stellte das Gepäck ab, eilte anschliessend zum Taxistand und fragte nach einem Restaurant, wo ich spät noch etwas Warmes essen konnte. Bald sass ich in der historischen Gaststätte «Schiffergesellschaf zu Lübeck» und war verblüfft. Der hohe Raum, dessen Diele von schwarzen, schweren Balken getragen wurde, kam mir wie ein mächtiges Chorgestühl vor, mit all den reichen Schnitzereien und mit Wappen.

Ich war also im Lübeck der Buddenbroocks von Thomas Mann. Am nächsten Morgen blieben mir nur gerade zwei Stunden für einen ersten Augenschein. Ich kaufte im «Mann-Museum» Thomas Manns lange Erzählung «Mario und der Zauberer» und begann unterwegs nach Basel zu lesen. Dabei stiess ich auf die Stelle: «Wahrscheinlich kann man vom Nichtwollen seelisch nicht leben…» Ja, wie wollte ich nun endlich nach Hause!

 

erschienen in: Neue Luzerner Zeitung

 

Die feine Stäubung des Schmetterlings

publiziert: 09.04.10

Das Leben ist immer wieder darauf ausgerichtet, uns eine Begegnung mit einem Menschen zu ermöglichen, den wir bisher nicht gekannt haben. Mir ist es vor kurzem so ergangen. Da traf ich einen Menschen und spürte rasch, dass es sich um eine Persönlichkeit handelte. Wenn ich ihm verraten hätte, was mir spontan durch den Kopf gegangen war, dann hätte er bestimmt abgewinkt und erwidert: «Oh, ich setze mich nicht aufs hohe Ross!» Ob jemand als Persönlichkeit gilt und als solche wahrgenommen wird, kann niemand selber beurteilen. Der Mensch begegnet Mitmenschen, und sie widerspiegeln, was einer ist.

Dieser X, den ich kennen gelernt habe, verfügt über ein feines Gespür für Menschen, er hat einen guten Geschmack und achtet vor allem auf seine Sprache. Ab und zu geniesst er von einem bestimmten Gipfel die Aussicht, lässt den Blick nach allen Seiten schweifen und weiss, dass sich hinter dem Horizont ein weiterer verbirgt. Neben seinem anspruchsvollen Beruf, liest er gern ein Buch. Bücher, sagt er, sind ein Fenster zur Welt.

Im Laufe unseres Gesprächs kam er auf einen guten Kollegen zu sprechen. Dieser sei früher ein offener und interessanter Mann gewesen, sie hätten oft über Literatur oder die Sinnfragen des Lebens diskutiert. Dann habe er sich zurückgezogen, erfolgreich verschiedene Geldgeschäfte getätigt und sei ein reicher Mann geworden. Und siehe da, niemand werde sich wundern. Sein Wesen habe sich verändert. Heute könne man mit ihm nur noch über Anlagen sprechen und darüber, was man mit dem Geld denn alles machen könne: Reisen, gut essen und immer wieder die Börsenkurse verfolgen. Nach jeder Reise erzähle er von ausgefallenen Speisekarten, luxuriösen Hotelzimmern oder dem Besuch eines Nachtlokals, das gerade «in» sei. Aus dem vielseitigen, neugierigen Menschen sei ein eindimensionaler Mann geworden, der dem Mammon huldigte. «Sone ghüslete und glinierte, isch er worde», schloss mein Vis-à-vis.

Der Dialektsatz erinnert mich an die Schiefertafel, auf der ich als Schüler meine ersten Buchstaben auf Linien und in Häuschen kritzelte. Dabei ging mir das Knirschen des Griffels durch Mark und Bein. Auf der Tafel entstanden die ersten Wörter und ich ergötzte mich an ihnen. Allmählich sammelten sie sich zu richtigen Sätzen. Später begegnete ich den Wörtern wieder in den Gedichten. Und noch etwas später entdeckte ich, dass sich über meine Welt ein unermesslicher Wörterhimmel spannt.

Nachdem ich etwa mal an die Geschichte des Mannes dachte, die mir mein neuer Bekannter erzählt hatte, erinnerte ich mich an eine Stelle in Robert Walsers Gedicht mit dem Titel: «Was fiel mir ein?» Der Dichter fragt sich: «Wann ging die feine Stäubung dem Schmetterling in mir verloren? Wann fing es an, wann, wo begann, was mich entfärbte …?» Das sind Fragen, die sich jeder Mensch irgendwann einmal stellt, auch wenn er kaum imstande sein wird, sie so poetisch zu formulieren. Wann hatte sich das Lebens jenes Mannes, von dem ich weiter oben schrieb, zu entfalten begonnen, wann hatte es sich verengt? Hatte er den Augenblick nicht erfasst, als er anfing, seinen Blick eingleisig auf seine eigenen Interessen zu richten? Wann hatte er vergessen, dass sein Wesen eigentlich auf eine offene Person angelegt war, nicht bloss auf eine spekulierende und funktionierende?

Auch wenn das Leben den Menschen oft genug zwingt zu funktionieren, bleibt ihm doch Zeit, zum Schmetterling, der in ihm steckt, Sorge zu tragen, und sich gegen die Einseitigkeit und Sturheit zu wehren und jene Seelenteile zu pflegen, die Robert Walser mit dem Motiv des Sommervogels aufnimmt. Der sensible Dichter führte ein unstetes Leben voller Sehnsucht. Er besass eine wunderbare wortschöpferische Einbildungskraft. Dabei schaute er den Menschen aufs Maul. Nicht alles, was er wahrnahm, gefiel ihm.

Robert Walsers Frage zwingt einen, den Blick nach innen, auf die Seele, zu richten. Sie darf nicht abstumpfen. Der erwachsene Mensch möchte vielmehr zurückgewinnen, was er als Kind in sich erahnte. Es hatte die Welt in ihrer Farbenpracht betrachtet, und es schaute dem spielenden Dahinschaukeln der Schmetterlinge zu. Aber es entdeckte auch, dass es den Kohlweissling gab. Seine Raupe ist zwar ein grosser Schädling in der Landwirtschaft. Und doch ermahnten die Eltern das Kind, den Schmetterling nicht mit den Händen zu fangen. Sonst werde er nicht mehr fliegen können und müsse verhungern, wenn die Stäubung, die winzigkleinen Schuppen verloren gehen. Man sollte ihn nur zärtlich auf dem Arm auf- und absteigen lassen, so ähnlich werde auch das Leben auf das Kind zukommen.

Walsers Bild steht für die behutsame Pflege jener Werte, die das Leben lebenswert machen. Dazu gehört der achtsame Umgang mit den Menschen, mit der Schöpfung, der Natur und der Kultur. Ging das Kind nicht früher auf Trampelpfaden, erst recht am liebsten auf Umwegen und wich dabei dem geraden Weg aus? Sah es da nicht Blumen am Weg? Lag es später nicht in der Sonne am Waldrand und hörte den Vögeln zu? Damals hatte es noch die Aussicht, dass es vieles erleben, manches entdecken und sehen würde. Es würde werden. Es stand fragend vor und mitten in den Dingen. Noch wurde es nicht an dem gemessen, was es hatte, sondern an dem inneren Reichtum, an seinem Mutterwitz und an den vielfältigen Interessen. Es hatte ein Herzenskonto, das sich täglich vermehrte. Eine feine Stäubung lag auf seinen Flügeln. Es konnte durch die Welt schaukeln und ein Liedchen singen: Farfallina tutto bianca, vola! Vola e non sia stanca! Schmetterling, ganz weiss, flieg! Flieg ohne müde zu werden!

 

erschienen in: Neue Luzerner Zeitung

 

Wenn der Glaube missbraucht wird

publiziert: 13.03.10

Gott verhüllt sich. Die christlichen Theologen sagen zwar, er habe sich in Jesus Christus offenbart. Aber die Frage nach dem Wesen Gottes bleibt weder philosophisch noch theologisch überzeugend beantwortet. Gibt es eine Katastrophe wie das verheerende Erdbeben in Haiti oder Chile, fragen sich viele Menschen: Wo war Gott in jenen Sekunden? Wer ist er denn? Ignatius von Loyola, Begründer des Jesuitenordens, hätte geantwortet: «Deus semper maior», also: «Gott ist immer grösser». Er ist dem menschlichen Denken nicht zugänglich. In der franziskanischen Tradition hingegen gibt es auch das Wort: «Deus semper minor». Gott ist immer kleiner, als man ihn denken kann. Diese beiden Aussagen heben sich gegenseitig auf, sie sind paradox. Etwas kann nicht zugleich unendlich gross und unendlich klein sein. Die paradoxe Gegenüberstellung will besagen, dass das Denken das Absolute nicht erreicht. Niklaus von Kues, der berühmte Gelehrte, Kardinal und Kirchenpolitiker im 15. Jahrhundert, sprach in seinem Spätwerk «Die Jagd nach der Weisheit» vom «wissenden Nichtwissen», von der «docta ignorantia». Es sei unmöglich zu wissen, was demjenigen, das geworden ist, vorausgegangen sei.

Fragt der Mensch nach dem Ursprung des Seienden, stösst er also an die Grenze des Wissens. Er kann nicht sagen, wer die Welt geschaffen hat. Am Anfang mag da ein göttliches Prinzip gestanden haben. Doch dieses Göttliche hat weder Farbe noch Gestalt. Der Mensch kann immer nur sagen, so wie über ihn gedacht wird, ist er nicht. Das Absolute bleibt demnach unergründlich, und darum beginnt bei dieser Erkenntnis das grosse Schweigen, das Staunen, das Gebet oder der Glaube.

Wer die Geschichte der Philosophie und der Theologie studiert, wird erkennen, dass der Mensch schon immer nach dem letzten Geheimnis hinter der Erschaffung der Welt und seiner eigenen Existenz gefragt hat. Beim Betrachten der Schöpfung, der Natur leuchtet ihm so etwas wie das Göttliche auf, aber dieses Licht ist kaum dasjenige eines persönlichen Gottes. Ein persönlicher Gott wäre für den Gang der Geschichte verantwortlich. Man könnte ihm die Gräuel und Katastrophen anlasten. Das Göttliche aber ist nicht belangbar. Es entzieht sich dem Menschen.

Extra ecclesiam salus non est! Ausserhalb der Kirche gibt es kein Heil! Diese Position nahm die katholische Kirche jahrhundertlang ein. Ihre Auffassung wurde jedoch von den anderen christlichen Bekenntnissen nicht geteilt. Zudem glauben auch die Juden und die Mohammedaner an den einen Gott. In mancher Ecke unserer Welt gab es und gibt es grosse Religionsgemeinschaften, die vom Eingottlauben abweichen. Buddhisten und Hindus kennen ihn nicht. In vorchristlicher Zeit glaubten die Menschen an die Macht vieler Götter. Die Griechen verehrten Zeus und andere Gottgestalten, die Ägypter beteten eine Zeit lang den Sonnengott an, die Inkas den zürnenden Gott, dem sie Menschenopfer darbrachten, um ihn versöhnlich zu stimmen.

Gab es für die Menschen, die vor unserer Zeitrechnung lebten, wirklich kein Heil? Hans Küng stellt die Frage, welchen Glauben er wohl bekennen würde, falls er in Indien zur Welt gekommen wäre. Was bei dieser Sachlage erstaunt, ist die Tatsache, dass es trotz unterschiedlicher Glaubensbekenntnisse einen Wettstreit unter den Religionen gibt. Die Religion kann Menschen fanatisieren und zu Gewalttaten aufhetzen. Fanatismus ist ein Übel, ja er artet oft in Wahnsinn aus.

Darum muss der Mensch seine eigene Überzeugung im Blick auf andere Glaubensbekenntnisse relativieren. Er sollte sich hie und da selber beobachten, wie es um seine Toleranz gegenüber anderen Konfessionen steht. Er gibt die feste, dogmatische Position auf, falls er zur Einsicht gelangt, dass seine Religion nur ein Weg ist, sich dem Göttlichen anzunähern. Von diesem Göttlichen wird ihm in Heiligen Schriften und in Mythen erzählt. Das Alte und das Neue Testament, der Koran und die Thora, die Geschichte des Tao, ja sogar die klassischen Sagen des Altertums sind grossartige Erzählungen, die berichten, wie der Mensch nach dem Sinn des Lebens und dem ewig Seienden sucht. Diese grandiosen Erzählungen deuten mit Bildern das Mysterium des Daseins. Die Religionen, die auf Grund dieser Geschichten entstanden sind, betten die Sinnsuche des Menschen in Zeremonien, Rituale und Kulte.

Weist die Religion den Weg, auf dem sich der Mensch dem Göttlichen nähert, dann ist die Suche der Spur, die ein anderer wählt genauso legitim, denn sonst würde Intoleranz die Frucht des Glaubens. Es gilt nämlich: «An ihren Früchten könnt ihr sie erkennen: Erntet man denn Trauben von den Dornen oder Feigen von den Disteln?» (Matthäus 7, 16).

Niemand gibt zu, dass seine Überzeugung eine Frucht ist, aus Samen von Dornen und Disteln gereift. Machtmenschen kümmert es wenig, dass sie die Religion instrumentalisieren. Sie haben sie stets für ihre Zwecke missbraucht. Ruft Muammar Ghadhafi hinter Panzerglas während einer langen Rede zum Heiligen Krieg, zum Jihad gegen die Schweiz auf, dann stellt er die Religion in den Dienst seiner Macht, sät Dornen und Disteln, und hofft darauf, die Saat gehe bald auf. Wird der Glaube missbraucht, entsteht Rechthaberei, oft sogar Feindschaft.

 

erschienen in: Neue Luzerner Zeitung

 

Lehrer Heyd beurteilte Friedrich Schiller

publiziert: 10.02.10

Ein Schulzeugnis dient der Selektion. Reicht es für eine höhere Schule oder sollte man besser einen anderen Weg einschlagen? Das Leben als Ganzes ist Selektion. Immer wieder wird man geprüft, die geleistete Arbeit wird bewertet. Aber das Leben ist viel mehr: es ist Variation, manchmal sogar Mutation, wie Darwin bewiesen hat. Denn das Leben kann sprunghaft verlaufen, das Schulzeugnis entscheidet nicht darüber, ob das Leben erfolgreich, zufrieden, glücklich oder unglücklich sein wird.

Im «Schiller Nationalmuseum» in Marbach sind zwei Zeugnisse in Worten aus dem Jahr 1774, als der fünfzehnjährige Friedrich in Stuttgart zur Schule ging. Lehrer Georg Friedrich Heyd beurteilte den Burschen mit folgenden Worten: «Gaben sind mittelmässig, Aufführung gleichgültig, Fleiss seinen Kräften angemessen. Geschicklichkeit in dem Recht der Natur, der Reichshistorie, denen röm. Alterthümern sind alle gleich mittelmässig.» Ein Glück, dass dieses Zeugnis nicht verloren gegangen ist und uns modernen Menschen Einblick gewährt, wie ein heute völlig vergessener Lehrer ein späteres Genie beurteilt hat.

Neben Heyd bewertete auch der Religionslehrer Carl Friedrich Hartmann die Leistung Schillers: «Urtheilt langsam, aber gut: Das Ingenium zeigt viele Fähigkeiten, das Gedächtnis ist gut; in seinem Studieren ist er bedächtig; der Fleiss willig, und geschäftig.» Hartmann ahnte, dass der junge Schiller gute Anlagen besass. Aber auch er konnte nicht ahnen, dass Schiller später «Die Räuber», den «Wallenstein» und den «Wilhelm Tell» schreiben, und er konnte nicht wissen, dass sein ehemaliger Schüler der Dichter der deutschen Nation werden würde. Das Ingenium entfaltete sich erst später, nicht in der Schule. Vielleicht wollte der Fünfzehnjährige möglichst nicht auffallen.

Ein Lehrer ahnt oft nicht, was eigentlich in einer Schülerin oder einem Schüler vorgeht. Vor Jahren stellte ich meinen Studentinnen im Pädagogikunterricht einmal folgende Aufgabe: «Stellt euch den kleinen Albert in eurer künftigen Klasse vor, der hinten in einer Bank sitzt. Er träumt und schaut den Wolken nach, ist ganz einfach zerstreut. Ihr ärgert euch über ihn. Anschliessend gebt ihr ihm eine schlechte Note in ‹Fleiss› und ‹Betragen›. Jahre später bringen alle Zeitungen unzählige Artikel und Beiträge über ihn. Überall heisst es, er sei ein Genie, er habe die Relativitätstheorie erfunden. Was meint ihr, was könnte wohl die Ursache seiner ständigen Unaufmerksamkeit gewesen sein?»

Ein Urteil ist relativ und manchmal überhaupt nicht angemessen. Da sitzen wir zum Beispiel in einem Zug. Parallel zu unserem Zug fährt ein zweiter gleich schnell auf einem anderen Geleise. Wir meinen, beide Züge würden still stehen. Wenn wir auf die andere des Abteils schauen, realisieren wir, dass unser Zug bereits mit hoher Geschwindigkeit dahinbraust.

Die Welt ist immer nur eine interpretierbare. Die Realität hingegen wird unterschiedlich wahrgenommen. Wir sind darauf angewiesen, sie zu interpretieren. Der Lehrer, der seinerzeit überzeugt gewesen sein könnte, Albert Einstein sei ein fauler Schüler, interpretierte dessen Verhalten falsch. Der Knabe war wohl viel stärker vom Ideenhimmel der Mathematik und den physikalischen Fragen fasziniert, als von denen, die in der Schule gestellt wurden.

Die Frage, wie es mit der Realitätswahrnehmung steht, beantwortet uns die Interpretationsphilosophie. Die Naturgesetze, sagt sie, stecken nicht in der Natur, sondern sie sind grundsätzlich Verstandeskonstruktionen. Die Gesetze des Staates, an die wir uns zu halten haben, sind Verallgemeinerungen von Erfahrungen und zugleich Vereinfachungen. Die politischen Sachverhalte unterliegen der Interpretation. Und wie erst verhält es sich mit Glaubenswahrheiten?

Die Zeugnisse sind also immer Interpretationen. Sie versuchen das Verhalten und die Leistung von Schülerinnen und Schülern zu interpretieren. Dabei können Lehrkräften durchaus falsche Einschätzungen passieren. Doch wenn das Zeugnis dem Kind gerecht zu werden versucht, wenn der Lehrer dem Schüler mit Respekt und Achtung begegnet, auch wenn die Leistungen alles andere als befriedigend sind, dann kann das Zeugnis durchaus eine Hilfe für das spätere Leben sein. Selbst Eltern können die eigenen Kinder nicht genau einschätzen, vor allem wissen sie nur wenig davon, wie sich ihre Sprösslinge ausserhalb der Familie verhalten und schon gar nicht, was einmal aus ihnen werden wird. Somit sind Noten bloss Zwischenberichte, relativ und eine Gesprächsgrundlage.

Nach Lehrer Heyds Beurteilung hat Friedrich Schiller nicht all seine Kräfte angestrengt, und diese seien erst noch mittelmässig. Mit welch gewaltiger Willenskraft schuf Schiller aber seine Werke, was rang er in den letzten Lebensjahren seinem kranken Körper ab! Ob gut oder schlecht benotet, die Anlage zu besonderen Fähigkeiten wird sich im Leben früher oder später entfalten. Es gibt ausserordentlich kluge und erfolgreichen Geschäftsleute und Handwerker, Bauern und Bankiers, Diplomaten und Rechtsanwälte, Köche und Sammler von Alteisenwaren, Ärzte und Krankenschwestern, die als Schüler mittelmässig beurteilt worden sind. Wie relativ ist zudem, ob man ein Zeugnis mit Noten oder eines mit Worten erhält. (Überlassen wir diese Entscheidung den Pädagogen und schieben wir die Verantwortung nicht auf die Politiker ab.)

Freilich, es gibt nur einen Friedrich Schiller und nur einen Albert Einstein. Aber um diese Fixsterne gruppieren sich viele begabte Menschen, die in sich die Kraft spüren, etwas aus ihrem Leben zu machen. Wie schrieb doch Schiller in einem Brief am 3. Mai 1783 «Da siz ich, spitze Federn, und käue Gedanken.»

 

erschienen in: Neue Luzerner Zeitung

 

Schweizer und Ausländer

publiziert: 14.01.10

Chefredaktor Thomas Bornhauser schreibt in seinem Leitartikel zum Jahresrückblick in der nachweihnächtlichen Montagsausgabe dieser Zeitung, die Abstimmung über die Minarett-Intiative habe es möglich gemacht, dass doch noch grundsätzliche Fragen über das Selbstverständnis unseres Landes auf den Tisch gekommen seien. So sei die Schweiz nicht mehr einzig unter dem Bann der Wirtschaftskrise, der Steuerflucht und der Banken gestanden. Die aktuelle Diskussion in verschiedenen Blättern im In- und Ausland fand zum Teil auf hohem Niveau statt. Auch im Leserbriefforum der «NLZ» wurde heftig debattiert. Das ist gut so. Als Kolumnist, der hier seine freie Meinung äussert, die mit derjenigen der Redaktion nicht übereinstimmen muss, erlaube ich mir, zwei, drei Dinge dazu zu sagen. Eine Kolumne sollte ja Biss haben und einen Stachel im Fleisch derjenigen sein, die die Meinung nicht teilen.

In etlichen Leserbriefen wurden die Gegner der Minarett-Initiative, als «weltfremde Elite» und einmal sogar als «belämmerte Gebildete» abqualifiziert. Ich muss mich wohl auch zu ihnen zählen. Solche Charakterisierungen hüben und wie drüben tangieren freilich nicht allein das Selbstverständnis des Landes, sondern sie reissen Gräben auf. Da setzt sich eine Tendenz fort, die wir in den letzten Jahren immer wieder erkennen konnten. Es entstehen Gräben zwischen dem Volk und der «Classe politique», zwischen Ausländern und Schweizern, zwischen deutschen Professoren an der ETH, an den Universitäten und dem einheimischen akademischem Nachwuchs, zwischen Eltern und Lehrern, zwischen unserem Land und der EU. Die Liste ist nicht vollständig.

Toni Brunner bemerkte nach der Abstimmung Ende November: «Wir und das Volk müssen im Land zum Rechten sehen». Zum Volk zählte er jene Menschen, die der Initiative zugestimmt haben. Ich gehörte nicht dazu. Mein Selbstverständnis als Schweizer wurde dadurch aber nicht berührt. Ich erwidere mit Peter von Matt: «Ich lasse mir mein Land von den selbsternannten Schweiz-Besitzern nicht wegnehmen.» Ich bleibe ein freier Schweizer, und fühle mich alles andere als weltfremd.

Zwei Themen beschäftigen mich nach der Minarett-Abstimmung. Nein, nicht, was die Leserin oder der Leser vielleicht vermuten. Für mich hat das Volk gesprochen. Ich brauche am Resultat nicht herumzunörgeln. Mich beschäftigt vielmehr die Frage, wer mitverantwortlich für das herrschende Unbehagen im Lande ist und wer mithilft, es zu überwinden. Wer hat die Situation der «Überfremdung» verursacht, die von vielen im Zusammenhang mit der Initiative beklagt wurde? Meine Antwort lautet: Zu den Verursachern gehört massgeblich die Partei, die heute daraus den grössten Nutzen zu ziehen versucht. Sie hat in den letzten zwanzig Jahren als Wirtschaftspartei für Steuersenkungen und für starkes Wachstum gekämpft. Die Folgen dieser Forderungen sind bekannt. Reiche Ausländer kommen gerne in ein steuergünstiges Land, wo das Bankgeheimnis als Heilige Kuh gehütet wird. Wachstum wiederum ruft nach neuen Arbeitskräften. Als vor Jahrzehnten in Zug der visionäre Stadtrat Rolf Kugler ein Nullwachstum postulierte, wurde er bei den Wahlen nicht mehr bestätigt. In den nächsten Jahren kommen eher wieder geburtenschwache Jahrgänge aus der Schule, somit braucht unser Land vermehrt willige Ausländer.

Es ist für eine Volkspartei einfacher, gegen Fremde vorzugehen, als jenes bescheidene Wachstum zu fordern, das keine oder nur wenige fremde Arbeitskräfte verlangt. Wer Wachstum will, muss auch Nebenerscheinungen in Kauf nehmen. Jeder Fortschritt, jedes Wachstum bringt Nachteile mit sich. Das Verlangen nach Fortschritt und Wachstum war ein dauerndes Thema der Wirtschaftsparteien, und so wuchsen eben auch die Schatten.

Die Minarett-Intiative hat Probleme deutlich gemacht, die unsere Bevölkerung stark beschäftigen. Die Politik kann nicht einfach wegschauen und so tun, als ob alles beim Alten geblieben sei. Die Parteienvertreter im Bundesparlament und in den Kantonen sollten sich zusammenraufen, um brauchbare Lösungen zu finden. Doch was tut die Schweizerische Volkspartei? Nach dem Abstimmungssieg hat sie rasch die Kampfzone ausgeweitet. Dabei erinnere ich mich an ein Stück während der Saison 2000/01 im Luzerner Theater. Damals wurde «Ausweitung der Kampfzone» aufgeführt. Die Inszenierung beruhte auf dem gleichnamigen Roman des französischen Schriftstellers Michel Houellebecq. Das Stück hatte mich damals tief beeindruckt und betroffen gemacht, ja, es ging mir so nah, dass ich es nicht vergessen kann. In Kästen, Käfigen gleich, kämpften Männer gegeneinander.

So kämpft die SVP nun gegen den angeblichen «Filz der deutschen Professoren» in Zürich, gegen ausländisches Personal in den Spitälern und gegen die Grenzgänger. Sie will das Freizügigkeitsabkommen mit der EU kündigen und attackiert die ihnen nicht genehmen Magistraten. Damit wird eine raffinierte Taktik verfolgt. Das Anpacken der Probleme wird den andern Parteien überlassen, im Wissen, dass sie kaum gelöst werden können. Statt einen konstruktiven Dialog zu beginnen, fasst die Partei sofort das nächste wahlpolitische Ziel ins Auge und hält die radikalisierte Basis bei Laune. Der politische Gegner wird in die Defensive gedrängt und verunglimpft. Die Missstände aber bleiben bestehen. Die SVP bewirtschaftet sie und schadet damit dem Ansehen unseres Landes. Das Selbstverständnis der Schweiz bestände aber doch darin, die Zukunft gemeinsam, Hand in Hand, zusammen mit allen Kräften, zu gestalten, und dann erst den Deutschen Friedrich Schiller, das Rütli und den Tell zu zitieren.

 

erschienen in: Neue Luzerner Zeitung

 

2009

Wir sehen uns

publiziert: 31.12.09

 

Immer zu Wochenbeginn lädt die Moderatorin zur Sendung «Kulturplatz» des Schweizer Fernsehens ein und schliesst ihre Ansage mit dem Satz «Wir sehen uns». Wie dies allerdings ablaufen soll, ist schleierhaft. Sind wir denn alle geladene Gäste? Wir Fernsehzuschauer sehen die Moderatorin, folgen der Sendung, schauen und hören zu, aber die Akteure in den einzelnen Beiträgen können uns gar nicht sehen, sie beobachten höchstens sich selber oder die Leute im Hintergrund von der Technik. Die Ansagerin dreht sich also mit dem «Pluralis majestatis» um sich selber. Ihr und den Auftretenden gelten sowohl das Wir als auch das Uns. Sie dort drüben auf der Mattscheibe sieht uns eben gerade nicht, und auch jene sehen uns nicht, die dann befragt oder porträtiert werden. Wir, als Zuschauer, bleiben anonym. Vielleicht lassen wir dafür die Einschaltquote steigen.

Jedes Mal, wenn ich diesen Satz «Wir sehen uns» höre, überlege ich mir, was er wohl aussagen will. Nein, ich unterziehe ihn nicht einer tiefenpsychologischen Analyse. Noch viel weniger möchte ich psycho-edukativ wirken. Das würde nichts bringen, denn solche und ähnliche Sätze werden oft allzu leicht dahergesagt. Dennoch scheint es mir einleuchtend und logisch, dass es der Sprache gelingt, eine Wirklichkeit zu schaffen, die keinen Bezug zur Realität hat. Entspricht die Sprachwahl der Erlebnislage, könnte freilich hinter der Ansage doch mehr stecken, als ich meine.

Dass sich die Sprache selber zum Problem werden kann, erahnt der Leser beim Aufschnappen von Titeln aus dem Boulevard oder beim Überfliegen der Blätter, die ihn nachzuahmen versuchen. Da rieselt gerade leise der erste Schnee, und schon rieselt für den Journalisten das grosse Geld, denn er verwendet das Verb «rieseln» im Zusammenhang mit dem Spielzeug, das in China für unser Weihnachtsfest billig produziert worden ist. Eigentlich eine schöne Assoziation und doch «klottert» das gute alte Rieseln in diesem Fall.

Vor Jahren las ich folgenden Satz auf einem Plakat: «Une Bière ist jamais eifersüchtig». Ich gebe ja zu, dass die französischen Wörter zwischen den deutschen viel charmanter wirken als modisch englische. Aber ich stutzte doch kurz, als ich den sprachlichen Mischmasch unterwegs entdeckt hatte. Wollte der Grafiker sagen: «Saufe ruhig dein Bier, darauf wird deine Frau nicht eifersüchtig!»? Aber schon war ich ihm in der Falle gegangen. Ich betrachtete das abgebildete Glas mit dem gelben Saft und dem weissen Schaum lange. Das Plakat an der nächsten Säule pries mir «Une Blonde» an. Im Bahnhofbufett hätte ich beinahe automatisch ein helles Bier bestellt. Im letzten Moment hörte ich meinen Kopf sagen: «Lass dich nicht verführen!» So bestellte ich ein Fläschchen Rivella.

Werbefachleute haben den Auftrag, den Verstand mit Schlagworten zu unterwandern und Automatismen auszulösen, die das Kaufverhalten der Konsumenten steuern. Je besser mir ein Produktenamen im Gedächtnis haftet, desto schneller habe ich das Erzeugnis bestellt. Muss ich mich im Restaurant rasch entscheiden, was ich trinken möchte, fällt mir Coca Cola ein. Dabei habe ich doch lieber einen Sauren Most.

Die Propaganda ist darauf aus dem Menschen ein U für ein X vorzumachen. Prahlte nicht einmal ein Werbefachmann, mit einer Million mache er aus einem Kartoffelsack einen Bundesrat. Der frühere österreichische Bundeskanzler Franz Vranitzky spöttelte einmal: «Es ist die gemeinsame Sprache, die uns Österreicher von den deutschen Nachbarn trennt.» Ob ein Deutscher oder ein Österreicher das Gleiche sagt, ist es nicht das Gleiche. Und erst, wenn ein Sonderfall-Schweizer redet. Ein Schweizer versteht unter dem Begriff «Bankgeheimnis» etwas ganz anderes als ein Österreicher. Vraniskys Aussage ist witzig und enthält eine Prise Wahrheit aus der Schnupftabakdose.

Silvio Berlusconi trichtert seinen Landsleuten dank der eigenen Medien ein, wer ihn angreife und seine Skandalgeschichten ausschlachte, der beleidige das Volk. «Ich und das Volk müssen zum Rechten schauen», betont er immer wieder. Falls man den Umfragewerten überhaupt trauen darf, würden ihn noch immer über 60% der Stimmberechtigten wählen. «Meno male, Silvio c’è!» Nicht schlecht, dass es Silvio gibt! Das Schlagwort, von ihm selbst erfunden, suggeriert, dass Silvio Berlusconi für Italien besser ist als alle anderen Politiker!

Dass Wort und Wirklichkeit nicht deckungsgleich sind, ist gewiss. «Es ist die Funktion der Ironie, darauf hinzuweisen, dass ein Wort noch anderes meinen kann, als wofür es im Moment verwendet wird, dass Sprache die Wirklichkeit nie abdeckt und nie mit ihr gleichgesetzt werden darf und sie darüber hinaus eine grössere und reichere Potenz besitzt, als im Moment zur Sprache kommt. Damit weist Ironie auf Nicht-Berücksichtigstes hin, auf noch nicht erschlossenes Terrain und damit auf Zukunft.»* Hugo Loetscher zitiert Robert Musil: «Ironie ist: einen Klerikalen so darstellen, dass neben ihm ein Bolschewik getroffen ist.» Oder aktuell: Berlusconi, dass neben ihm auch ein Anderer gemeint sein könnte.

Wappnen wir uns zum Neuen Jahr also mit Ironie. Blicken wir nicht zuerst auf die «Wirklichkeit», die uns so gern vermittelt wird, sondern auf unsere unmittelbare Nähe, auf das, was wir selber sehen, wahrnehmen und beurteilen können. Vielleicht werden wir uns dann nicht vom Sog der Missstimmung an fremde, unbekannte Ufer spülen lassen. Es kommt im Leben des Einzelnen sowieso immer darauf an, wie er es mit den eigenen Verhältnissen hält. Darauf kann der Mensch einwirken, sie gestalten, ihnen den persönlichen Stempel aufdrücken. Im kleinen Kreis sagen wir sehr wohl: «Wir sehen uns. Wir helfen uns. Wir vergnügen uns. Wir lieben uns. Wir geben uns die Hand …» Unter Menschen, die sich schätzen, redet man nicht ins Leere. Da gibt es ein wahres Gegenüber.

*Hugo Loetscher: Vom Erzählen erzählen. Poetikvorlesungen. Diogenes 1999.

 

erschienen in: Neue Luzerner Zeitung

 

Früher oder später fallen alle Mauern

publiziert: 07.12.09

 

Ständig werden grosse und kleine Mauern aufgerichtet, auch wenn sie eines Tages wieder fallen werden. Der amerikanische Präsident Barak Obama besuchte kürzlich während seiner Asienreise die Chinesische Mauer und war beeindruckt. Wahrscheinlich imponierte sie besonders, weil sie ihre Funktion verloren hat. Die Stadtmauer von Zug ist längst abgetragen, und wenn auf der Zuger Burg heute noch die Mauerkrone beeindruckt, dann bloss noch als Dekoration. Solche Mauern wurden eines Tages zum ästhetischen Beiwerk oder erinnernden Mahnmal.

Die Berliner Mauer war 155 Kilometer lang. Als ich 1965 mit meiner Familie ein Jahr lang in Berlin weilte, da stand sie bereits seit vier Jahren. Beim Checkpoint Charlie, dem Übergang nach Ostberlin, stieg ich einmal die Treppe zur schmalen Holzbrücke hoch und blickte auf den Todesstreifen, wo DDR-Soldaten patrouillierten, die Kalaschnikow im Anschlag. Heute steht an der gleichen Stelle das exakt nachgebaute Grenzkontrollhäuschen. Es ist so mickrig, wirkt fast lächerlich, wäre es nicht das Mahnmal für eine traurige Trennung. Entlang der Mauer standen 302 Wachttürme. Fünf stehen noch. Sie sollen daran erinnern, dass von diesen Türmen auf Menschen geschossen wurde.

Allein im Monat vor dem Mauerbau, im August 1961, haben über 30’000 Menschen Ostdeutschland verlassen. Insgesamt waren es drei Millionen DDR-Bürger, die weggingen, bevor es die Mauer unmöglich machte. Den ständigen Exodus konnte nur ein solches Bauwerk verhindern.

Als ich vor ein paar Tagen wieder in Berlin weilte, entdeckte ich nur noch einige wenige Mauerreste, ein paar mit Graffiti beschmierte Relikte der ehemaligen Grenze zwischen Ost und West. Das gigantische Bauwerk um Berlin wurde nahezu vollständig abgerissen. Das breite Trasse wurde teilweise zur Brachfläche, zu einem Freiraum, da und dort idyllisch mit Sträuchern, ja mit Sonnenblumen bewachsen. Doch was sich da alles tummelt und eingenistet hat!

Da gibt es Stadtplaner, Lokalpolitiker, Immobilienspekulanten, die daran sind, die Mauergrundstücke zu «erobern». Aussteiger, Umweltschützer, Denkmalpfleger, Kleinunternehmer, Künstler und andere mehr wünschen sich einzig, dass sie nicht weichen müssen. Es gibt einen grossen Mauerpark mit Liegewiesen, Kinderspielplätzen und einem Streichelzoo. Entsprechend bunt, beinahe paradiesisch wirkt der ehemalige Todesstreifen. Das Buntscheckige überwächst und verdrängt mit der Zeit das Trennende, Ablehnende, ja, Schreckliche und Tödliche.

In der Nähe des Brandenburgertors liegt das Stelenfeld zur Erinnerung an den Holocaust. Die zum Teil gigantischen grauen Betonblöcke drücken schwer auf das Gemüt, sobald man zwischen ihnen durchgeht und in den offenen Gängen untertaucht. Die seelenlosen Stelen sind gesichtslos, aber im Museum nebenan bekommen die ermordeten Menschen ein Gesicht. Der Zufall wollte es, dass gerade eine Demonstration für die Opfer des Iranischen Regimes stattfand, als ich beim Brandenburger Tor stand. Noch immer werden überall auf der Erde Mauern errichtet, und Menschen mit einer abweichenden Meinung werden verfolgt und eingelocht.

Im aktuellen Abstimmungskampf dokumentieren schwarze Raketen, Minaretten ähnlich, dass Mauern stets und überall zwischen den Menschen und Volksgruppen aufgezogen werden können. Das Andere, das Fremde erweckt diffuse Ängste. Die Freiheit, auch die Religionsfreiheit, ist für viele unerträglich. Und ein souveränes, freies Volk erträgt nicht einmal die Tatsache, dass andere Gruppierungen jene Freiheit auch für sich selbst beanspruchen.

In der Nähe von Brescia in Italien ermunterte jüngst ein Bürgermeister die Einwohner, Weihnacht nur unter sich zu feiern, die unerwünschten Ausländer hätten nichts zu suchen. Ein anderer Sindaco in der gleichen Region forderte seine Mitbewohner auf, illegal Eingewanderte zu denunzieren. Orthodoxe Bischöfe verlangten kürzlich von ihrem Patriarchen, alle ökumenischen Bestrebungen aufzugeben, denn die Juden wie die Mohammedaner würden nicht an den einen wahren, dreifaltigen Gott glauben. Es sei nur möglich, mit Menschen im Dialog zu sein, die den wahren Gott verehren würden.

Die Wahrheit, die man für sich allein beansprucht, bildet stets den Grundstein für eine Mauer. Auch wenn wir wissen, dass die Wahrheit nur eine interpretierbare ist, werden immer wieder «Wahrheitsmauern» aufgezogen. Es gibt aber keinen Zugang zur Welt, Wirklichkeit und zur Wahrheit, der nicht von der Interpretation abhängt. Vermauerte Welten sind Symbole dafür, dass man die eigene Ansicht nicht in Frage stellt. Die Geschichte lehrt uns immer wieder, dass früher oder später alle Mauern fallen. Die Christen im alten Rom krochen eines Tages auch aus den Katakomben ans Tageslicht.

An unserem Familientisch gab es ebenfalls Mauern. Vater schimpfte und fluchte über die Protestanten und die verdammten Juden, die damals als Flüchtlinge ins Ägerital gekommen waren. Er betitelte sie mit Worten, die ich hier nicht wiedergeben will. Mutter wehrte Vaters Tirade jedes Mal ab. Sie hatte vor der Heirat in Basel und in Zug bei protestantischen Familien gedient. Zog Vater wieder vom Leder, rief sie vom Kochherd, wo sie oft hantierte, gute Protestanten seien ihr tausendmal lieber als schlechte Katholiken. Solche träfen Worte liessen Vater jeweils verstummen. Mich selber hat Mutters Erfahrung beeindruckt und geprägt. Ihre Anschauung wurde zu einem meiner Leitsprüche. Wenn ich in diesen Tagen die unsäglichen Leserbriefe über die Minarett-Initiative lese und dabei überlege, wie gewisse zugemauerte Köpfe argumentieren, erinnere ich mich wieder an den Leitspruch meiner Mutter und ersetze in Gedanken Protestanten mit … Sie wissen schon …

 

erschienen in: Neue Luzerner Zeitung

 

Goethe und die Rigi – ein Interview

publiziert: 14.11.09

Schon immer habe ich mich für die Schweizer Reisen von Johann Wolfgang von Goethe interessiert. Während der ersten (1775) bestiegen der jungen Dichter und seine Freunde die Rigi. Mir fiel aber auf, dass er in der Autobiographie «Dichtung und Wahrheit» ganz anders darüber berichtet als in seinen Reisenotizen. Hatte er denn zwei verschiedene Rigis bestiegen? Ich wollte es genau wissen und vereinbarte mit dem grossen Meister ein Interview. Ein Datum zu finden, wurde sehr kompliziert. Die zweite Reise (1780) führte ihn übrigens durchs das Wallis ins Berner Oberland, wo er das Gedicht «Gesang der Geister über den Wassern» schrieb. Die dritte Reise (1797) ging wieder in die Innerschweiz. Goethe beschäftigte sich mit der Tellsage, machte sich Gedanken zu einem Tell-Epos, doch trat er den Stoff später seinem Freund Friedrich Schiller ab.

Kalender: Sie haben «Dichtung und Wahrheit» 1812 verfasst. Zwischen der ersten Reise in die Schweiz und Ihrer Autobiographie liegen also fast vierzig Jahre. Wird da die Wirklichkeit nicht verzerrt?
Goethe: Ich legte meiner Autobiographie Notizen zugrunde, die ich 1775 sehr lapidar gehalten habe. Sie aber dienten einzig als Stütze für mein Gedächtnis und meine Phantasie.
Kalender: Darf ich Ihnen an zwei Beispielen erläutern, wie ich den Unterschied empfunden habe. Auf dem Zürichsee schrieben Sie ein erfrischendes Gedicht. Es beginnt mit «Ich saug’ an meiner Nabelschnur, / nun Nahrung aus der Welt …» Nun heisst es aber: «Und frische Nahrung, neues Blut, / saug ich aus freier Welt …» Mit dem Bild der Nabelschnur konnten Sie Ihre damalige Naturschwärmerei doch viel schöner ausdrücken.
Goethe: (lacht) Ich steckte damals in der Sturm-und-Drang-Zeit, hatte gerade mit meinem «Werther» Aufsehen erregt. Heute nennen Sie ein solches Buch einen Bestseller, nicht? Ich war übermütig und meine Freunde waren tolle Kerle. Später habe ich das Gedicht gezähmt, ich gebe es zu. Und das zweite Beispiel?
Kalender: Als Sie spätabends über die Hackenegg nach Schwyz gekommen sind, schreiben Sie ins Tagebuch: «Müd und munter vom Berg abspringen voll Dursts u. Lachen. Gejauchzt bis zwölf.»
Goethe: Ja und?
Kalender: In «Dichtung und Wahrheit» haben Sie den Übermut der jungen Gesellschaft brav in Watte gepackt.
Goethe: (vorwurfsvoll)Ich erinnere mich sehr gut daran. Wir trafen damals um zehn Uhr in Schwyz ein. Ich erlaubte mir das Erlebte im Duktus meiner Autobiographie zu schreiben. Hören Sie. (Goethe schlägt seine Autobiographie auf) «Wir waren zugleich müde und munter geworden, hinfällig und aufgeregt, wir löschten gähling unseren heftigen Durst und fühlten uns noch mehr begeistert. Man denke sich einen jungen Mann, der etwa vor zwei Jahren den ‹Werther› schrieb, einen jüngeren Freund, der sich schon an dem Manuskript jenes wunderbaren Werks entzündet hatte, beide ohne Wissen und Wollen gewissermassen in einen Naturzustand versetzt, lebhaft gedenkend vorübergegangener Leidenschaften, nachhängend den gegenwärtigen, … im Gefühl behaglicher Kraft das Reich der Phantasie durchschwelgend, – dann nähert man sich der Vorstellung jenes Zustandes, den ich nicht zu schildern wüsste, stünde nicht im Tagebuche: ‹Lachen und Jauchzen dauerte bis um Mitternacht›.»
Kalender: Ja, ja, ich gebe zu, dass auf die Zeit von Sturm und Drang ein heiterer Altersglanz fällt, aus der Distanz betrachtet. Sie haben auch die Stelle geglättet, die an der Sihl spielt, als Sie mit Ihren Freunden nackt gebadet und mit Steinen beworfen worden sind.
Goethe: Es waren laute Burschen. Dass ich dieses Ereignis dem Ton meines Schreibens angepasst habe, dürfen Sie mir nicht verargen. (Goethe liest aus dem 19. Buch von «Dichtung und Wahrheit»): «Die guten harmlosen Jünglinge, welche gar nichts Anstössiges fanden, halb nackt wie ein poetischer Schäfer, oder ganz nackt wie eine heidnische Gottheit sich zu sehen, wurden von Freunden erinnert, dergleichen zu unterlassen. Man machte ihnen begreiflich: sie wesenten nicht in der uranfänglichen Natur, sondern in einem Land, das für gut und nützlich erachtet habe, an älteren, aus der Mittelzeit sich herschreibenden Einrichtungen und Sitten zu halten.» So belehrte man uns später in Zürich.
Kalender: Nun möchte ich Sie, verehrter Meister, auf die Rigi begleiten. Von Schwyz ging es dann zum Lauerzersee?
Goethe: Wir liessen uns von zwei tüchtigen Mädchen über den See schiffen. Welch ein Idyll! Solche Schäferszenen haben mich immer beglückt. Es herrschte übrigens herrlicher Sonnenschein und vor lauter Wonne sah man von der Landschaft kaum etwas.
Kalender: Nur…
Goethe: Ja, nur die Dirnen!
Kalender: Dann bestiegen Sie die Rigi und kamen um halb acht im Wirtshaus zum «Ochsen» auf dem Klösterli an. Am andern Tag ging es weiter nach Kaltbad …
Goethe: (unterbricht den Kalendermann) Wir erstiegen die Höhe und fanden uns in Wolken. Das war unangenehm. Es behinderte die Aussicht und ein niedergehender Nebel nässte. Aber als Wolken hie und da auseinander gerissen wurden und sich uns, von wallendem Rahmen umgeben, eine herrliche, Sonnen beschienene Welt auftat und wechselnde Bilder sehen liessen, bedauerten wir nicht mehr die Zufälligkeiten; denn es war ein nie gesehener, nie wieder zu schauender Anblick, und wir verharrten lange in dieser gewissermassen unbequemen Lage, um durch die Ritzen und Klüfte der immer bewegten Wolkenballen einen kleinen Zipfel besonnter Erde, einen schmalen Uferzug und einen Winkel des See zu gewinnen.
Kalender: Das beschreiben Sie wunderbar. Man sieht die Landschaft mit Ihren Augen.
Goethe: (schmunzelt) Ich gebe zu, bei dieser Stelle fliessen Bilder ein, die ich auch anderswo gesehen habe. Für mich ist die Landschaft um den vier Waldstättersee ein Arkadien. Eine solche ungeheure Landschaft nötigt den Beschauer, sie mit Personen zu bevölkern, mit Tell und seinen wackeren Zeitgenossen.
Kalender: Für Sie war die herbe Landschaft wie eine Kulisse für Göttinnen und Götter. Ahnten Sie dabei, wie hart die Bauern und Schiffer um ihre Existenz zu kämpfen hatten?
Goethe: Wir waren jung und lebenslustig. Wir kümmerten uns nicht um die Not der Menschen. Unsere Einbildungskraft besiedelte die Landschaft mit Helden, Hirten und Schäferinnen. Wir assen gebackenen Fisch und Eier und tranken Wein. Und dann, hören Sie, was ich geschrieben habe: «Wie es denn nun dämmerte und allmählich nachtete, beschäftigten ahnungsvoll zusammenstimmende Töne unser Ohr; das Glockengebimmel der Kapelle, das Plätschern des Brunnens, das Säuseln wechselnder Lüftchen, in der Ferne die Waldhörner; – es waren wohltätige, beruhigende, einlullende Momente.»
Kalender: Szenen dieser Art vermischten sich mit Ihrem Bild der Schweiz?
Goethe: Nicht nur solche, auch steil in den See abstürzende Felswände imponierten mir mächtig. Die Berge standen unerschütterlich da, und ich stellte sie mir als Kulisse eines Theaters vor: Glück und Unglück, Lust und Trauer sind bloss Personen zugedacht, die heute auf dem Zettel stehen.
Kalender: Sie spielen auf das Personenregister von Schillers «Wilhelm Tell» an?
Goethe: Sie haben es erraten und ich erlaubte mir zu schreiben, dass man an diesem poetischen Faden billig durch das Labyrinth der Felswände geht. Mein Freund Friedrich Schiller hat die Kulisse grossartig in seinem Tell verwendet.
Kalender: Sie besuchten dann Vitznau und liessen sich mit einem Nauen nach Gersau fahren, wo sie in einem Wirthaus am See assen. Ich nehme an, Sie kosteten frischen Fisch?
Goethe: Im klaren See wimmelte es von Fischen, und wir begegneten einigen Fischern, die draussen standen und die Netze einzogen.
Kalender: Haben Sie gewusst, dass die Rigi in den Büchern der Klöster mit «regina montium» eingetragen ist.
Goethe: Ja, die Königin der Berge! Ich habe sie später von Luzern aus gesehen. Sie liegt aber eher wie eine Sphinx, mächtig und friedlich und bietet den Alpen zugleich eine sanfte, fast weich gefaltete Abgrenzung.
Kalender: Eine letzte Frage: «Dichtung und Wahrheit» kommt heiter und getragen daher. Ihre wilde Jugendzeit wirkt geglättet. Würden Sie sagen, der Stil passt zum Olympier, der sein Leben …
Goethe: (unterbricht unwirsch) Was soll daran falsch sein? Ich habe meine vielen Eindrücke während meiner Reisen in der Autobiographie wie zusammengeschaut. Der Inhalt von «Dichtung und Wahrheit» soll nicht mit meiner kühnen Jugendprosa vermischt werden. Dass mich die Landschaft der Urschweiz fasziniert hat, hat mein Leser immer gespürt. Die Bilder, die mich in der Schöllenen beeindruckten, flossen sogar in mein berühmtestes Werk ein. Im «Faust», II. Teil heisst es: «Ein Wunder ist’s, der Satan kommt zu Ehren./ Mein Wanderer hinkt an seiner Glaubenskrücke, / Zum Teufelsstein, zur Teufelsbrücke.»
Kalender: Ja, und die Urner überlisteten den Teufel mit einem Ziegenbock!
(Herr von Goethe und der Kalendermann lachen, genauso wie der junge Dichter und seine Freunde, über die Hackenegg kommend, in Schwyz gelacht haben mögen.)
Kalender: Darf ich Sie zum Schluss noch etwas fragen? Haben Sie schon eines meiner Werke gelesen?
Goethe: Nun ja, Sie haben halt keinen «Werther» und keinen «Faust» geschrieben.
Kalender: Ich bedanke mich höflich, dass Sie mir Ihre wertvolle Zeit geschenkt haben.

 

erschienen in: Zuger Kalender

 

Das Lob der Torheit

publiziert: 07.11.09

Erasmus von Rotterdam setzt die Torheit in seinem Werk, das im Sommer 1509 entstanden ist, als höchste Göttin über alle Menschen, ja, selbst über die Götter Griechenlands, und wer möchte ihm da widersprechen? War Göttervater Jupiter nicht von der Torheit beseelt, als er sich in einen Stier verwandelte und die schöne Europa entführte, sich beim späteren Stelldichein als strahlenden Gott offenbarte? Während des Schäferstündchens belauschte ihn allerdings seine eifersüchtige Gattin Hera. Ist die Eifersucht etwa kein Werk der Torheit? Die Torheit regiert selbst Könige und Päpste, Würdenträger aller Schattierungen, Spitzenfunktionäre und einfache Menschen, Männer und Frauen, kurz, Reiche und Arme, Gescheite und Dumme. Sie verschont nur den, der sich seiner Grenzen bewusst ist.

Als Bundespräsident Hansrudolf Merz nach Libyen reiste, hatte die Torheit wohl auch die Hände im Spiel. Leider ist er mit Eselsohren zurückgekommen. Dennoch gab die Torheit nicht auf. Sie war hinter den Medien und Politikern her und suggerierte ihnen, sie sollten doch nun den Rücktritt des Finanzministers fordern. Und als sie realisierte, wie unverhältnismässig diese Forderung war, lachte sie nur. Die Medienleute und Politiker haben vergessen, was Martin Luther einmal gesagt hat: «Selten wird ein gutes Werk aus Weisheit und Vorsichtigkeit unternommen, es muss alles in Unwissenheit geschehen.» Unwissenheit verzeihen die Wissenden nicht. Die Torheit allerdings gesellt sich den Wissenden erst zur Seite, wenn eine Dummheit schon geschehen ist, und man hinterher alles besser weiss. Die Torheit ist die Patin der Besserwisser und der Rechthaber.

Die Torheit lacht gerne über andere, und die Törichten setzen laut ein. Als der frühere Botschafter Thomas Borer anlässlich der Veranstaltung «Schaffhauser Wirtschaftsimpulse» meinte, die Schweiz sei führungsschwach, sie benötige einen Bundespräsidenten, der für vier Jahr gewählt sei, widersprach ihm der «abgewählte Bundesrat» Christoph Blocher. Länder mit einem Präsidialsystem seien nicht erfolgreicher, gab er zu bedenken, und dann wörtlich: «Stellen Sie sich vor, wenn wir Merz vier Jahre hätten.» Die NZZ (19./20. September) meinte, dies sei nicht die feine Art gewesen, den ehemaligen Kollegen anzugreifen. Dass sich Christoph Blocher später dafür entschuldigte und behauptete, er habe nicht Bundespräsident Merz angreifen wollen, beweist doch, wie elegant die Torheit stets eine Ausrede findet. Solch saloppe Sprüche lassen sich mit einem anderen Ereignis von Mitte September vergleichen, als der an sich besonnene Schiedsrichter Massimo Busacca anlässlich des Cupspiels Baden gegen YB den Berner Fans den gestreckten Mittelfinger zeigte. Auch da hatte die Torheit die Hände im Spiel. Hinterher bereut der Mensch immer, weil er das Narrenschiff bestiegen hat.

Menschen, die wissen, dass die Torheit die höchste Instanz im Leben der Menschen ist, üben sich in Bescheidenheit und Selbstironie. Sie orientieren sich an Beispielen. Ein hervorragendes gibt Franz von Assisi, der seinen störrischen Leib als «Bruder Esel» bezeichnete und der ihn oft von seinen frommen Absichten abbringen wollte. Der «fratello asino» mit seiner Triebhaftigkeit und Schwäche ist unbestritten das beste Einfallstor für Erasmus’ hoch gelobte Göttin. Das musste auch der amerikanische Präsident Bill Clinton seinerzeit erfahren, als er zusammen mit Monika Lewinsky seine berühmt gewordene Zigarre rauchte.

Wer sich also den Spass leistet, die herrliche Satire des Erasmus’, in der hervorragenden Übersetzung von Kurt Steinmann, zu lesen, kann nicht mehr durch die Zeitungslandschaften wandern, ohne zu staunen, was die Torheit denn alles anstellt. Was schon nur in den Klatschspalten steht! Das Leben aber ist deshalb so erfinderisch, weil die Göttin Torheit das Szepter führt. Kein Journalist kann so kreativ wie das echte Leben sein, aber er weiss, dass sich Leserinnen und Lesern gerne an Narreteien delektieren.

Es gilt als ausgemacht, sagt Erasmus, dass alle Leidenschaften einen Bezug zur Torheit haben. Das gilt sowohl für die politischen als auch die wirtschaftlichen, für die theologischen und die schriftstellerischen. Ohne Torheit würde kaum ein literarisches Werk entstehen, am wenigsten eines, das dann keine Leser findet. Die Dichter, sagt Erasmus, würden auch zur Fraktion der Göttin Torheit zählen, denn sie seien eine «sprichwörtlich lose Sippe». Sie gehörten zur Zunft der Selbstgefälligen. Und wer je ein Buch oder eine Kolumne geschrieben hat, ist sich dessen bewusst und lächelt manchmal über sich.

Um nachzuweisen, dass die Göttin der Torheit sogar über höchste Autoritäten herrscht, genügt der Hinweis auf Pauls VI. Pillenenzyklika von 1968. (Man könnte auch Benedikt XVI. auf seinem Weg nach Afrika zitieren). Sie liess jung Verliebte an der Unfehlbarkeit des Papstes zweifeln. Moraltheologen fragten sich damals, ob wirklich der Heilige Geist den Papst inspiriert habe oder nicht vielleicht die von Erasmus über alle und jeden gesetzte Göttin. Vielleicht aber half die List dieser schlauen und raffinierten Frau Torheit nach, dass der Papst sämtliche Einwände seiner Ratgeber in den Wind schlug und das Lehrdiktat veröffentlichen liess, damit Zweifel und Skepsis auch einen Platz in der Welt der Kirche fanden.

Die Torheit lächelt über ihre Taten. Dennoch schaut sie gelassen zu, nachdem sie etwa Zank und Streit entfacht hat und geniesst besonders den Kampf der Streitrösser. Sie steht über jedem Parteiengezänk. Doch auf einmal zieht sie sich verschämt zurück, schaut aus der Loge zu und sagt sich. «Was gibt es (…) Gefälligeres, als dass zwei Esel sich gegenseitig kratzen?» (S. 119).

 

  • Erasmus von Rotterdam: Das Lob der Torheit. Aus dem Lateinischen übersetzt von und mit einem Nachwort von Kurt Steinmann. Manesse Bibliothek der Weltliteratur.
  • Bis 10. Januar 2010 dauert die sehenswerte Ausstellung im Museum zu Allerheiligen Schaffhausen «Das Lob der Torheit. Versuch einer Ausstellung nach Erasmus von Rotterdam».

 

erschienen in: Neue Luzerner Zeitung

 

Meine naive Finanzmathematik

publiziert: 21.09.09

Reden wir ein wenig vom Geld – wie alle Welt. Es ist ja keineswegs so, dass die Finanzmarktkrise die Denkweise der Finanzlobby verändert hat. Von der Wallstreet erreichen uns schon wieder Schalmeienklänge. Es lasse sich ein wachsender Trend erkennen, das Geschäft wie bisher zu betreiben, sagt der Kassenwart des Bundes, Peter Siegenthaler. Man spüre bereits wieder ein starke Lobbying, das die nötigen Reformen hintertreiben soll. «Viele der Finanzjongleure glauben, sie könnten wieder Geld verdienen wie zuvor», bemängelt die Ex-Börsenchefin Antoinette-Hunziker-Ebneter, und zwar «mit hochmargigen komplexen Produkten». Erneut wird also Kleinsparern in kleinen Dosen beigebracht, ihre Ersparnisse liessen sich durchaus wieder leicht vermehren, nachdem sie all die Meldungen getröstet haben, dass auch grosse Spekulanten und Milliardäre viel Geld verloren haben. Was aber macht den Unterschied zwischen kleinen Verlierern aus, die zehn oder zwanzigtausend Franken verloren haben, und denjenigen Menschen, die einige Millionen in den Sand gesetzt haben?

Ich habe zu Beginn der Krise einige Leute in meinem Umfeld gefragt, ob sie auch Geld verloren hätten? Zahlreiche bejahten die Frage. Der Verlust schwanke zwischen zehntausend und fünfzigtausend Franken. Das sei ja nichts als eine Bagatelle, werten die oberen Etagen einen solchen privaten Schaden und reden von den Millionen, die ihresgleichen verloren haben. Nur, da gibt es eben einen Unterschied: Das kleine Geld ist unter Anstrengung verdient worden. Erspartes dank Werte schaffender Arbeit. Das grosse Geld dagegen ist häufig spekulatives Geld. Die Verluste sind meist Buchverluste. Sind die Aktien gestiegen, vermehrte sich das Vermögen, begannen sie zu fallen, verringerte es sich. Die einen haben also sauer verdientes Geld verloren, die anderen solches, das sich mehr oder weniger von selbst – die Hände lagen im Schoss –, vermehrt hatte. Welcher Verlust schmerzt wohl mehr?

Viele fragen sich, wie es zur Vernichtung von Hunderten von Milliarden, ja Billionen von Franken kommen konnte und wie dieses Geld zuvor in spekulative Prozesse hineingeschleust worden ist. Die Rechnung ist einfach: Wenn in der Schweiz tausend Sparer zehntausend Franken verloren haben, sind das zehn Millionen. Wenn jeder zehnte Schweizer so viel Geld verloren hat, dann sind das siebenhunderttausendmal zehntausend Franken. In diesem Fall spuckt mein Taschenrechner die Zahl sieben Milliarden aus. Und diese Milliarden sind real verdiente Franken und nicht spekulative Buchwerte. Verlorene Buchwerte schmerzen nur den, der von Illusionen und Märchen träumt.

Ein weiterer Gesichtspunkt, den ich in meine naiven Überlegungen einbeziehe, ist der, dass ein Franken, der im spekulativen Bereich verdient wird, jemand anderer dann verliert. Täglich werden neue Werte geschaffen. Im Gegenzug zur wachsenden Realwirtschaft wachsen die Geldwerte. Dieses täglich erarbeitete Geld sind hundert Prozent, nehme ich einmal an. Nun wird damit spekuliert. Es wird in Optionen und strukturierte Produkte oder in giftige, toxische Papiere gesteckt, wie sie die Nationalbank von der UBS übernommen hat, in der Höhe von 28 Milliarden. Steigt also diese Summe, die auf Spekulationen oder auf nicht realisierbaren Werten beruht, auf 101 Prozent (was real Milliarden ausmacht), ist ein Prozent gefährdet, und jemand hat dieses eine Prozent verloren. Wer dabei zu den echten Verlierern gehört, ist leicht auszumachen.

Ich weiss, dass ich mit diesen Überlegungen keinen Wirtschaftsnobelpreis erhalten werde. Aber vielleicht bringen sie den einen oder anderen doch dazu, den Tanz ums Goldene Kalb gar nicht erst zu beginnen. Als vor Jahren der Bankier Martin Ebner verkündete, das Kapital müsse eine Rendite von 18 Prozent abwerfen, bezeichnete ich das Konzept des Shareholder-Value in dieser Höhe als Wucher. In den Medien tauchte dieser Ausdruck nicht auf. Umso interessierter las ich später das kleine Buch «Wucherzins und Höllenqualen»* des französischen Historikers Jacques Le Goff. Der Verfasser zeigt auf, wie die Kirche im frühen Mittelalter das Fegefeuer erfunden hat.

Zuvor musste jeder, der Geld zu Zinsen geliehen hat, die Hölle fürchten. Es gab vorerst nur den Himmel oder die Hölle. Für die allmählich beginnende Kapitalwirtschaft war dieses Entweder-Oder unerträglich. «Nur die Hoffnung, der Hölle zu entkommen, erlaubte es dem Wucherer, Wirtschaft und Gesellschaft des 13. Jahrhunderts auf ihren Weg zum Kapitalismus voranzutreiben (S. 131).» Da erfand die Kirche das Fegefeuer. Wer Zins nahm, musste sich nicht mehr fürchten, nach dem Tod in die Hölle zu fahren. Der Geldverleiher – und bald auch Klöster und Wallfahrtskirchen – war nicht mehr auf ewig verdammt, sondern nur auf Zeit. Thomas von Aquin lieferte die nötige Begründung: «Die menschlichen Gesetze lassen manche Sünden ungestraft wegen der Verfassung der unvollkommenen Menschen, bei denen manches nützliche Werk unterbunden würde, wenn alle Sünden streng verboten und mit der entsprechenden Strafe belegt würden. Und deshalb hat das menschliche Gesetz Zins erlaubt, nicht als ob es der Meinung wäre, es sei der Gerechtigkeit gemäss, sondern damit nicht der Nutzen für die vielen (anderen) unterbunden würde.»

Immerhin hat dann das Konzil von Trient (1545 – 1563) festgesetzt, dass für ausgeliehenes Geld nicht mehr als fünf Prozent Zins genommen werden dürfe. Wer mehr verlangte, beging eine schwere oder gar eine Todsünde. Wir lächeln heute über solche Regelungen, doch wer Mass hält, fährt damit nicht schlecht und er wird nicht ein armer reicher Mann.

* Jacques Le Goff: «Wucherzins und Höllenqualen. Ökonomie und Religion im Mittelalter». Klett-Cotta 2008.

 

erschienen in: Neue Luzerner Zeitung

 

Farbenspiele vor Bundesratswahl

publiziert: 12.08.09

Die Demission von Bundesrat Pascal Couchepin war überfällig. Er übernahm nach dem Rücktritt von Bundesrätin Ruth Dreifuss das Departement des Innern mit der Ankündigung, die Sozialwerke zu sanieren. Ist ihm dies gelungen? An grossen Worten und Gesten fehlte es nicht. Die Rücktrittsankündigung fiel ins mediale Sommerloch. Das war ein Glücksfall für die Medien. Es gab tatsächlich viel zu sagen, zu schreiben, zu spekulieren und zu kommentieren. Einige Kandidaten, die in den Vordergrund gerückt wurden, galten als valabel. Aber das Wort valabel ist im Duden nicht zu finden. Wird von einem Kandidaten gesagt, er sei valabel, bedeutet dies wohl: «Vielleicht findet man noch einen besseren?»

Das lateinische valere wurde in vielen Wendungen und Bedeutungen gebraucht, etwa in «vale!» «Lebe wohl!» Wenn ein Römer dieses Wort beim Abschied gebrauchte, hoffte er, der Gast gehe gesegnet von dannen. Das darf man für einen scheidenden Bundesrat auch hoffen. Das Wort valere bedeutet aber auch kräftig, gesund sein und sich wohlbefinden. Gebräuchlich ist das abgeleitete Wort Valenz und meint, eine Person oder eine Sache habe Wert oder Gültigkeit. In der Sprachwissenschaft hingegen meint Valenz, «fähig eines Wortes, besonders eines Verbs zur Bildung eines vollständigen Satzes» (Grosser Duden). Taucht also das oft verwendete Wort vom valablen Kandidaten auf, ist Vorsicht geboten. Dahinter könnte ja statt eines Urteils eine Frage stecken.

Das Kandidatenkarussell drehte sich den ganzen Sommer über, als wäre beständig Chilbi. Es tauchten Namen auf und verschwanden wieder. Für die Parteipräsidenten spielte die Farbe der Kandidaten die grösste Rolle. Wie viel grün oder rot oder sonnengelb hat er am Hut? Ist er schwarz oder blau? Welche Valeurs überwiegen? In der Malerei und der Kunstbetrachtung bezeichnet das Wort die Abstufung einer oder mehrerer Farben, Licht oder Schatten in einem Bild. Man durfte also den Parteipräsidenten nicht allzu sehr aufs Maul schauen, denn sie konnten nicht quantifizieren, wie viel Rot ein bürgerlicher Kandidat haben dürfe, damit er noch wählbar sei. Am Deutlichsten wurde Toni Brunner, der drohte seine Partei werde sich aus dem Bundesrat zurückzuziehen, wenn ein zweitklassiger Kandidat gewählt werde, und meinte natürlich, wenn die Farbe nicht stimme.

Diese Spiele verdrossen den sonst in staatspolitischen Fragen neugierigen Leser. ER verschwand in die Ferien, las keine Zeitung mehr und wusste, dass ER nach zwanzig Tagen vor einem Stapel sitzen würde, den ER dann rasch abgebaut hätte. So, wohlgemut und in friedlicher Stimmung, sass ER eines Abends auf der Terrasse eines Restaurants. Es war sehr warm, aber ein leichter Wind erfrischte ihn. Der Dreiviertelmond schimmerte durch die Pinienzweige und auf den Blättern der falschen Olivenbäume lag ein bleicher Glanz. Nichts ahnend sass ER bei einem Glas. Auf einmal wurde ER angesprochen: «He du, bist du auch da?» «Ja freilich! Ich bin jedes Jahr hier!» ER lud den Bekannten zu einem Glas Prosecco ein und bestellte gleich noch einen halben Liter «alla spina», vom Fass also. Walter sagte, er wisse wohl, dass er mit ihm nicht über Politik reden sollte. Sie hätten unterschiedliche Auffassungen, und dann glaubte er sagen zu müssen, ER sei ein wenig rot angepinselt. Das brachte ihn in Harnisch und ER definierte sich als einen liberalen Bürgerlichen, mit Sympathie für die Grün-Liberalen.

Ein Wort gab das andere. Das Gespräch nahm an Lautstärke zu, erklomm heitere Höhen, und als ER sah, dass es Walter behagte, mit ihm zu diskutieren, bestellte ER eine weitere Karaffe. Sie kamen auf die Bundesratswahlen zu sprechen. Walter sagte, er leide, wie übrigens auch das halbe oder ganze Volk, an einer Politikverdrossenheit. Es werde ihm Übel, wenn er dem Gezänk zuhöre. Dass sich sogar Bundesräte in die Nachfolge von Pascal Couchepin eingemischt hätten, wertete er als Indiz, dass die Entscheidungsebenen durcheinander geraten seien. Der Bundesrat habe sich längst von den Medien anstecken lassen. Sie verlangten zu allem und jedem sofort eine Meinung, bedacht oder noch in Gärung. Walter, der sich als kleiner Bankangestellter bezeichnete, was eindeutig eine Untertreibung ist, zählte Beispiele auf, die ausführlich zu erwähnen, die Leserinnen und Leser langweilen würden. Die Bundesratswahlen liefen, fügte er bei, darauf hinaus, dass derjenige gewählt würde, der sich auch in einer fremden Fraktion am Besten einfärben lasse.

Das war das Stichwort zur Frage nach dem Profil eines Bundesrats. Sie, die sich da im Gedankenwettbewerb ereiferten, waren sich rasch einig. Im Bundeshaus fehle ein Staatsmann. Eine solche Persönlichkeit zu wählen, sei freilich nicht denkbar, wenn die Farbtupfer mehr zählten als das Format. Ein Staatsmann bewege sich nicht auf der Ebene des parteipolitischen Gezänks. Er habe stets die Sache und das Ganze des Staats im Auge. Er besitze eine Vision des Landes und werfe einen Blick in die Zukunft. Bundesräte seien in den letzten Jahren zu einer Art Sortimentsdirektoren degradiert worden, die wie Migrosbosse schauen müssten, dass die Gestelle immer gefüllt seien. Ein Staatsmann sei kein Befehlsempfänger von Verbänden oder Banken. Wohin eine solche Haltung führe, habe man ja jetzt erlebt. «Du solltest einmal eine Kolumne zum Bergriff der Bürgerlichkeit schreiben!» Das werde ER gelegentlich tun, denn bürgerlich sei nicht einer, der einfach an der Steuerschraube drehe oder Wirtschaftsinteressen vertrete. Auf die Bundesratswahlen zurückkommend zitierte ER die Auffassung der alten Römer: «Das Amt sucht den Mann und nicht umgekehrt.» Das gelte heute freilich auch für Frauen.

 

erschienen in: Neue Luzerner Zeitung

 

Der Bücherbus der Queen

publiziert: 04.07.09

«Du öffnest ein Buch, und es öffnet Dich», habe ich am Schaufenster einer kleinen Altstadtbuchhandlung gelesen. Zugleich erinnerte ich eine Begebenheit, die mich sehr betroffen gemacht hat. Erlebnisse, die mit starken Emotionen verbunden sind, vergisst man nicht, auch wenn man die einzelne Fakten aus dem Gedächtnis verloren hat oder nur ungenau behalten konnte. Vielleicht stimmt mich nun, da ich dieses Erlebnis von der Seele schreiben kann, die damalige Aussage eines Regierungsrats milde. Ich empfahl ihm, ein bestimmtes Buch unbedingt zu lesen. Um welches Buch es sich gehandelt hat, weiss ich nicht mehr. Heute würde ich, nach Erfahrungen in der Politik und dessen, was sich gerade jetzt im Zusammenhang mit dem Rücktritt von Pascal Couchepin abspielt, von Miguel de Cervantes «Don Quijote de la Mancha» oder von Giovanni Quareschi «Don Camillo e Peppone» empfehlen. Don Quijote ist doch jener edle, dürre spanische Ritter, der gegen Windmühlen gekämpft und geglaubt hat, es handle sich dabei um feindliche Riesen.

Was mich so sehr betroffen gemacht hat, war, dass der besagte Herr mir ziemlich von oben herab antwortete: «Wozu Bücher?» Er habe noch nie ein Buch gelesen und er werde auch keines lesen. Mit ihm jeweils im Gespräch stehend war ich nicht verwundert, dass er noch keines, geschweige denn einen Roman, gelesen hatte. Seine Sprache war sehr einfach und recht hölzern.

Ich ging also in besagte Buchhandlung und stiess auf das kleine Werk von Allan Bennett «Die souveräne Leserin». Mit ansteckendem Humor und mit viel Ironie erzählt der Autor (natürlich ist alles erfunden), wie die Queen das Lesen entdeckt hat. Hinter ihrem Palast stand jeweils am Mittwoch ein Bücherbus. Als sie im Garten spazierte, sprangen ihre Hunde laut bellend auf den Bus los. Die Queen entschuldigte sich bei Mister Hutchings, der Interessierte mit Büchern versorgte, für den lauten Lärm der Tiere. Hutchings erkannte die Majestät und verneigte sich. Im Augenblick als sie eintrat war nur gerade ein Kunde im Bus, nämlich ein Küchenbursche der Königin. Sie sollte den Bücherbus nicht verlassen, dachte sie, ohne ein Leseexemplar auszuleihen. Schliesslich wählte sie einen recht dürren Roman einer Schriftstellerin, die sie früher einmal geadelt hatte. Als sie am nächsten Mittwoch das Buch zurückbrachte, fragte Hutchings, ob es ihr gefallen habe. Es sei ein bisschen trocken, antwortete sie. Der Ausleihbeamte nickte und erkühnte sich zu fragen, ob sie es unter diesen Umständen doch gelesen habe. «Na, bis zum Ende. Wenn ich ein Buch anfange, dann lese ich es auch bis zum Schluss. So bin ich erzogen worden: Bücher, Butterbrote, Kartoffelbrei – was auf dem Teller ist, wird aufgegessen. Das war schon immer meine Philosophie.»

Wieder spürte sie, dass sie auch diesmal nicht ohne Buch weggehen konnte. Obwohl ratlos, was sie denn auswählen sollte, fiel ihr von Nancy Mitford «Englische Liebschaften» in die Hände. Dieses Buch «erwies sich als auf seine Weise bedeutsamer Glücksgriff.» Die Queen entdeckte das Lesen und spürte auf einmal, wie jedes neue Buch ein Fenster in die Welt öffnet. Die Hofschranzen beobachteten die Leselust der Königin mit Misstrauen, denn sie nahm die Repräsentationsaufgaben zwar als Pflicht wahr, aber sie machten ihr auf einmal keinen Spass mehr. Und als sie gar bei den Begegnungen mit Honoratioren die Frage zu stellen begann: «Was lesen Sie?» und die Herren damit in Verlegenheit brachte, sannen sie nach, wie sie das ändern könnten.
Nun ging es Ihrer Majestät wie den Zugern, die im «Apéro», der wöchentlichen Beilage ihrer Zeitung, lesen, dass der Bücherbus am Landsgemeindeplatz stehe. Wenn sie aber hingehen und beim Flanieren ein Buch ausleihen möchten, steht er nicht mehr da. Als die Queen ihren Diener zum Bücherbus schickte, fand er ihn nicht mehr hinter dem Palast. Das war ein Rückschlag. Am Hof sagte man, das Verschwinden sei eine Folge der Mittelkürzungen. Die Queen aber gab nicht auf. Sie las weiterhin Bücher. Das können die Zuger auch, aber sie müssen zur Kenntnis nehmen, dass der Bücherbus weder in Hünenberg noch in Baar oder Oberägeri steht wie früher, sondern wegen geringer Defekte ausser Funktion gesetzt worden ist. Das Fehlen würden Köche und Hobbyköche, Sammler, Lehrer, Schüler, Studenten und Senioren bedauern, aber auch Feriengäste, die bewundert hatten, dass es in Zug die kulturelle Einrichtung des Bücherbusses gibt, sagte man mir.

Das Buch erfüllt in perfekter Weise das Gleichheitsgesetz der Bundesverfassung. Ihm ist es völlig Wurst, ob es von einem Landammann oder einem Küchengehilfe gelesen wird. Vor dem Buch sind alle Leser gleich. Auch die Queen erkannte dies und nannte es ein demokratisches Hilfsmittel. Die Queen nahm auf ihrer Fahrt zur Kronrede ein Buch mit. Als sie nach der Rede das Buch in der Kutsche suchte, war es verschwunden. Die Sicherheitsbeamten hatten es entdeckt und glaubten, in ihm sei eine Bombe versteckt. Als dies die Queen erfuhr, sagte sie: «Ja. Genau das ist es auch. Ein Buch ist ein Sprengsatz, um die Phantasie freizusetzen.» Ein anderes Mal meinte sie, sie lese, weil man zu ergründen verpflichtet sei, wie die Menschen sind.

Das kleine Werk, würde dem oben erwähnten Regierungsrat nur gerade zwei, drei Stunden von seiner Zeit stehlen, aber es würde ihm, dem Pensionierten, unglaublich viele Erkenntnisse über den Hofstaat, die Beamtenschaft, dem Fühlen und Trachten der Menschen geben und ihn mit Einsichten bereichern, die er nicht aus den Fingern saugen kann. Schade nur, dass man in Zug nicht ein paar tausend Franken aufbringt, um den Bücherbus, der von Begeisterten gratis betreut wird, wieder flott zu machen.

 

erschienen in: Neue Luzerner Zeitung

 

Zuchaba ist keine chinesische Stadt

publiziert: 27.06.09

Der technische Fortschritt, obwohl sehr zwiespältig, ist irreversibel. Er ist nicht umkehrbar. Die Welt läuft nicht rückwärts. Je dynamischer sie sich entwickelt, umso grösser wird das Verlangen nach noch mehr Fortschritt. In diesen Sog gerät die ganze Welt. Verwirrt steht der ältere Mensch, der in jungen Jahren in einer relativ geschlossenen Region seine Identität gefunden hat, vor den umwälzenden Änderungen. Das Gloria ist verklungen, sagt der Schriftsteller Martin Stadler. In seinem neuen bemerkenswerten Werk «Sprachsuche im Ring der eigenen Region» schildert er, wie die Ringe der Innerschweiz aufgesprungen sind.

Mein Viertklasslehrer, Hans Schmucki, erzählte uns Buben mit rollenden Augen, und das ist sechzig Jahre her, es werde einmal eine Stadt «Zuchaba» geben. War das etwa chinesisch? Nein, es was die Abkürzung von Zug-Cham-Baar als eine Stadt. Schmucki ahnte, dass sich auf dem Weg zum Gotthard Zukunft ereignen würde. Wie sich der Raum Zug entwickeln würde, sah er nicht exakt voraus. Dem St. Galler Professor Kneschaurek hätte er glatt widersprochen und seine Prognose über die Bevölkerungsentwicklung von 160’000 Menschen für den Kanton Zug als Utopie abgetan. Und, wo stehen wir heute?

In der Innerschweiz hat sich ein Mentalitätswechsel vollzogen. Gleichzeitig mit dem Aufkommen von Internet und Handy (stellvertretend als Symbole für den Wandel), hat sich das Bewusstsein der ganzen Region verändert. Das Verlangen nach Fortschritt ist auch hier progressiv geworden, und deshalb schliessen sich die Regionen stärker einem Grossraum an. Im Vordergrund steht die Agglomeration Zürich, die einen magischen Sog auch auf die Innerschweiz, die zur Zentralschweiz geworden ist, ausübt. Wer zur Verkehrsspitzenzeit auf einem Bahnhof steht, beobachtet, wie die Züge Menschenmengen «ausspucken». Sie verschieben sich auf den Achsen Pfäffikon-Zürich, Gotthard-Zürich und Luzern-Zürich zu den Arbeitsplätzen, hin und zurück. Feinadrig, wie die Blutbahnen im Körper scheinen die Regionen ihre räumlich-funktionale Entwicklung auf die Zentren auszurichten. Doch nicht auf ein einziges wie der Blutkreis es macht.

Bedeutet dies, dass sich die Extreme, die Randgebiete entleeren? Wieso stehen denn dort auch überall Baukrane? Die Menschen, die in den Zentren arbeiten, suchen am Abend und über das Wochenende den Ausgleich und die Ruhe, Erholung und Entspannung, und wollen in überschaubaren Verhältnissen eingebettet sein, sie suchen eine Heimat. Der arbeitende Mensch zieht sich gerne zurück, und da bieten sich die noch unbebauten Landschaften an. Dort ist gut sein, dort weht ein ruhiger Wind, dort findet der Mensch sich selbst.

Die Ballungszentren und die Randgebiete sind für den einzelnen Menschen wie kommunizierende Röhren. Wer aber glaubt, dass nur in den Städten ein reges Leben herrscht, täuscht sich. In den vergangenen Jahren entwickelte sich in den ländlichen Regionen sehr viel Eigeninitiative. Kleinunternehmer, Bauern und moderne Betriebe, die nicht auf Städte angewiesen sind, haben kreativ Neues geschaffen. Die Städter vergessen oft, dass es eigenständige, selbstbewusste Einwohner sind, die ihre ländliche Region sozial, kulturell und gesellschaftlich gestalten. Landbewohner brauchen sich nicht zu verkriechen. Die Zentralschweiz ist in den letzten Jahren durch eigene Anstrengungen zu einem neuen Selbstbewusstsein gelangt und sieht sich, obwohl auf grössere Wirtschaftsräume ausgerichtet, als starke, autochthone Region.

 

erschienen in: Neue Luzerner Zeitung

 

Il sudore della Svizzera

publiziert: 09.06.09

Kürzlich war ich wieder einmal in Süditalien und besuchte einen alten Bekannten, der ein eigenes Haus besitzt. Als ich ihn fragte, wie er es denn geschafft habe, antwortete er knapp und einfach: «Il sudore della Svizzera». Also hat «Der Schweiss der (Arbeit) in der Schweiz» ihm dazu verholfen. Pino war vor fünfundvierzig Jahren als Hilfsarbeiter in unser Land eingewandert und fand eine Stelle als Lagerist bei Ciba-Geigy. Er war jung, seine Frau sogar sehr jung. Mit 18 Jahren hatte sie schon zwei Kindern das Leben geschenkt. Ich wohnte damals mit meiner Familie in einem Reiheneinfamilienhaus in Muttenz, das meinem Freund gehörte. Wir suchten Untermieter, da wir knapp bei Kasse waren. Pino und Anna meldeten sich auf die Annonce. Wir verbrachten drei gute Jahre unter dem gleichen Dach. Eines Tages brachte die Grossmutter die beiden Kinder in die Schweiz, und so wurde die Art Wohngemeinschaft noch grösser. Davon aber soll hier nicht die Rede sein.

Pino war ein ruhiger, stiller und zuverlässiger Mann. Schon bald wurde er befördert, fuhr Gabelstapler und arbeitete sich vom Arbeiter zum Magaziner hoch. Die Familie lebte sehr sparsam. Als Pino pensioniert wurde, zog es ihn zurück in die Heimat, nach Marina di Ginosa. Die zwei jüngsten Töchter, die in der Schweiz zur Welt gekommen waren, gingen schweren Herzens mit. Die zwei Grossen blieben in der Schweiz.

Die Eltern leben heute mit den beiden Jüngsten in einer Familiengemeinschaft, in einem schönen, gut gepflegten Haus, das gerade genug Platz für vier Erwachsene bietet. Die hübschen Töchter haben selbstverständlich einen Freund, aber heiraten wollen sie nicht. Sie könnten es sich nicht leisten, meinen sie. Nach vierzig Jahren gab es also in der Provinz Tarent, im Stiefel, ein herzliches Wiedersehen mit den liebenswürdigen Italienern.

Sind Sie schon in Alberobello gewesen, in der Stadt der Trulli, der Rundbauten, von denen den überschwängliche Dichter Gabriele D’Annunzio geschrieben hat: «Ich möchte die Kuppel im Inneren vergolden lassen, mich auf die nackte Erde legen und so auf den Tod warten.»? Touristen strömen in die noch gut erhaltenen, sehenswürdigen Stadtteile, die aber kaum bewohnt werden. Sie bewundern die Kegeldächer mit den Symbolen der Sonne und der Dreieinigkeit, mit Fialen, die die Giebel krönen. Erzählt man einem Schweizer, der Alberobello kennt, vom Besuch der Stadt Besuch, bekommt er wässerige Augen. Aber statt unter einer vergoldeten Kuppel zu sterben, würde er wohl lieber guten Wein trinken und Spaghetti essen.

Zurück zu Anna und Pino und zu den zwei Töchtern. Ihre Freude über das Wiedersehen war riesengross. Ich wurde als «Erstklass-Gast» bewirtet und wurde selbstverständlich im Haus herumgeführt. Was sich da alles angesammelt hatte! Es waren Erinnerungsstücke aus der Schweiz. Geschenke von lieben, unvergessenen Bekannten aus dem Baselbiet hingen an den Wänden oder standen auf den Treppen zu den Schlafzimmern. Für jedes Detail fand sich eine Erklärung. Im kleinen Garten gedeihen auch im hintersten Winkel noch Gewürze und Gemüse. Orangen- und Zitronenbäume stehen in jeder Ecke. Alles wirkte gepflegt, wie in einem schweizerischen Schrebergarten.

In Pinos Augen ist die Schweiz das Paradies, das Land, dem er viel zu verdanken hat. Ja, es sei eine schöne Zeit gewesen, damals. Zwar viel Arbeit! Der Stolz war mächtig, dem Schweizer zeigen zu dürfen, was der Hände Schweiss geschaffen hat. Wenn ich den Töchtern glauben darf, sei ihr Vater vorher nie so stolz durch Tarent flaniert wie in meiner Begleitung.

Gibt es denn im südlichen Idyll keine Schattenseiten? Wenn ich schon nur an den mageren Verdienst der jungen Frauen denke, gibt es sie durchaus. Und obwohl ihre Schönheit je einen Mann verzaubert hatte, sind die Verhältnisse prekär. Eine der beiden hat eine 80-Prozentstelle. Sie musste seinerzeit eine Vereinbarung unterzeichnen, dass sie 1300 Euro Monatslohn beziehe, aber der Chef zahlt in Wirklichkeit nur dreihundert. Er drohte mit der Entlassung, falls sie sich wehre. Da schimmert etwas von jenem Italien durch, das wir verabscheuen. Die jüngere Schwester verdient ein Geringes, in dem sie Kinder hütet. Sie seufzte während meines Besuchs: Vielleicht wären wir doch besser in der Schweiz geblieben …

Aber Marina di Ginosa liegt sehr schön an einem langen Sandstrand. Vielleicht ist ein Leben mit wenig Geld, dafür mit Sonne und Meer doch besser, als eines im Nebel und voller Stress? Vaters Schweiss hat der Familie ein stabiles Dach über dem Kopf und guten Zusammenhalt ermöglicht.

Ich lud die ganze Familie und die Freunde der Töchter zum Essen ein. In Mottola wartete ein Tisch auf uns. Wir fuhren ungefähr vierzig Kilometer. Ich sass im Wagen von Griseldas Freund. Er ist Bauer, hat viele Hektaren Land. An zwei Kilo Tomaten verdiene er wenige Cents. Wir sprachen über die Lebensunterhaltungskosten. Sie würden günstig leben, meinte er. Um Viertel vor neun sassen wir dann am Tisch unter einem Tonnengewölbe. Es gab ein Essen mit sieben Gängen, alles beste Qualität. Wein und Saft wurde aufgetragen. Wir assen wie die Fürsten. Während der Mahlzeit überlegte ich mir immer wieder, ob das Geld, das ich dem Bancomat entnommen hatte, reichen würde. Ich überschlug alles. Als die Rechnung gebracht wurde, bezahlte ich 156 Euro. Ich schmunzelte froh und bezahlte leichten Herzens, ohne an den Schweiss meiner früheren Arbeit zu denken.

 

erschienen in: Neue Luzerner Zeitung

 

Vom Gegenüberglück

publiziert: 15.04.09

Warum macht die Fernsehsendung «Arena» jeweils kaum froh, geschweige denn glücklich? Die Antwort scheint einfach: weil kein echtes Gespräch stattfindet. Den Teilnehmern geht es um ihre Machtposition, um den Versuch sich durchzusetzen. Zufrieden ist höchstens der, der seine eigene Meinung gut vertreten sieht. Der neutrale Zuschauer lächelt gelegentlich, wenn er beobachtet, wie die Figuren in der ersten Reihe der Arena ihre vorbereiteten Statements möglichst effektvoll vortragen, und Zeuge wird, wie sie im Äther verdampfen.

Als ich vor vielen Jahren einmal in einer Fernsehsendung auftrat, wurde ich vorgängig zu einem Medientraining eingeladen: «Sie müssen Ihre Botschaft bereits mit den ersten Sätzen klar und unmissverständlich anbringen», sagte der Coach zu mir, «dann wiederholen Sie diese im Verlauf der Sendung mehrmals. Auf die Argumente der Gegner brauchen Sie nicht einzugehen.» In der damaligen Sendung ging es um den Ausbau der Autobahn durch das Knonaueramt. Die Empfehlung des Coachs befolgte ich dann allerdings nicht. Als mein Gegenüber, Nationalrat Herbert Mäder, drei- oder viermal das gleiche Argument vortrug, überraschte ich ihn mit einem spontanen Einfall: «Sie sind doch ein wunderbarer Fotograph! Ihre Aufnahmen aus der Alpenwelt sind derart prächtig! Und wenn Sie von weit oben auf die Ebene schauen, dann braucht die Autobahn nur gerade einen schmalen Streifen durch die Landschaft. Dieser sammelt die Autos und entlastet dafür die Dörfer.» So verdutzte ich ihn. Nach der Sendung hielten wir uns im Gang auf. Da umarmte mich Herbert spontan und sagte: «Du hast meine Bücher gelobt. Ein anderer hätte mich fertig gemacht. Ich danke dir.» Mir wurde damals bewusst, dass es Siege gibt, ohne jemand zu besiegen.

Nicht von ungefähr fällt mir diese spezielle Begegnung jetzt wieder ein, da ich ein Wort in den Mittelpunkt rücken möchte, das auf einen ganz besondere Art und Weise aufnimmt, was geschieht, wenn ein Mensch von der Gegenseite her denkt. Das Wort heisst «Gegenüberglück» und ist eine wunderbare Sprachschöpfung, ein Neologismus. Der Mensch erfährt es im Gespräch, wenn der Dialog an einen Punkt gelangt, der die Tiefe eines Problems oder des Menschseins berührt. Dies kann nur gelingen, wenn sich die Gesprächpartner ernst nehmen und bereit sind zuzuhören und offen zu sein. Wer nicht damit rechnet, der andere könne recht haben, verweigert sich im Grunde dem echten Gespräch.

Jedes Gespräch wirft Fragen auf, und diese führen es weiter. So lässt man sich zwar auf das Wagnis ein, Unrecht zu bekommen, aber auch auf den Reichtum eines anderen Denkens und des eigenen Nachdenkens ein. Wer es vorzieht, nur Antworten zu geben oder zu erhalten, schliesst sich im Grunde aus.

Ich unterscheide hier zwischen Wissens- und Lebensfragen. Die Frage zum Beispiel, welcher Papst den Auftrag zum Bau des Petersdoms erteilt hat, gehört ins Gebiet des Wissens. Die Antwort findet man in jedem Lexikon oder im Internet. Wenn zwei Menschen zusammensitzen, weiss der eine vielleicht mehr als der andere. Mit seiner Art, wie er über bestimmte Dinge spricht, verblüfft er zwischendurch sein Gegenüber. Aber ist er ihm deshalb auch im Bereich der Lebensfragen überlegen? Lebensfragen berühren die Existenz des Menschen, die Lebensgestaltung, die Beziehung, die Liebe, die Arbeit, den Lebenskampf und den Tod. Diesen Fragen ist nicht allein mit Wissen beizukommen. Dafür braucht der Mensch eine gesunde Urteilskraft und muss weiss Gott kein Studierter sein.

Antworten zu Lebensfragen sind stets vorläufig, weil das Leben bis zum Tod vorläufig bleibt. Solang wir in der Fülle des Lebens stehen, tritt der Tod als Gedanke in den Hintergrund und doch ist er stets präsent. Das Denken bleibt ihm ausgesetzt. Die Phantasie nährt sich vom Gedanken, wie es nach dem Leben weitergeht. Philosophie, Religion und selbst Romane sind ohne den Tod kaum denkbar. Angesichts des Todes steht der Mensch vor der letzten und zentralsten Frage, für die es keine endgültige Antwort gibt. Der Evangelist Markus (auch Matthäus, durch den Psalmisten schon vorgeprägt) drückt die Situation mit einfachen Worten aus: «Um die neunte Stunde rief Jesus mit lauter Stimme aus: ‹Eloi, eloi, lama sabachthani!›, d. h. ‹Mein Gott, Mein Gott, warum hast Du mich verlassen?›» Der Menschensohn stellt da die endgültigste Frage. Der Schrei Jesu am Kreuz schlägt dann allerdings um in den Osterjubel. Der Tod ist vollbracht und zugleich überwunden. Der HERR hat den Menschen, «seit er ihn aus dem Mutterschosse liess», in Todesstaub gebettet, wie es in Psalm 22 heisst, und dennoch vertraut er auf ihn. «HERR, nie bleibe fern von mir, denn nahe ist die Bedrängnis und kein Helfer ist da.» Schon wächst der Zweifel also wieder, und das Fragen beginnt von neuem.

Deshalb ruft das Sein zum Tod bereits im Leben nach Momenten, in denen sich der Mensch mit seinen Fragen verstanden und aufgehoben fühlt. Es sind jene Augenblicke, wenn ein Partner im Gespräch auf ihn eingeht, ihm Anerkennung, ja Erkennung schenkt. Sie bilden das «Gegenüberglück.» Sebastian Kleinschmidt* hat wunderbar einfühlsam formuliert, was sich ereignen kann: «Vor jeder Begegnung, die beglückt, weil sie etwas befreit, das unerkannt in uns gefangen ist, liegen die Zufallswege, die zu ihr führen.» Welches sind die Wege, die zu einer tiefen und beglückenden Begegnung führen? Sind sie in den Sternen vorgezeichnet? Zufallswege sind es.

Der Mensch ist nicht nur auf der «Suche nach der verlorenen Zeit» (Marcel Proust), er ist stets auf der Suche nach dem «Gegenüberglück», das ihm ein anerkennendes, erkennendes Gespräch schenkt. Er ist vom Wunsch getrieben, das unerkannt in ihm Gefangene zu befreien, seinen Schatten zu erkennen.

* Sebastian Kleinschmidt: Gegenüberglück. Essays. Matthes & Seitz, Berlin 2008.

 

erschienen in: Neue Luzerner Zeitung

 

Paradoxe Welten

publiziert: 24.02.09

Vor Jahren sass ich an der Fastnacht um vier Uhr in der Früh im «Kreuz» zu Unterägeri mit zwei Tänzerinnen an einem Tisch. Ich schlürfte eine Mehlsuppe, um wieder etwas Verstand in meinen Kopf zu bringen. Als es auf einmal in meinem Gehirn endlich klickte, sagte ich laut: «Schon noch paradox…» Die beiden im Maskenkleid schauten mich mit grossen Augen an, die Schminke auf den Wimpern schon etwas verschmiert, die roten Tupfen auf der Nase und den Wangen glänzten. Sie dachten wohl: «Und das soll lustig sein? Er schminkt sich wieder mit einem Fremdwort!», und blickten verlegen auf den Teller. Die eine wollte aber dann doch noch wissen, was paradox sei. «Paradox bedeutet unverständlich, widersprüchlich, wie zum Beispiel: ‹Der Starke ist der Schwache›.» «In der Tat ein Widerspruch», neckte sie. Und als ich die Pause genüsslich dehnte, tönte es über den Tisch: «Soll das nun ein Witz sein?» «Nein! Natürlich nicht. Habt ihr schon einen starken Mann gesehen, der nicht schwach geworden ist?» Nun brach lautes Gelächter aus.

Der Aufklärer will mit Hilfe eines Paradox’, dass sein Publikum eine neue Erkenntnis gewinnt. Und da ein paradoxer Satz meist unverständlich ist und doch ein Nachdenken auslösen will, frage ich mich, ob nicht sogar ein derart unbedarfter Slogan wie: «Freipass für alle», nicht auch paradox sei. Beim besten Willen ist unverständlich, wer denn «Alle» sind. Die Krähen auf dem Plakat, das bis zum 8. Februar überall zu sehen war, wirkten so gross, dass sie den Bissen, der das Schweizlein darstellte, ruck, zuck hätten verschlucken können, was mir auch heute noch paradox vorkommt.

Wollte man alle unverständlichen Argumente, die während dem letzten Abstimmungskampf in Reden oder in Leserbriefen vorgetragen wurden, zusammentragen, würde man den Ohren und den Augen nicht trauen. Nehmen wir nur die Polemik Christoph Blochers, mit der er seinen Auftritt am letzten Tag im Januar in Frauenfeld garniert hat. Er warf in seiner unnachahmlichen Art der SVP Thurgau vor, sie sei «faules Nest». Er nannte namentlich die Nationalräte Peter Spuhler und Hansjörg Walter. Sie hätten «kein Rückgrat». Worauf Peter Spuhler den Spiess umdrehte und erwiderte, Blocher habe sich an der Delegiertenversammlung in Brig «mit Händen und Füssen» für den freien Personenverkehr Schweiz-EU gewehrt, um dann ein paar Monate später, in Dietikon, eine radikale Kehrtwendung zu machen. Er, Peter Spuhler, hingegen habe sich immer für den freien Personenverkehr ausgesprochen. Wer habe nun, fragte der Nationalrat, mehr Rückgrat? Da waren wir alle Zeugen eines Wischiwaschis auf höchstem Niveau.

Die schlaue Schweizer Politik hat inzwischen einen Begriff erfunden, um das Diktat der EU zu vertuschen. Sie nennt die Übernahme von EU-Recht einen «Autonomen Nachvollzug». Viele der Gegner stimmen jeweils der Gesetzesanpassung im Parlament knirschend, aber kaum hörbar zu. Der Begriff «Autonomer Nachvollzug» ist paradox. Ohne zu verschleiern und zu verwedeln würde die Bezeichnung nämlich schlicht und einfach heissen: Übernahme von fremdem Recht. Bei solcher Augenwischerei darf wohl der Aphorismus von Markus M. Ronner zitiert werden: «Es gibt Menschen, die sich eine dicke Haut zugelegt haben, dass sie auch ohne Rückgrat aufrecht stehen können.» Die Schweiz sitzt inzwischen mit einer dicken Haut der EU gegenüber.

Nach der Abstimmung über die Ausdehnung der Personenfreizügigkeit auf Rumänien und Bulgarien meinte Toni Brunner, die SVP habe nicht verloren, sondern dürfe sich zu den Gewinnern zählen. Und schon stehen wir vor einer weiteren paradoxen Tatsache. Wer verliert, hat gewonnen! Das scheint aber nur auf den ersten Blick widersprüchlich, denn haben Sie schon einen schwachen Mann erlebt, der nicht so tut, als sei er stark? Durchleuchtet man Toni Brunners Aussage, bemerkt man, dass die Abstimmung nicht der Sache galt, sondern der SVP-Wahlstrategie. Und schon stehen wir wieder vor einem Paradox. Man gibt vor, dem Land zu dienen und dient sich selber – als Partei.

In letzter Zeit hatten wir reichlich Gelegenheit, in paradoxen Welten herumzuirren und durch Schaumwelten zu waten. Da wurde doch der Novartis Chef von Radio Vatikan beauftragt, als Externer einmal wöchentlich einen Kommentar abzugeben, der aus einer «ethischen Perspektive» erfolgen sollte. Dieser Auftritt hätte Daniel Vasella die einmalige Chance geboten, Urbi et Orbi zu verkünden, dass auch grosse, global tätige Firmen ethisch einwandfrei handeln. Nachträglich realisierte der sonst gut informierte Vatikan, dass Novartis Verhütungsmittel herstellt. Sofort wurde der Auserwählte ausgeladen. Was daran paradox ist, muss nicht erklärt werden, ganz schlicht gesagt: Wer nicht mit der Ogino-Knaus-Methode verhütet, die auf dem Menstruationszyklus der Frau beruht, sündigt. Die Firma in Basel hilft kräftig nach. Nebenbei: Die anderen Entscheidungen, die der Vatikan in den vergangenen Wochen gefällt hat, sind nicht etwa paradox, denn sie entsprechen der Logik der Macht.

Wenn meine Kolumne schon wie eine Glosse ausgeht, dann möchte ich nicht auf eine hübsche Geschichte verzichten, die in Friedrich Hebbels umfangreichen Tagebüchern zu finden ist. Er, der Tagebuchschreiber, habe ein Mädchen schreien hören, das er dann aus den «aufgedrungenen Umarmungen eines Mannes errettete». Es sei ihm nachher selbst um den Hals gefallen und habe gesagt, «es ist ja nicht um das bisschen Arbeit, sondern um mein Kleid, welches schmutzig wird.» Und der Dichter folgerte: «Ich glaubte, eine Unschuld zu retten und rettete – einen Unterrock.»

 

erschienen in: Neue Luzerner Zeitung

 

Friede sei mit Euch!

publiziert: 28.01.09

Und der Priester oder Diakon am Altar ruft die Gläubigen auf, sich zum Zeichen des Friedens die Hand zu geben. Die Leute drehen sich nach rechts und nach links und manchmal sogar nach hinten. Sie drücken sich die Hände und lächeln friedlich. Doch verfeindete Nachbarn oder Menschen, die auch im Streit liegen, werden beim Betreten der Kirche darauf achten, dass sie ja nicht in der gleichen Bank sitzen und stehen werden, sie gehen einander aus dem Weg.

Der Friede kann nicht von oben dekretiert werden. Friede gedeiht nur unter bestimmten Voraussetzungen. Kriege werden diktiert, Friede kann nicht verordnet werden, er muss bestellt werden wie ein Acker. Während das Unkraut vertilgt werden kann, lässt sich das Gras nicht aus der Erde ziehen.

Der Friede ist ein Resultat des Umwegs. Die Bomben, die auf den Feind abgeworfen werden, fliegen direkt, ballistisch exakt berechnet auf das Ziel zu. Sie nehmen den kürzesten Weg. Hans Blumenberg schreibt einmal: «Die vermeintliche ‹Lebenskunst› der kürzesten Wege ist in der Konsequenz ihrer Ausschlüsse Barbarei.» Was wird ausgeschlossen, wenn Raketen oder Bomben abgefeuert werden? Der Schreckensschrei eines Menschen, der getroffen wird. Der von allen Patienten sehr geschätzte palästinische Gynäkologe Isssadin Abu-al-Aisch, der früher in einem Krankenhaus in Gaza wie sogar in Tel-Aviv praktizierte, wurde in den letzten Jahren immer wieder vom privaten israelischen Fernsehen Channel 10 wegen seinen sachlichen Analysen gerne befragt. Mitte Januar, während eines Interviews, erfuhr der Reporter, eben habe eine Bombe in das Haus des Arztes eingeschlagen und drei seiner Töchter, einen Bruder und einen Neffen getötet. Mit schmerzverzehrtem Gesicht rief der Vater: «Meine Mädchen, oh Gott, sie haben meine Mädchen getötet. Warum, warum nur? … Diese kleinen Mädchen feuerten Lachen und Liebe und Frieden ab, sonst gar nichts.» Fassungslos schaute er in die Stuben der Fernsehzuschauer herein, und was diese sahen, war über den Umweg des Bildschirms das schreckliche Gesicht des Kriegs.

Wir zitieren gelegentlich das geflügelte Wort: «Der Krieg ist der Vater aller Dinge.» Ist der Krieg auch der Vater des Friedens? Das jüngste Bombardement im Gazastreifen hat die Weltbevölkerung aufgerüttelt. Der zerstörerische Bombenhagel und die Raketenstiche liessen nicht alle wegschauen. Der Druck auf die Kriegsparteien nimmt inzwischen zu, und selbst israelitische Stimmen betonen, die Waffengewalt werde nie zum Frieden führen. David Grossmann, der mit seinen Jugendbüchern auch bei uns bekannt geworden ist, schrieb kürzlich in einem Artikel: «Israel muss auch mit denen sprechen, die uns zu zerstören suchen.» Damit schickt er seine Landsleute auf einen gewaltigen Umweg, auf den Umweg zu langwierigen Gesprächen. Kein Diktat wird Frieden schaffen, auch nicht jenes der USA oder der Uno.

Vielleicht wird dieser grässliche Krieg tatsächlich zum Vater eines neuen Prozesses im Nahen Osten. Ohne die Raketen aus dem Gazastreifen und den Einmarsch der israelischen Truppen wäre keine weltweite Debatte zustande gekommen. Der Gazastreifen bliebe eingekesselt, gettoisiert und isoliert. Der unwürdige Zustand des kleinen Volkes, dem die Selbstachtung abhanden gekommen ist, würde weiter dauern. Menschen ohne Selbstachtung sind verführbar. Sie lassen sich vom Fanatismus einnehmen. Was haben sie schon zu verlieren? Überall dort, wo es einer Führungsclique gelingt, Macht mit Religion und Märtyrerphantasien zu koppeln, wachsen künftige Terroristen heran. Wenn die Religion aber nicht im Dienst der Macht steht, kann sie auch eine heilende und versöhnende Rolle spielen.

Wir geben uns oft zu wenig Rechenschaft über den langen Weg, den die westliche Welt zu einem heute aufgeklärten Selbstverständnis zurückgelegt hat. Wir fordern Toleranz unseren Ideen gegenüber. Dass sich die Toleranzidee durchgesetzt hat, war aber das Ergebnis der Diskussion nach den englischen Religionskriegen im 17. Jahrhundert. Früh formierte sich eine verbreitete Opposition gegen die Religionspolitik der Regierung und der Anglikaner. Weitsichtige Männer forderten die strikte Trennung von Kirche und Staat. Sie wurde zur Grundlage der Meinungs- und Gewissensfreiheit. Man sprach den Volksvertretern sogar die Macht und das Recht zu, über die Duldung von Meinungen zu urteilen. Diese Urteile durften nicht willkürlich gefällt werden und hatten unter rechtsstaatlichen Kriterien zu erfolgen. Damit war ein weiterer Schritt zum heutigen Rechtsverständnis geschaffen. Und doch … Neue Mächtigen gaben den Befehl zu einem neuen Krieg, diktierten ihn. Sogar der schweizerische Weg führte über den Sonderbundskrieg von 1847 bis zur Gründung unseres Staates mit seiner Verfassung.

Die innere und äussere Sicherheit ist die Grundlage und das Fundament für jeden Staat. Sicherheit ist auch die Basis für das menschliche Werden. Ohne Sicherheit entfaltet der Mensch nicht, was in ihm steckt. Wie der Mensch, so verlangt jedes Volk einen gewissen Raum für die eigene Verwirklichung. Soll also im Nahen Osten Frieden entstehen, muss der gegenseitige Freiheitsraum ausgehandelt werden.

Wenn wir in Gottesdiensten zum Zeichen des Friedens die Hand geben, vergessen wir leicht, dass es Jahrhunderte gedauert hat, bis dieser Händedruck selbstverständlich wurde. Wie viele Theologen ringen aber heutzutage zum Beispiel wieder um das ökumenische Verständnis. Daneben gibt es Kreise, die ihren Gott gepachtet haben und glauben, derjenige der andern sei minderwertig. Neue Wunden werden geschlagen, für die kein Arzt, auch Issadin Abu-al-Aisch aus Gaza, ein Rezept hat.

 

erschienen in: Neue Luzerner Zeitung

 

Schreiben wie ein «verarmter Gott» *

publiziert: 07.01.09

Schickt mir jemand einen anonymen Brief, weiss ich zwar nicht, wer ihn geschrieben hat, aber ich errate immerhin wes Geistes Kind der Verfasser ist. Die Sprache ist Ausdruck des Menschen. Wie sich jemand ausdrückt, so ist er. Man kann sich zwar hinter der Sprache verstecken, trinkt einer aber ein Glas Wein zuviel, löst sich die Zunge und befreit die Wörter, die auf dem Magen liegen. Beim Anhören einer Rede, in der ein Satz wie z.B.: «Das schleckt keine Geiss weg!», vorkommt, wird mir regelmässig schwindlig. Ich muss es mundartlich sagen, es wird mir «drümmlig». Ich stelle mir dann vor, wie die Ziege die geschönten Zahlen im Budget wegschleckt oder die verdeckten Kosten der NEAT.

Dichter, Schriftsteller und Journalisten, die sich nicht an den Satz von Ernst Weiss halten, der schon 1922 gesagt hat: «Die Sprache muss über uns wandeln wie ein verarmter Gott», irritieren ihre Leserinnen und Leser. Uwe Tellkamp, Arzt und Autor, hat diesen Herbst einen preisgekörnten Roman «Der Turm» herausgegeben, der 973 Seiten umfasst. Er beginnt so, bitte machen Sie sich auf ein längeres Zitat gefasst: «Suchend, der Strom schien sich zu straffen in der beginnenden Nacht, seine Haut knitterte und knisterte; es schien , als wolle er dem Wind vorgreifen, der sich in die Stadt erhob, wenn der Verkehr auf den Brücken schon bis auf wenige Autos und vereinzelte Strassenbahnen ausgedünnt war, dem Wind vom Meer, das die Sozialistische Union umschloss, das Rote Reich, den Archipel, durchädert durchwachsen durchwuchert von den Arterien Venen Kapillaren des Stroms, aus dem Meer gespeist, in der Nacht der Strom, der die Geräusche und Gedanken mit sich nahm auf schimmernder Oberfläche, das Lachen und den Ernst und die Heiterkeit ins sammelnde Dunkel; …» und wieder kein Punkt, sondern ein Strichpunkt, und dann fährt der Autor weiter, und der Leser ahnt kaum, auf welches Verb Tellkamp zusteuert. Käme ein solcher Satz in einer Rede vor, wäre es noch schwieriger ihn zu verstehen, denn man würde spätestens nach der ersten Hälfte den Faden verloren haben. Bei einem Text kann man immerhin nochmals von vorne zu lesen beginnen. Wahrscheinlich erwischte keiner den Schluss eines Satzes so geschickt, leitete nie einen Nebensatz im Gefüge falsch ein und steuerte auf das Verb, das überzeugen musste, so zielsicher hin, dass die Zuhörer nur staunten, wie der ehemalige Bundesrat Kurt Furgler. Ein brillanter Redner, der er gewesen war! Einzig die Parlamentssekretäre, die seine Voten im Stände- und Nationalrat haargenau stenographisch festhalten mussten, hatten mit dieser Sprache der langen Sätze ihre liebe Mühe. Wo sollten sie die Redeschlaufe abbrechen, wo einen Punkt setzen und dann mit einem neuen Satz beginnen? Wie konnten sie Furglers Schlangensätze lesetauglich aufnotieren?

Wenn Ernst Weiss sagt, die Sprache müsse über uns wandeln wie ein «verarmter Gott», dann meinte er nicht, sie solle phantasielos, einfältig sein und nur gerade ein Prädikat und ein Subjekt enthalten. Er ging ihm wohl darum, die Sprache nicht mit Eigenschaftswörtern zu überladen, sie sollte nicht gespreizt, nicht gestelzt daherkommen. Eigenschaftswörter sind meistens falsch. Sagt jemand von einer Frau, sie sei schön, dann heisst das nicht viel. Wird behauptet, die oder jener Herr, sei reich, weiss man nicht, welcher Standpunkt da eingenommen wird. «Reich sein» ist ein sehr relativer Begriff. Ein Schriftsteller oder ein Journalist, der viele Adjektive braucht, ist zu wenig präzise. Er habe einen schwammigen Stil, würde man sagen.

Ein im Sinn von Ernst Weiss «verarmter Gott» strafft die Sprache, hält sich an Verben, geht spärlich mit Füllwörtern um und sagt nicht, das schlecke keine Geiss weg, wenn es sich beim Schlecken nicht wirklich etwas zu schlecken gibt, etwa eine Handvoll Salz auf dem Schleckstein.

«Der kleine Prinz» von Antoine de Saint-Exupéry, der es seit 1943 auf Hunderte von Auflagen gebracht hat und immer noch gelesen wird, beginnt ohne Schnörkel: «Als ich sechs Jahre alt war, sah ich einmal in einem Buch über den Urwald, das ‹Erlebte Geschichten› hiess, ein prächtiges Bild. Es stellte eine Riesenschlange dar, wie sie ein Wildtier verschlang. Hier ist eine Kopie der Zeichnung. In dem Buch hiess es: ‹Die Boas verschlingen ihre Beute als Ganzes, ohne sie zu zerbeissen. Daraufhin können sie sich nicht mehr rühren und schlafen sechs Monate, um zu verdauen.›» Saint-Exupéry hätte sogar den Ausdruck prächtig weglassen können. Aber weil der Sechsjährige das Bild als überaus grossartig empfand, was den Erwachsenen wahrscheinlich nicht passiert wäre, ist es berechtigt. Der Leser kann weiterblättern und wird kaum auf weitere Adjektive stossen.

Das Bild mit dem verarmten Gott ist überraschend. Wer arm ist, der lebt nicht im Überfluss, viel eher an der Grenze des Existenzminimums. Die deutsche Sprache ist unglaublich vielfältig und reich. Niemand kann die gebräuchlichen Wörter zählen, und kaum ein Forscher weiss, wie viele im Laufe der Zeit verloren gegangen sind. Von Wolfgang von Goethe wird behauptet, er habe in seinem Werk weit mehr als 150’000 verschiedene Wörter verwendet, ohne seine Sprache zu überladen oder gar gespreizt daher zu kommen. Das «Schweizerische Idiotikon», das die deutsche Sprache der Schweiz vom Spätmittelalter bis ins 21. Jahrhundert dokumentiert, weist bis jetzt 15 dicke Bände auf und wird, zu Ende geführt, deren 17 umfassen. Der «Gott» der Sprache ist also sehr reich, und dennoch meint Ernst Weiss, man solle ihn wandeln lassen, als ob er verarmt wäre. Damit legt er sein Augenmerk auf eine Sprache, die präzise, knapp und ehrlich ist, ohne Füllwörter, Schnörkel und Girlanden. Sie muss ja nicht so einfältig sein wie die in einem anonymen Brief.

* Ernst Weiss: Die Kunst des Erzählens. suhrkamp taschenbuch 799, 1982.

 

erschienen in: Neue Luzerner Zeitung

 

Wer etwas bringt, ist willkommen *

publiziert: 05.01.09

Für den Wirtschaftskanton Zug war Johannes Mario Simmel der perfekte Zuzügler

Das Städtchen Zug, mit seinen fast 25’000 Einwohnern und ebenso vielen Arbeitsplätzen liegt am Sonnenhang, in mehrfacher Bedeutung des Wortes, mit Blick auf die Alpen, bis zum Eiger, Mönch und zur Jungfrau. Im Westen lacht das schweizerische Mittelland mit seinen sanften Hügelzügen, das an den weltberühmten Pilatus, dem Hausberg von Luzern, grenzt. Zu Füssen von Johannes Mario Simmels Wohnung liegt der Zugersee, über dem sich bei schönem Wetter ein Sonnenuntergang abspielt, der einen über vieles hinwegsehen lässt. Schöner als der Sonnenuntergang an der Riviera, wo Simmel lange gelebt hat, kann er freilich nicht sein, und darum wunderten sich manche, als der berühmte Autor seinen Wohnsitz 1983 von Monte Carlo nach Zug verlegte. Es wurde gemutmasst, das Steuerparadies habe ihn angelockt.

Doch das war es wohl nicht, was Simmel an den Zugersee zog, denn Monte Carlo kann es im Steuerwettbewerb durchaus aufnehmen mit Zug. Die meisten Zuger hörten es gern, als Simmel sagte, er sei in die Zentralschweiz gekommen, weil er hier die nötige Ruhe für sein Schreiben, Recherchieren und Nachdenken finde. Um Ruhe musste er nicht bemüht sein.

Johannes Mario Simmel war sehr willkommen. Die Kleinen – und der Kanton Zug ist flächenmässig der kleinste Kanton der Schweiz – fühlen sich aufgewertet, wenn weltberühmte Persönlichkeiten und reiche Leute Wohnsitz nehmen. Früh erkennten die Zuger, dass sie denen, die zuziehen Entfaltungsraum überlassen müssen. Und so konnten sich ungehindert grosse Firmen, Weltkonzerne und Briefkastenfirmen ansiedeln. Wer etwas bringt, ist willkommen. Wer mit einer Fama daherkommt, ist in Zug jemand. Jahr für Jahr figurieren einige Zuger unter den reichsten Personen der Schweiz. Meist sind es Ausländer. Das gibt auch denen, die wenig haben, seltsamerweise ein gesundes Selbstgefühl. Um die Stimmen kritischer Feuilletonisten kümmern sich die Zuger kaum. Man ist hier in einem Wirtschaftskanton und misst an neuen Fabrikgebäuden und Wohnungen ab, was teuer und wichtig ist.

Als bekannt wurde, dass der Weltautor still und leise ins Städtchen gezogen war, ging doch ein Raunen durch die Bevölkerung. Auch notorische Nichtleser hatten von Johannes Mario Simmel gehört, und viele Zuger kauften vom Stapel, der jedes Mal nach Erscheinen eines neuen Romans bei der Kasse in beiden Buchhandlungen lag, ein Werk. Und wieder hiess es, der neue Roman werde ein Bestseller.

Jahrelang hörte man von Johannes Mario Simmel praktisch nichts. Er trat nie öffentlich in Zug auf. Man las kaum ein Interview mit ihm, und wenn es eines gab, dann erfuhren die Zuger erneut von ihm, wie gut es sei, hier zu leben. Da lobte Simmel vor einigen Jahren die Schweiz in einem Interview mit der «Neuen Zuger Zeitung»: «Die Schweiz ist, verglichen mit dem, was in anderen Ländern passiert, immer noch ein Paradies. Ich kann hier schreiben, was ich will. Ich kann sagen, was ich will. Und wenn es einem nicht passt, dann soll er nicht hinhören.»

Wie sollte man nicht hinhören, wenn man als Paradies bezeichnet wird? Er sprach ja nicht über die Schattenseiten des Wirtschaftskantons, über die teuren Mietwohnungen, die exorbitanten Bodenpreise und die Wirtschaftskriminalität. Johannes Mario Simmel sagte nichts, was den Zugern nicht passte. Das sind genau die Persönlichkeiten, die man hier liebt.

Vor Jahren hingegen verweigerten sie die Ausgaben für einen Stadtbeobachter (Stadtschreiber). Die mittlerweile bekannte Autorin Zsuzsanna Gahse bekam dies zu spüren. Den Rechtskonservativen schwante, solch ein Beobachter, erst noch ein Literat, könnte schwarze Flecken im weissen Pelz finden. Dafür wollte man kein Geld zur Verfügung stellen.

Johannes Mario Simmel betätigte sich nicht als Stadtbeobachter. Sein Blick schweifte in die weite Welt, wo es Hunger, Klimakatastrophen, Kriege und Verderbnis gab. So bezeichnete er sich früher als «fröhlichen Pessimisten», liess dann aber das fröhlich weg, weil er glaubte, die Menschheit werde längerfristig nicht überleben. Man steuere sehenden Auges auf die Apokalypse zu. Da aber in Zug keine Neigung zum Dramatisieren zu erkennen ist, man auch eine Firma toleriert, die an der spanischen Küste das Meer verschmutzt hat, überhören und überlesen die Mitbewohner diese Kassandrarufe. Sie glauben nicht an die Vertreibung aus dem Paradies.

25 Jahre hat Johannes Mario Simmel in Zug gelebt, geschrieben, gearbeitet, mit seinen Büchern gewarnt, und als Reich-Ranicki sagte, Simmel habe eine politische Mission und könne deshalb nur schlechte Bücher schreiben, lachten die Zuger, nicht über Simmel, sondern über Reich-Ranicki. So ist das hier halt mit Menschen, die nicht auffallen, die man aber lieb hat, weil sie einem Glanz verschaffen. Es wird in Zug nach dem Tod des erfolgreichen Autors keine grosse Trauer herrschen, aber ihm würde, müsste einer über ihn reden, Achtung und Respekt entgegengebracht.

 

erschienen in: Süddeutsche Zeitung

 

2008

Ein Weihnachtsgeschenk im Zug

publiziert: 12.12.08

 

Max Huwyler und ich waren in Sursee in den Schnellzug gestiegen und plauderten gemütlich, wie es unter Literaten so üblich ist. Er erzählte mir vom kürzlich verstorbenen Sprachwissenschaftler Hans Glinz. Sein Fachgebiet war die deutsche Sprachdidaktik. Max hatte einen schönen, abgerundeten Nachruf geschrieben, den er gerne veröffentlicht hätte. Aber für die Zeitung war der Schweizer Sprachwissenschaftler zu wenig wichtig. Ach ja, ein Seufzer, aber da uns die geschlürften Stangen eher bierselig gemacht hatten, ging uns die Absage des Redaktors nicht allzu tief ins Herz. Der Sempachersee lag ruhig und glatt, ohne das Kräuseln von Wellen, die letzten rotgelben Blätter spiegelten sich im Wasser.

Kurz vor Luzern bereiteten wir uns auf das Umsteigen vor, zogen den Mantel an und gingen zum Ausgang. Da kam eine junge, hübsche Frau auf uns zu, redete einzig mich an, bekannte, dass sie meine Kolumnen schätzen würde (was mir sofort den Kamm wachsen liess) und überreichte mir ein Buch. «Das müssen Sie unbedingt lesen!» Ich: «Das Buch ist mir zu dick.» Sie: «Es ist aber grossartig. Sie können es so lange behalten, wie Sie wollen, ja, ein halbes Jahr.» «Ich werde darin schnüffeln.» Sie: «Ich will Sie nicht einem Lesezwang unterwerfen.» «Wäre noch!», dachte ich. «Aber, wie soll ich es Ihnen zurückschicken? Ich kenne Sie ja nicht.» Da öffnete sie den Wälzer und zeigte auf eine Karte, die auf dem Vorsatzblatt lag. Darauf hatte sie ihren Namen und Adresse geschrieben hatte. Und schon verabschiedete sie sich. «Aber … He … Sie !» Doch sie war bereits verschwunden. Endlich las ich den Titel des Buches: «Der Schwarze Schwan. Die Macht höchst unwahrscheinlicher Ereignisse», von einem Nassim Nicholas Taleb. Die unbekannte Frau liess mich perplex zurück, aber sie hatte mich auf das Buch «gwundrig» gemacht.

So begann ich den Umschlag zu studieren. Auf dem Klappentext stand: «Alle Schwäne sind weiss – davon waren die Europäer bis ins 17. Jahrhundert überzeugt. Dann wurde Australien entdeckt. Dort gab es schwarze Schwäne – was keiner für möglich gehalten hatte, war auf einmal Realität.» Ich verstand blitzartig, was der Verfasser sagen wollte. Später im Bett schlug ich die ersten Seiten auf und redete halblaut vor mich hin, wie es ältere Herren gelegentlich tun: «Der Verfasser will sagen, dass die Wahrheit nur so lange Wahrheit ist, bis ein Argument, eine Entdeckung, eine Erfahrung sie relativiert oder gar zur Unwahrheit werden lässt.»

Niemand kann heute noch behaupten, es gebe keine schwarzen Schwäne, niemand, die Erde sei flach oder der Mensch stamme von Adam ab. Die Geschichte ist eine unglaubliche Folge von überholten Wahrheiten, ja von entmachteten Wahrheiten. Oft wurden alte Überzeugungen und Behauptungen in den Dienst der Macht gestellt. Galilei wurde noch auf dem Scheiterhaufen erpresst, weil er behauptete, die Erde drehe sich. George W. Bush zog in den Krieg und verlor seine Glaubwürdigkeit, als die Welt erfuhr, dass der Einmarsch im Irak auf einer Lüge beruhe.

Die Geschichtsphilosophie Talebs begann mich zu überzeugen. Wenn er sagt, die Geschichte krieche nicht dahin, sie mache Sprünge und seine Aussage dazu mit Beispielen belegt, erinnern sie an Denksprünge, die oft schon den Verstand auf den Kopf gestellt haben. Wie Darwin, der die Abstammungslehre begründete und damit das Gesicht des Menschen veränderte. Sigmund Freud wiederum entdeckte das Unbewusste und bewies, dass im Menschen ein gefesselter Dämon lebt, der jederzeit ausbrechen und das Leben stärker bestimmen kann als Verstand und Vernunft. Seither liegt ein Schatten auf dem Selbstverständnis der Menschen.

Ich hatte nicht voraussehen können, dass mir eine junge, völlig unbekannte Frau ein Buch in die Hand drücken und mir damit die Idee für eine Kolumne geben würde. Der «Schwarze Schwan» bestärkte mich in meiner Skepsis, die im Lauf der Jahre zugenommen, ja zu einer gewissen Altersradikalität geführt hat.

Taleb weist an einer Stelle darauf hin, dass man sogar von einem Truthahn manches lernen kann. Der Vogel gewöhnt sich an das tägliche Futter, fasst Vertrauen, und mit jeder weiteren Fütterung wächst seine Überzeugung, es gebe freundliche Menschen, die sein Wohl im Auge hätten. Während 1000 Tagen läuft es so ab, aber am 1001. Tag geschieht etwas Unerwartetes: Der Truthahn landet in der Pfanne. Ähnlich täuschen Rating-Skalen die Anleger, gewisse Chefs ihre Untergebenen, und plötzlich …

Im Glauben verharren kann zauberhaft sein. Solange ich ans Christkind glaubte, schien mir der Tannenbaum mit den Kerzen, dem Engelshaar, den Keramik-Bachstelzen und bunten Kugeln wunderbar. Das Herz glühte und fiel vor dem Heiligabend in einen seltsamen Erregungszustand. Ich hatte ja einen Wunschzettel geschrieben und ihn vor das Fenster gelegt. Wie war Ich dann enttäuscht, als meine Wünsche nicht erfüllt wurden! Später erfuhr ich, dass unser Christkind die Mutter war. So wurde die Enttäuschung leichter. Wir konnten uns weniger leisten als andere Familien, dafür bekamen wir in der heimeligen Stube, wo ein Feuer knisterte, nach der Mitternachtsmesse Butterzopf, Anke und Milchkaffee. In diesen Wochen hatte mich ein Christkind sogar mit einem dicken Buch beschert. Wenn Nassim Nicholas Taleb meint, Experten wüssten über ihr Fachgebiet nicht mehr als die Gesamtbevölkerung, sie seien nur bessere Erzähler, so ist diese Einsicht für Schriftsteller einen herrliches Weihnachtsgeschenk, und erst noch eine Würdigung der direkten Demokratie. Hätte Taleb seine These auf höchstens 150 Seiten abgehandelt, würde mir die Lektüre noch mehr Vergnügen machen.

 

erschienen in: Neue Luzerner Zeitung

 

Du siehst den Herbst auswendig

publiziert: 04.11.08

 

Schnee bis in die Niederungen!, meldete das Radio. Dann fiel er in dicken Flocken zu Boden und deckte die Erde zu. Heute Morgen sah der Kirschbaum hinter meinem Haus wie ein weisses Korallengebilde aus. Der Tag hatte dunkel begonnen und Erinnerungen geweckt. Mein Vater sagte jeweils, wenn es früh in den Herbst hinein schneite: «De Winter hätt verworfe! Er hätt z’früeh kalberet.» Und er meinte damit, es werde nichts mit dem Winter, wie mit dem Kalb, das tot im Stroh lag. Er war ein Wetterprophet, der es mit den alten Wetterregeln hielt.

Sein Ausspruch erinnert mich auch an den Bankencrash. Vater würde wahrscheinlich sagen: «D’Banke händ verworfe.» Dabei wäre es ihm darum gegangen, zu betonen, wie sehr sie Unsinn getrieben und mit den kleinen Leuten das Kalb gemacht haben. Die Finanzkrise gehört zum diesjährigen Herbst, aber sie widerspricht dem Titel der Kolumne. Als wir gebräunt aus den Ferien zurückkamen, hofften wir, dass wir einen Herbst vorfinden würden, den wir auswendig kennen. Die Laubbäume würden sich wie jedes Jahr verfärben. Sie würden, wie der Dichter* sagt, «in warmem Golde fliessen». Aber wegen der Bankenkrise verlor man in den letzten Wochen die Farbenpracht aus den Augen. Und doch!

Ich sass im Voralpenexpress und las im Lyrikband «Ein obdachloser Gedanke» von Pentti Holappa, dem finnischen Dichter. Im Abteil hinter mir, fast Rücken an Rücken, waren zwei alte Frauen. Es war unvermeidlich, dass ich mithörte, worüber sie sprachen. Immer wieder erreichte mich ein bewunderndes «Schau! Die Bäume, und die Sonne darin. Wie die Blätter im Wind spielen. Es ist der schönste Tag in diesem Herbst.» Ich stimmte innerlich zu und vergass meinen Dichter. Als ich weiterlas, fand ich Worte, die auch zu meinem Herbst passen: «Gekreuzigte gibt es zu allen Zeiten.» Es die Zeit von Allerheiligen und Allerseelen. Der Tod erinnert an das Leben. Bereits sehr früh hat der Schnee die Erde in das bleiche Tuch der Kälte gehüllt, wie einen Menschen, der im Grab ruht.

Meine Gedanken – Gedanken können nicht anders – hüpften herum wie das Gespräch der beiden Frauen. Unterdessen hatten sie angefangen, Leute, die sie kennen, zu verhandeln. Es waren viele, die sie nannten, dazu noch ganz unterschiedliche, und nicht alle bekamen den Segen der Freundinnen.

Das Denken hüpft. Es gelingt kaum, einen Gedanken fertig zu denken. Um sich der Not des hin- und herspringenden Denkens nicht allzu sehr auszusetzen, liest der Mensch Zeitungen. Auch im Voralpenexpress lagen die Gratisblätter herum. Der Gedanke hat kein Obdach mehr, ging mir durch den Kopf. Je mehr wir die Welt als Häppchen aufnehmen, umso weniger bildet sie für den Menschen ein festes Haus mit einem soliden Dach.

Der Herbst 08 ist und war ungewöhnlich, und er wird auch ungewöhnlich kommentiert, ja, er wird in die Geschichte eingehen. Die Manager werden mit Vorwürfen eingedeckt, ihre Gier wird angeprangert, man hat sie ans Kreuz geschlagen. Jetzt haben die Moralisten das grosse Wort. Endlich können sie sich derart empören, dass ihrer Empörung kaum widersprochen wird. Reicht es aber, einfach über sie herzufallen? Müsste nicht vielmehr tiefer gegraben werden? Müssten wir nicht mit dem Dichter fragen, was sich daraus folgern lässt, wenn die Gedanken obdachlos werden? Wir wissen doch, dass uns die Werbung neue Ideen serviert, wie es sich aus der Interessenlage gerade ergibt. Warum fallen auch die Medien auf die Hofberichterstattung aus höheren Etagen herein und hinterfragen sie nicht kritisch? Die psychologisch geschulten PR-Berater vertrauen darauf, dass ihre Reports das Bewusstsein der Journalisten unterwandert. Den Medien käme aber die Aufgabe zu, vor solchen zu warnen. Stattdessen stimmten sie in den Chor der «Geldgläubigen» ein.

Vater war ein kritischer Mann. Er glaubte nur, was er überprüfen konnte, einzig den Wetterregeln vertraute er zu sehr. Sie täuschten ihn, wie alles täuscht, an das man ohne weiteres glaubt. Von handfesten Dingen, wie dem Geld, wusste er aber: «Vo nüüd chunnt nüüd!» Und sein Sohn übersetzt den Ausspruch heute und sagt: «Geld allein schafft kein Geld. Vielleicht Illusionen.»

«Du siehst den Herbst auswendig.» Wir wissen aus Erfahrung, dass es nun kälter wird, dass die Blumen im Garten sterben, die Bäume werden kahl, und wir müssen das Haus heizen, wir wissen, dass es dunkel ist, wenn wir aufstehen und dass wir um den Hals eine Schärpe binden sollten, bevor wir das Haus verlassen. All das lehrt uns der Herbst mit den Jahren, und allmählich weiss es jeder auswendig, und die Mütter sagen es den Kindern. Wer jetzt den Sommer sucht, der fliege nach Teneriffa.

«…auswendig, auf dein Schicksal gespiesst, jedes Mal wenn du dich regst, fängt es zu regnen an, die Landschaft trübt sich ein, der Schmerz tritt über die Ufer.»** In jedem Leben tritt der Schmerz über die Ufer, bricht ins Leben hinein, zerstört die blühende Landschaft, legt über die Erde den Frost. «Unter jedem Dach ein Ach!», sagte mir vor Jahren ein Freund. Er musste es wissen, war er doch Arzt, betreute Menschen, die das Schicksal hart angefasst hatte, stellte fest, wie die Farbe aus dem Gesicht der Kranken wich und die Knochen hervortraten. Menschen aus allen Schichten, waren betroffen. Der Freund erinnerte an die Aufgaben des Arztes. Und er warnte, wenn er feststellte, dass der ärztliche Gedanke, die Ethik, obdachlos zu werden drohte.

Gedanken sind flüchtig, sie zu Ende zu denken, ist mühsam, oft auch ernüchternd. Sie haben aber einen festen letzten Punkt: den Tod. Zum Herbst, den wir auswendig sehen, gehört das Gedenken an Menschen, die mit uns gelebt haben, die nun jene Barmherzigkeit des Grabes zudeckt, so dass sie ganz bestimmt nicht unter dem Verlust von derivaten Anlagen und Aktien leiden müssen.

*Eduard Mörke: September-Morgen
** Aus Pentti Holappa «Ein obdachloser Gedanke». BABEL Verlag 2008.

 

erschienen in: Neue Luzerner Zeitung

 

Die Finanzkrise und der gesunde Menschenverstand

publiziert: 02.10.08

Darf der Leser von einem Kolumnisten erwarten, dass er sich zur aktuellen Finanzkrise äussert? Auch dann, wenn er auf diesem Gebiet nicht kompetent ist? Fachleute betonen, die Krise sei komplex. Ich bin aber der Meinung, dass es sich hier um ein ganz gewöhnliches Ausschalten des gesunden Menschenverstandes handelt.

Inzwischen haben sich alle Medien der Krise angenommen. Jede Zeitung schreibt und kommentiert, was das Zeug hält. Die Krise sprang sogar ins Feuilleton der «Neuen Zürcher Zeitung». Dabei wurde hervorgehoben, eine Krise löse kreative Impulse aus. Wer in der «Arena» auftrat, blieb sehr allgemein. Es wurde nicht wie sonst gezankt und gestritten. Eine Debatte zum Rauchverbot in Restaurants und zum VBS hätte sich ganz anders angehört. Der kleine Sparer, der am Bildschirm zuschaute, dürfte verärgert den Kasten abgeschaltet haben. Ihm galt praktisch kein Votum. Besonders der kleine Anleger wurde mit strukturierten Produkten verführt, und man hat geradezu seine Träume geweckt. Er glaubte, er geniesse Gläubigerschutz, selbst wenn die Blase platze.

Die Sprache wechselt Begriffe aus, wenn unschöne, unsichere Dinge verdeckt werden müssen. Der Ausdruck tönt sehr gut. Wer nicht nachfragt, kommt nicht auf die Idee, dass dieser aus frei schwebenden Werten zusammengestückelt ist. Jetzt, da die Inhaber der Papiere daran gehen, hinter den Begriff zu gucken, zeigt er seine hässliche Fratze und lacht ihm entgegen: «Das Anlagedepot steht auf Null!» Während Grossanleger die Tatsache eher gelassen hinnehmen, schmerzt der Verlust die kleinen enorm. In ihrem Geld steckt harte Arbeit. Sie spüren nun am eigenen Leib, dass sie vom Geld, das sich von der werteschaffenden Arbeit des Menschen entkoppelt hat, nur solange träumen können, als die Spekulation blüht. Der gesunde Menschenverstand, der sich sonst an Realitäten hält, hat sich für einmal vom laut tönenden Begriff betören lassen.

Die Werbung erfindet stets neue Bezeichnungen für uralte Tatbestände. Diese Begriffe vernebeln den Verstand und geben Peter Sloterdijk recht, der sagt: «Denken im Schaum ist Navigieren auf labilen Strömungen.» Das scheint die beste Bezeichnung für den Verlust an gesundem Menschenverstand zu sein.

Der Kolumnist ist nun an einem schwierigen Punkt angelangt. Wie soll er seine Meinung in einfache Worte kleiden? Die moderne Welt ist so komplex. Darüber herrscht völlige Übereinstimmung. Deshalb muss die Komplexität reduziert, auf einen einfachen Nenner oder eine zügiges Wort zurückgeführt werden. Strukturiertes Produkt ist ein Begriff, der zu einem einfachen Lockvogel umfunktioniert werden kann und vergessen lässt, was dahinter steckt. Er verdeckt sogar die gewinnsüchtigen Absichten von Anlageberatern und Brokern. Der Lockvogel wird so lange gelobt, bis er Emotionen wie Hoffnung, Traum, Wunsch, Glaube, Reichsein usw. weckt. Die Werbung und die Propaganda reduzieren die Lebenswirklichkeit auf einfache Formeln. Was dem Stimmbürger von Plakatwänden entgegentritt, ist ebenfalls eine Art strukturiertes Produkt, das aus Derivaten und Optionen besteht.

Das Geld hat verschiedene Bedeutungen. Dort, wo es nur in den Büchern herumspukt und keinen direkten Bezug zu Substanzwerten besitzt, erlangt es die Qualität von Träumen. Seine rasche Vermehrung und der Kontostand, der wächst und wächst, faszinieren und sie bekommen geradezu einen metaphysischen Glanz. Geld wird zu einem Götzen oder zum Goldenen Kalb. Geld ist ein Tempo-Beschleuniger, je mehr davon auf dem Markt ist, umso hektischer wird das Leben, umso aufgeregter die Gier, umso schneller wächst auch die Wirtschaft. Unser Lebenstempo wird ebenfalls beschleunigt. Es ist unübersehbar, wie sich die Welt dreht, es wird einem ganz schwindlig dabei. Das Geld beherrscht die Globalisierung und löst einen universellen Krieg der Schäume aus, wie Sloterdijk behauptet.

Der Philosoph Arthur Schopenhauer nannte das Geld einen Proteus. Proteus war der griechische Gott, der sich in jede Gestalt verwandeln konnte, bald unsichtbar wurde, bald wieder auftauchte. Schopenhauer bezeichnet es einmal als das «absolut Gute», weil es nicht nur konkret allen Bedürfnissen diene, sondern auch abstrakt einem Bedürfnis (dem Glauben) überhaupt. Damit gewinnt es eine übernatürliche Dimension und lässt keinen los.

Geld ist also nicht bloss eine ökonomische Realität. Es greift ins Leben ein und verändert das Denken. Die letzten zwanzig Jahre haben auch die Politik verändert. Eine Partei, die etwas auf sich hält, spricht von nötigen Steuersenkungen. Ein früherer Zuger Regierungsrat rühmte sich seines Erfolgs als Finanzdirektor gegenüber der Wochenzeitung «Die Zeit» und meinte, er würde einen Eintrag im «Guiness Buch der Rekorde» verdienen, habe er doch innerhalb von 16 Jahren neun Mal die Steuern gesenkt. (Ohne freilich an die Nebenfolgen zu denken.) Steuersenkungen und Deregulierung sind ein Teil des strukturierten Produkts, das Politiker heute anbieten, daneben befinden sich in einem solchen Angebot etwa auch Ausländerfeindlichkeit, falsche Heimatliebe, Angriff auf Personen und Abwertung der Classe politique.

Wir sollten dem gesunden Menschenverstand wieder seine Würde zurückgeben. Er prüft sowohl die Propaganda wie auch die Werbung und fragt als Erstes, ob plausibel sei, was auf den verschiedenen Märkten (auch auf denen der Eitelkeiten) angeboten wird. Die erste Prüfung, die ihm auferlegt werden müsste, ist die Frage, was hinter neuen Begriffen steckt.

 

erschienen in: Neue Luzerner Zeitung

 

Der «wunderbare Prozess der Weltergänzung»

publiziert: 10.09.08

Die Nacht hatte mich mit Einfällen überschwemmt. Ich formulierte im Halbschlaf erste Sätze zu einer Kolumne, die möglichst heiter werden sollte. Ich erfand Wendungen, drehte sie um, suchte nach einem zügigen Anfang und fragte mich endlich, ob ein Badestrand überhaupt Stoff biete, über den es sich zu schreiben lohnen würde. Ich würde am Morgen meinen Bungalow verlassen und am Meer die Gedanken ordnen. Mir würde bestimmt eine treffende Geschichte einfallen, mass sich mein Denken an zu meinen. Allerdings korrigierte es gleich, man könne sich nicht einfach eine Geschichte ausdenken. Bruchstückhafte Erlebnisse müssen schon vorliegen; erst Erfahrungen, Erinnerungen setzen jenen «wunderbaren Prozess der Weltergänzung» während des Schreibens in Gang, von dem Heinrich Heine einmal geschrieben hat.

Ich buckelte den Rucksack, in den ich Schreibzeug, ein Badetuch und eine Flasche Mineralwasser gesteckt hatte, nahm den Sonnenschirm und den Liegestuhl und ging über den feinen Sand ans Meer. Schon am frühen Morgen richtete ich mich also ein und wartete gespannt auf einen Einfall. Die Morgenstille half, die Gedanken zu bündeln, von denen meine Kolumne leben würde. Einige Jogger trabten vorüber. Frauen sammelten Muscheln. Eine Mutter stiess einen Kinderwagen mühsam über den Sand.

Alles, was ich später beobachten werden sollte, würde sich in der immer gleichen Weise wiederholen. Im Laufe des Tages würden unzählige Menschen am Strand liegen, ältere Italienerinnen gestenreich, im knietiefen warmen Wasser, ein Palaver abhalten, Männer an der schrägen Nachmittagssonne Boccia spielen. Kinder würden plantschen, dann Sandburgen bauen, und mir würde wieder das biblische Bild, er habe sein Haus auf Sand gebaut, einfallen, und wahrscheinlich würde ich es auf die Schriftstellerei übertragen oder auf eine andere Tätigkeit, die nur wenig Brot einbringt.

Aus einem leeren Kopf lässt sich keine Geschichte ziehen, wurde mir allmählich bewusst. Man muss etwas erlebt haben oder erleben, damit ein Faden entsteht. Auch Schriftsteller, die ihr Schreiben als eine Kunst betrachten, die Weg und Ziel zugleich ist, müssen sich auf kleine Beobachtungen stützen. Das Leben erfindet Geschichten, nicht der Kopf. Verstand und Phantasie hingegen ergänzen die Handlung, kombinieren, ändern und fügen die Welt zusammen. Der Kopf kann sich auszeichnen, wenn er das eilig Hingeworfene strafft und korrigiert.

In der heiter-verspielten Atmosphäre am Meer, wo die Last der Tage abgeworfen oder verdrängt bleibt, nahm ich mir vor, einen abgerundeten Text zu schreiben. Ich wollte nicht, wie es mir schon ein paar Mal passiert ist, – vor allem, wenn ich politische Themen aufgegriffen habe – wie ein Zugpferd schwere Last ziehen und damit am Ende nicht einmal ans Ziel kommen. So würde ich die Kolumne vor dem Leser wie mit dem Zirkel abstecken. Ich wollte nicht so schreiben, dass der geneigte Leser einen Satz zweimal lesen, und allenfalls noch den Duden oder das Deutsche Wörterbuch von Wahrig zur Hand nehmen muss. Nun ist die Politik und alles, was sich um sie dreht, schon ein drückendes Gewicht, vor allem in den italienische Zeitungen. Man musste diesen Sommer aber nicht ans Meer fahren, um ein politisches Medientheater zu erleben. Auch in den heimischen Gefilden hat sich eines abgespielt, dessen Schlagzielen ich beim flüchtigen Überfliegen zu einer Komödie zusammenfügen konnte.

So vor mich hersinnend, sagte ich mir, über Politik lasse sich nur noch mit heiterer Ironie schreiben. Wer mit dem Hammer dreinschlage, bringe den Lukas gleichwohl nicht bis ans obere Ende der Gleitschiene. Eine humorvoll-ironische Schreibweise ist einer verletzend dreinschlagenden jederzeit vorzuziehen und wirkt erst noch überzeugender. Fette Titel zu einem Skandal, der sich bei genauerer Betrachtung nicht als solcher erweist, nehmen heutige Leserinnen eh nicht mehr ernst. Die Menschen sind längst schlagzeilengeschädigt. In einem kleinen und feinen Text aber steckt meist mehr Wahrheit und Gehalt. Die Leserin spürt, dass der Schreibende über der Sache steht und keine eigenen Interessen verfolgt oder als gedungener Schreiberling das veröffentlicht, was die Macher im Hintergrund einer Zeitung dem Publikum vorgesetzt wissen möchten. Freilich wollte ich dennoch kein «argloser Singvogel, der besser oben fliegen als unten scharren könne», werden, wie Jean Paul seinen Helden im Roman «Flegeljahre» schon zu Beginn in Verdacht bringt.

Doch das Exempel, mit dem ich eine Sache hübsch ironisch abhandeln konnte, fiel mir dann nicht ein. Ich strengte auf dem Liegestuhl meinen Verstand an … es nützte nichts. Schon hatte ich wieder einen weiteren Beweis, dass der Kopf nicht Geschichten erfinden kann. Es braucht eine Erfahrung, eine Begegnung, ein Ereignis, einen anregenden Satz, damit die Phantasie zu arbeiten beginnt. Einmal mehr stimmte ich Heine zu, dass Schreibende auf ein Bruchstück in der Erscheinungswelt angewiesen sind. Ich begann herumzugucken und sah zu, wie die Wellen die Sandburgen der Kinder einrissen. Hatte ich nicht früher selber auch Dinge auf Sand gebaut? Als Parteipräsident war ich mitbeteiligt an Parteiprogrammen. Nach den Wahlen ebnete der Alltag sie sofort ein, und sie wurden Makulatur. Am Meer aber ergötzte ich mich an Heines Satz: «Wirklich, der Leib scheint oft mehr Einsicht zu haben, als der Geist, und der Mensch denkt oft viel richtiger mit Rücken und Magen, als mit dem Kopf.» Und so freute ich mich schon am späten Nachmittag auf die Spaghetti, die Scampi fritti und den Prosecco.

 

erschienen in: Neue Luzerner Zeitung

 

Von Empfindlichkeitswörtern

publiziert: 16.08.08

Er sei ein «halber Bundesrat». Korrekter hätte man sagen müssen, er sei ein halber SVP-Bundesrat und beizufügen gehabt, er entscheide in gewissen Fragen nicht nach dem Parteiprogramm, sondern nach seinem Gewissen. Das aber wird bei dem Begriff nicht hinzugedacht. Man hält sich an das abgekürzte Wort. Die FDP erfand vor vielen Jahren den Slogan: «Mehr Freiheit und Selbstverantwortung, weniger Staat». Er schrumpfte ein zu: «Mehr Freiheit, weniger Staat». Man vergass dabei, dass der Staat die Freiheit schützt und der Selbstverantwortung den Raum ihres Wirkens sichert. Wenn nur die Freiheit gepriesen wird, bekommt auch die Ellbogenfreiheit Raum. Mobbing etwa wird als legitimes Mittel empfunden, Untergebene zu drangsalieren. Es werden Bücher wie «Anleitung zum Mobbing» geschrieben. Dort, wo der Staat zurückgedrängt wird, entsteht ein Vakuum, eine Lücke, in dem sich das wuchernde Kapital, die Spekulation, die Wirtschaftskriminalität und die Mafia einnisten können.

Thomas Bernhard, der österreichische Schriftsteller, notierte einmal: «Überhaupt fällt mir auf, wie bereitwillig die Menschen auf irgendein bestimmtes Wort reagieren, auf Empfindlichkeitswörter, an die sie sofort eine unglückliche Geschichte hängen, die sie einmal erlebt haben…». Diese Empfindlichkeitswörter verselbständigen sich sehr leicht und vagieren umher. Sie beeinflussen die Wahrnehmung und verändern den Blick. Sie schwirren dann als Wortvaganten herum. Solche Wörter sind gesammelt worden. Es gibt ein Wörterbuch des Gutmenschen, des Unmenschen und eine Sammlung von Unwörtern des Jahres. Feldforscher haben im deutschen Mundartraum dirty words zusammengestellt. So gibt der «Belchen Verlag» Büchlein mit alemannischen, schwäbischen, hessischen, bayerischen und anderen Ausdrücken heraus. Sie seien im kalten Hochdeutsch nicht zu finden, vermerkt der Klappentext. «Wo das Hochdeutsche zu viel Schiss hat, die Dinge beim Namen zu nennen, weiss der Dialekt weiter.» Wir kennen die Stammtischsprache ja sehr gut und begegnen ihr auf Schritt und Tritt.

Es gibt unter diesen Wörtern auch hübsche, die man nicht als schmutzig bezeichnen muss. Die alemannische Sprache kennt das Wort «glürle», das so viel bedeutet, wie im Rausch mit kleinen Augen umherschauen. «Gackle» heisse, betrunken torkeln. Man wisse nicht, woher das Wort komme, wahrscheinlich sei es eine Assoziation mit dem Gang gewisser geflügelter Haustiere. Und «spachteln» sei die «forcierte Nahrungszufuhr, bei der die Kapazität des Essgeräts voll ausgenutzt wird». Es erinnert wohl an die Arbeit des Gipsers. «E Schnorri häd e grossi Gosche», sagen wir. Die Schwarzwälder urteilen über ein Grossmaul mit der Bemerkung: «Wenn man dem die Gosch wegschlage tät, no tät er mit dem Arsch noch päppere». Ich hoffe, der Redaktor lasse das Zitat durch, obwohl es nicht grad vom Feinsten ist. Zimperlich sind wir ja nicht, dennoch will ich mich wieder den Empfindlichkeitswörtern zuwenden und über sie nachdenken. Denken, sagt George Steiner, mache traurig. Man könne nur selten schreiben, was man eigentlich sagen wolle. Und bei den letzten Dingen scheitere das Denken sowieso und lasse den Menschen hilflos zurück.

Die Empfindlichkeitswörter, mit denen Politik gemacht wird, bewirken, dass Köpfe stramm ausgerichtet werden. Man wird bei ihrem Gebrauch nicht traurig, denn man muss nicht mehr nachdenken. Da tauchte eines Tages das Wort von «Scheininvaliden» auf. Jeder kann mit dem Wort eine Geschichte verbinden. Er kennt vielleicht einen Menschen, dem es gelungen ist, den Arzt und die Behörde zu täuschen und sich eine Invalidenrente zu ergattern. Das Wort «Scheininvalide» wirkt von nun an wie ein Halo-Effekt. In der Natur ist der Halo oder Hof jener Ring der sich unter bestimmten atmosphärischen Bedingungen um die Sonne oder um den Mond legt. Er bezieht einen Raum mit ein, der nicht zum Gestirn selber gehört. Die Psychologie verwendet den Begriff, um zu erklären, dass ein Testergebnis ungerechtfertigt verallgemeinert wird. Ein Persönlichkeitsmerkmal wird auf den Charakter übertragen, der in keinem direkten Zusammenhang mit dem erhobenen steht.

Empfindlichkeitswörter haben die Tendenz zu generalisieren. So weckt das Wort von den Scheininvaliden den Verdacht, die meisten Menschen, die eine IV-Rente beziehen, würden diese nicht verdienen, sie könnten arbeiten, wenn sie nur wollten. Es ist nicht zu bestreiten, dass es Betrüger gibt, aber zu verallgemeinern, führt zu unangemessenen Urteilen.

Empfindlichkeitswörter tauchen immer wieder auf. Die «Classe politique», die «Abzocker», die «Interessenvertreter» sind solche Wörter, die einen Halo-Effekt auslösen. Für Bundesrat Samuel Schmid könnte das Wort vom «halben Bundesrat» in der Situation, in der er mit seinem Armee-Chef steckt, verheerend sein und zu pauschalen Urteilen führen, die nicht zutreffend sind. Bereits werfen ihm Politiker vor, nun zeige sich seine Führungsschwäche. Das mediale Sommergewitter, das über ihn niedergegangen ist, hat er zwar dem Fehler zuzuschreiben, dass er, wie Frank A. Meyer schreibt, das Regierungskollegium nicht «über die hormonal hervorgerufenen häuslichen Havarien» seines Offiziers orientiert hat. Aber er bleibt ein auch von seiner Partei und dem Parlament glänzend gewählter Bundesrat, also ein ganzer.

In einem Halo-Effekt stecken auch die Angestellten der UBS, die das «Ibrockding» ihrer Bankstrategen «ausfressen» müssen, obwohl sie es nicht verdient haben. So müssen sie den «Grimme», die Bauchschmerzen, ausstehen. Und selbst ich habe am UBS-Schalter eine verblüffte, aber sehr freundliche Angestellte gefragt, ob man denn der Bank noch trauen dürfe?

 

erschienen in: Neue Luzerner Zeitung

 

Auf dem Weg der Schweiz

publiziert: 03.07.08

Als 1991 der Weg der Schweiz offiziell eingeweiht worden ist, bin ich mit einer Grossrätin aus Basel gewandert, bis ich auf einmal genug hatte von ihren Behauptungen. Ich mochte ihr nicht mehr entgegnen. Gleich zu Beginn hatte sie sich ereifert, dass einer Baslerin das Jahr 1991, aber auch 1291, als Jubiläum nichts bedeute. Basel sei schon vorher ein Staat gewesen, was ich nicht bestritt. Aber die Wirkungsgeschichte von 1291 habe eben doch zu dem Gebilde geführt, das wir heute Schweiz nennen würden, antwortete ich. Mich kümmere die abweichende Auffassung von Historikern nicht, spottete ich, nun auch etwas angriffiger geworden. Bald schloss ich mich einem anderen Wanderer an. Ich wollte mir die Festfreude nicht vergällen lassen.

Den Weg der Schweiz habe ich unterdessen bis auf ein ganz kleines Stück abgewandert. An ihm haften viele Erinnerungen. Das Wegstück zwischen Sisikon und der Tellskapelle ging ich letzthin beeindruckt. Der Urnersee lag grün und ruhig da. Nur ein leichter Westwind kräuselte das Wasser. Der Ober- und der Niederbauen spiegelten sich im See. Ihre Konturen zitterten leicht auf der Wasseroberfläche. Der Urirotstock thronte wie ein König. Surfer und Segler nutzten den allmählich stärker werdenden Wind. Bei der Rückkehr nach Sisikon zischten leichte Schaumkronen auf. Der Wind trieb die Wolken zusammen, und über dem Fronalpstock zog bereits ein Gewitter auf.

Lehrer Karl Bolfing wanderte vor mehr als einem halben Jahrhundert mit uns Rickenbacher Seminaristen entlang der Axenstrasse. Wer in Schwyz studiere, könne nicht ins Mittelland zurückkehren, ohne auf dem Grossen Mythen gestanden zu sein, sagte er, und die kühn in die Felsen gehauene Axenstrasse müsse jeder einmal begangen haben. Vor einer Verbauung versammelte er uns im Halbkreis. Welcher Unterschied denn zwischen einem Baumeister und einem Lehrer bestehe? Er gab die Antwort gerade selber. Der Baumeister sehe das vollendet Werk und dürfe darauf stolz sein. Einem Lehrer aber bleibe das Resultat seiner Arbeit verborgen. Er wisse nicht, was aus einem Schüler werde, ahne es höchstens. Und selbst, wenn aus ihm etwas geworden sei, müsse er demütig anerkennen, dass er nur gerade ein wenig Hebammendienst während der geistigen Geburt und Entwicklung geleistet habe. Ich erinnere mich nicht mehr, vor welchem Bauwerk wir damals gestanden sind, aber mein Lehrer bleibt mir in Erinnerung. Von ihm sind Impulse ausgegangen, die mich motivierten, ein tätiges Leben zu führen. Später wurde er Präsident der Stiftung «Weg der Schweiz». Bolfing verstarb leider viel zu früh.

Langsam überquerte die «Stadt Luzern» den See von Bauen her und schwamm majestätisch auf die Anlegestelle beim Restaurant Tellskapelle zu. Heiser, einer abgehenden Blähung gleich, tutete das Schiffshorn. Wäre das Wort «Dampfer» nicht männlich, so würde ich sagen, die «Stadt Luzern» sei so edel und elegant wie eine von Yves Saint Laurent eingekleidete Dame, die gerade über den Vorplatz des KKL geht. Das Bild trifft nicht zu, ich weiss, aber wie soll ich die Eleganz des Dampfers sonst ins schönste Licht rücken? Soll ich ihn mit einem Schwan vergleichen? Ein Motorsägeplastiker hat übrigens am Weg einen Schwan aus einem Baumstrunk herausgesägt. Er streckt den Hals zum Himmel, als ob er schnattern würde.

Der Weg der Schweiz geht auf und ab, über Treppen in die Tiefe zum Seeufer, führt ihm entlang und wieder hinauf, bis auf die Höhe der Autostrasse. Auf der alten Axenstrasse verschwindet er im Tunnel und schon gibt er wieder den Blick frei auf die imposante Landschaft. In diesem Augenblick donnerte ein Güterzug an mir vorüber. Es verschlug mir auf dem Fussgängersteg fast das Gehör. Ein Eisenbähnler aus Erstfeld hatte mir zehn Tage zuvor zugeschrieen, ein solcher Lärm sei Musik in seinen Ohren, als er entdeckte, wie ich mir meine zuhielt. Jeder Mensch nimmt die Welt anders wahr, und häufig sind es die Ohren, die hellwach und gespitzt sind für Dinge, die Nutzen bringen. Ein Schweinezüchter spricht auch nicht vom Gestank, wenn Vorbeiwandernde sich die Nase zuhalten.

Der Weg der Schweiz führt abwechselungsreich durch eine Landschaft, in der sich eine heroische Geschichte abgespielt haben soll. Mir gefällt die Geschichte Tells. Dass in einer solch gebirgigen Gegend sich ein mutiger Mann einem Gessler entgegengestemmt hat, ist mehr als glaubwürdig. Friedrich Schiller hat die Landschaft romantisiert und aus einem Freiheitskampf Poesie gemacht.

Der Weg der Schweiz ist nicht nur ein Wanderpfad, er ist ein Symbol für unser Land, für ein Land, das noch immer Ecken und Kanten hat und das sich um Felsen schlängelt. Er wurde mir zum Sinnbild für die Politik, die stets auf Um- und Seitenwegen vorangekommen ist. Auf dem Seeweg mit einem Motorboot nach Flüelen zu flitzen, mag bequem sein, aber im Vorbeisausen werden all jene Eindrücke ausgeschlossen, die ein Wanderer geniesst. Es würde uns besser gehen, wenn mir mehr gingen, meinte der grosse Wanderer Johann Gottfried Seume schon zum Beginn des 19. Jahrhunderts.

Ein feiner Duft von Holz, See und blühenden Sträuchern verbreitete sich auf einmal. Schade nur, dass ich nicht mit jenen beiden Frauen wanderte, die mir einmal auf einem Alpweg fast jede Blume beim Namen nennen konnten und den Duft eines blühenden Strauches schon von ferne erkannten. Man kann nicht alles haben, aber der saure, klare Most im Restaurant Tellskapelle tat mir gut. Eine Schulklasse, die vom Denkmal zurückkam und dort wahrscheinlich die Fresken bewundert hatte, vernahm vom Wirt, dass bald das Glockenspiel zu hören sei. Flugs eilten Lehrer und Schüler aufwärts zum Glockenturm, den der Kanton Aargau hatte errichten lassen. Bald kamen die Kinder zurück mit einem Lied im Ohr. Es war übrigens eine, feine, disziplinierte Klasse. Doch, doch, solche gibt es auch heute noch.

 

erschienen in: Neue Luzerner Zeitung

 

Was nützen denn schon Gedichte?

publiziert: 04.06.08

Vor ein paar Stunden habe ich einen Essay «Der Ärger mit der Dichtung» von Charles Simic* gelesen. Gleich zu Beginn liessen mich die folgenden Sätze aufhorchen: «Kindern Hass auf die Schule beibringen und sie an dem Tag vor Freude springen lassen, an dem sie kein Gedicht mehr sehen müssen, dies ist das einzige, wozu Dichtung je getaugt hat. Darüber ist sich die gesamte Welt völlig einig. Niemand liest je bei klarem Verstand Dichtung. Sogar unter Literaturtheoretikern ist es heutzutage Mode, auf jegliche Literatur herabzublicken, ganz besonders auf Dichtung. Dass immer noch einige Leute damit weitermachen, ist eine Kuriosität für die Rubrik Vermischtes in der Zeitung.»

Simics Ironie amüsierte mich sehr, denn ironisch sein, bedeutet, gerade das Gegenteil davon zu sagen, was man eigentlich meint. Nicht jeder Leser merkt es auf Anhieb.

Vor mehr als zehn Jahren warb ich in einem Vortrag vor Lehrerinnen und Lehrern für das «Schülerrecht auf Auswendiglernen». Je länger meine Ausführungen dauerten, umso mehr steckten vor allem jüngere Zuhörer die Köpfe zusammen, lächelten und tuschelten. Als ich einige Gedichte aufzählte, die Schüler auswendig können sollten, wurde es unruhig im Saal. Ich spürte, dass ich mit meinen Hinweisen und Gedanken auf Ablehnung stiess.

Tatsächlich geht es heutzutage im Unterricht mehr um Ausbildung als um Bildung. Was sollen da Dichterworte? Dass ich diese «Ansichten» gleich mit einem Zitat begonnen habe, wird den einen oder anderen Leser verärgern. Er wird sich dann am Ende mit einem Leserbrief Luft verschaffen, den Autor als eingebildet hinstellen, ihm sogar eine intellektuelle Überheblichkeit andichten, andichten allerdings, ohne dass sich seine Aussage reimt. Dabei möchte der Kolumnist bloss einen Zeugen anrufen, der belegt, dass er nicht allein ist mit seinen Gedanken. Nur wenige deutschsprachige Blätter publizieren regelmässig Gedichte. Die «Frankfurter Allgemeine Zeitung» gehört zu den wunderbaren Ausnahmen. Seit Juni 1974 erscheint jeden Samstag ein deutsches Gedicht und eine kleine Interpretation dazu.

Letzthin sass ich im Bus ganz vorne beim Chauffeur. Auf der Bank vis-à-vis befand sich ein Vater mit einem vier- oder fünfjährigen Mädchen. Es hatte dunkle, strahlende Augen und ein hübsches Gesicht. Der zuckelnde Rhythmus des Busses und das Sitzen auf Vaters Knie mussten es zum Singen angeregt haben. Es hatte eine feine und klare Stimme und sang bekannte Kinderlieder. «Aber gäll, du hesch mi gärn» und andere. Vielleicht auch «Siebe chliini Äntli…». Ich habe all die Titel vergessen. Mit dem Liedchen hellte das Mädchen die Mienen der Mitfahrenden auf, die sonst eher verschlossen wirken. Etwas Verspieltes huschte durch die Reihen. Als ich beim Kolinplatz den Bus verliess, lobte ich das Mädchen und sagte, es werde einmal eine Sängerin. «Ich weiss es nööd», meinte es klar und entschieden und kostete seine Antwort aus.

Liedtexte und Gedichte, die man in der frühen Kindheit und in der Volksschule auswendig gelernt hat, sind ein reicher Schatz für das ganze Leben. Gute Gedichte formen und prägen die Sprache und entfalten das Sprachgefühl. In einer Zeit, da geklagt wird, dass viele Schulabgänger, ja sogar Hochschulabsolventen, Mühe hätten, gutes und korrektes Deutsch zu sprechen und zu schreiben, wirken auswendig gelernte Gedichte wie ein innerer Sprachmeister. Sie sind ein Teil dessen, was die Bildung ausmacht. Vielleicht tue ich der modernen Schule unrecht, wenn ich vermute, dass heute nicht mehr viel Wert auf das Auswendiglernen von Gedichten gelegt wird.

Wenn ich ein «Schülerrecht auf Auswendiglernen» postuliere, dann habe ich eine subversive Absicht, denn nach Charles Simic gehört es zu den «köstlichen Widersprüchen, dass Dichtung ihre hartnäckigsten Kritiker stets besiegt und überlebt hat.» Gedichte, meint er, seien ein närrisches Vergnügen der politisch Unkorrekten. Damit führen Gedichte ins Leben ein, das ja stets zwiespältig und widersprüchlich bleibt. Die Realität besiegt eben diejenigen, die sich stets korrekt und allwissend geben. Gedichte machen es ihnen nicht leicht, denn selbst dann, als sie sich noch gereimt haben, steckten sie voller Tücken.

Den ersten Aufsatz, den ich im Seminar schreiben sollte, hatte den Titel: «Frühling lässt sein blaues Band / wieder flattern durch die Lüfte.» Ich verstand dieses Bild aber nicht, ahnte nicht einmal, dass damit der blaue Himmel gemeint sein könnte und der Wind, der die Wolken vertreibt. Um das Bild zu begreifen und verstehen zu können und erst noch einen guten Aufsatz zu schreiben, hätte ich nur das Gedicht «Er ist’s» von Eduard Mörike aufschlagen müssen, der fortfährt:

Süsse, wohlbekannte Düfte
Streifen ahnungsvoll das Land.
Veilchen träumen schon,
Wollen balde kommen.
– Horch, von fern ein leiser Harfenton!
Frühling, ja du bists!
Dich hab ich vernommen!

In Lebensläufen erfolgreicher und bekannter Persönlichkeiten stösst man immer wieder auf Erlebnisse während der Schulzeit, die nichts mit dem gewöhnlichen, strukturierten Unterricht zu tun haben. Sie berichten von Begegnungen mit begeisternden Lehrerinnen und Lehrern, die ihnen weisse Stellen offen liessen und sie in Räume führten, in denen das scheinbar Nutzlose Bedeutung hatte. Schulreformen, die nur auf Ausbildung und Kulturtechniken zielen, ohne den Raum für das Spielen, Träumen, Singen und Musizieren, Gedichte aufsagen, Theater spielen zu öffnen, fördern nicht den ganzen Menschen. Eine Lehrperson, die es versteht, Schüler mit einer Leidenschaft für das scheinbar Nutzlose anzustecken, ist nicht nur exzellent, sondern gnadenvoll.

* Charles Simic: Die Wahrnehmung des Dichters. Über Poesie und Wirklichkeit. Hanser 2007.

 

erschienen in: Neue Luzerner Zeitung

 

Gealterte Hoffnungen*

publiziert: 06.05.08

Vierzig Jahre sind seit der 68er-Bewegung verflossen. Sie stellt sich im historischen Rückblick keineswegs als einheitliche Bewegung dar. Vielmehr flossen mehrere Protestbewegungen wie Bäche zusammen und bildeten einen grossen, breiten Strom. In den 1960er Jahren nahm an den deutschen Universitäten das Unbehagen zu, standen doch die alten, unter den Nazis hochgedienten Autoritäten, wieder auf dem Podest. In Polen kam es zu den März-Unruhen. Während des Pariser-Mais errichteten aufgebrachte Studenten Barrikaden. In Amerika wurde Martin Luther King ermordet. In Zürich wiederum krawallierten die Jugendlichen und verfassten das Zürcher Manifest. Der Protest gegen den verlustreichen Vietnamkrieg bewegte Amerika. Daraus entstand eine starke Friedensbewegung. Die Studenten und Intellektuellen setzten sich aber auch für die Gleichstellung von Minderheiten ein. Eines der Mottos der neuen deutschen Frauenbewegung lautete unüberhörbar: Der Bauch gehört mir! Arbeiter streikten. Nachdem 1967, in Berlin, der Student Benno Ohnesorg von einem Polizisten unter nie geklärten Umständen erschossen worden war, wüteten die Studenten gegen den repressiven Staat, einen Staat, der nur die Gewaltanwendung zur Lösung von Problemen zu kennen schien. Sie und viele Intellektuelle wandten sich gegen den um sich greifenden Materialismus und gegen die sich ausbreitende Technokratie.

Heute werden all die 68er-Bewegungen am liebsten auf einige Schlagworte reduziert: Etwa auf die Technikfeindlichkeit und die antiautoritäre Erziehung. Plötzlich geistern Ausdrücke wie «Kuschelpädagogik» herum, die ihren Ursprung in der 68ern haben sollen. Die Studenten, die damals die Amtsautorität in Frage stellten, forderten die Demokratisierung der Hochschulen und der Gesellschaft. Intellektuelle Wortführer wie Herbert Marcuse traten auf, die den eindimensionalen Menschen dem Verdacht und der Skepsis aussetzten. Jean-Paul Sartre solidarisierte sich mit den streikenden und protestierenden Arbeitern und Studenten. Weitsichtige Schriftsteller wie Cees Nootebooms erkannten, dass es sich dabei um Unruhen handelte, die man nicht einfach bekämpfen und bequem abstreifen konnte. Damals schrieb er, es lasse sich nicht abschätzen, wie die Proteste ausgehen würden, aber so, wie es gewesen sei, könne es nie wieder werden.

Der französische Sozialwissenschaftler Pierre Bourdieu fasste 1998 seine Sicht der Dinge kurz zusammen: «Die (68er-)Bewegung war symbolisch sehr wichtig. Sie hat die Gehirne verändert, also die Denkweise und Wahrnehmungen etwa von Hierarchie, Autorität, dem Verhältnis zwischen den Geschlechtern – aber in der Wirklichkeit und besonders im Schulsystem, hat sie nicht viel erreicht … Es gibt nichts Schlimmeres als eine fehlgeschlagene Revolution! Denn die macht genauso viel Angst wie eine gelungene Revolution … Gegenwärtig sind wir nun in einer konservativen Revolution, meine ich, die zum Teil durch die Angst bestimmt ist, die viele Intellektuelle und andere im Mai 68 hatten …»

Heute lasten konservative Kreise alles, was schief läuft – sei es im Sozialstaat, sei es in der Erziehung und Bildung, im Zusammenhang mit dem viel zitierten Wertezerfall und bei der Gleichstellung der Geschlechter – den Ideen der 68er an. Die vielfältigen Bewegungen von damals werden schlicht und einfach in eine zusammengefasst und so dargestellt, als habe es sich bloss um eine «Revolution von Studenten und Intellektuellen» gehandelt. Pierre Bourdieu meint, dass der Mai 68 eigentlich nicht viel bewegt habe. Die Hoffnung ist mit den 68er verflogen Sie lebt nur noch als «gealterte Hoffnungen» weiter.

Doch auch eine gealterte Hoffnung bleibt eine Hoffnung. Der Wertewandel ist zwar Realität, aber noch immer gibt es Pädagogen, die Kinder mit Respekt und Fairness anleiten. In vielen Betrieben existiert nach wie vor ein Klima des Dialogs und der Gleichstellung. Erfolgreiche Unternehmen pflegen die Errungenschaften der letzten vierzig Jahren gut. Noch immer hoffen unzählige Menschen, dass in der heutigen desolaten Weltsituation die Kräfte der Wohlmeinenden gebündelt werden könnten und dass Weltfrieden gestärkt wird. US-Senator Barak Obama ist ein unerwarteter Hoffnungsträger. Mit ihm hoffen auch viele Europäer, dass es Amerika gelingt, die unsäglich langen Jahre der Bush-Politik zu überwinden. Die Hoffnung, auch wenn sie gealtert ist, lebt von Vernunft und kritischem Denken, einem Denken, das in der Lage ist, eine Synthese der positiven Kräfte zusammenzuführen.

Die konservative Revolution, die sich sowohl in politischen als auch kirchlichen Kreisen abzeichnet, lässt die Hoffnung aber noch älter werden. Papst Benedikt XVI. vertritt eine Besinnung auf Werte, die vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil galten. Der neue Patriotismus in unserem Land beschwört eine heimattümmelnde Idylle, die es so nicht mehr gibt.

Die Rede von der «Kuschelpädagogik», die ihren Ursprung in der antiautoritären Erziehung haben soll, unterliegt einer eigentümlichen Verkennung der 68er-Bewegung. Das Modell der antiautoritären Erziehung war mehr Schlagwort als Realität. Falls Kinder heute weicher und frecher sind, liegt der Grund vielmehr in der Konsumverwöhnung, die in den letzten Jahrzehnten stark zugenommen hat. Die Verführungsstrategien aggressiver Anbieter und der Werbung und die neue Freiheit sind Ergebnis einer schrankenlosen Markt- und Geldgesellschaft. Eine solche gesellschaftliche Entwicklung sahen viele 68er voraus. Sie haben sich vergebens dagegen aufgelehnt. Die Hoffnung, dass nicht alle Menschen Blindekuh spielen, ist wohl das Überbleibsel, das von den 68er Jahren übrig geblieben ist.

*Hans Mayer verwendet diesen Ausdruck in einem Gespräch mit Hanjo Kesting: Begegnungen mit Hans Meyer. Wallstein Verlag, 2007.

 

erschienen in: Neue Luzerner Zeitung

 

Die Mehrdeutigkeit von Leben und Gesellschaft

publiziert: 26.03.08

Im Museum Bruder Klaus in Sachseln werden Kunstwerke gezeigt, die die Kulturförderungekommission des Kantons Obwalden in den letzten acht Jahren erworben hat. Die Ausstellung präsentiert einen Ausschnitt aus dem künstlerischen Schaffen Obwaldens und der Zentralschweiz. Darunter finden sich Werke namhafter Künstler, die eine Werkschau gestatten. Sie folgt keinem einheitlichen oder eindeutigen Stil, wie wir es von grossen europäischen Epochen, wie z. B. der Gotik oder dem Barock, gewohnt sind. Die Arbeiten stellen den Betrachter vor die Auseinandersetzung mit der Mehrdeutigkeit des Dasein und der Individualität des Erlebens und Gestaltens in der modernen Zeit. Im Unterschied zur Welt der Eindeutigkeit, wie sie von Politikern und Predigern heraufbeschworen wird, sind die Werke vielgestaltig und kommen ohne Schablonen und Floskeln aus. Die Künstler werfen, sensibel ahnend, einen Blick in die Zukunft und geben dem Besucher zu bedenken, dass nur derjenige zu bestehen vermag, der sich auf die Mehrdeutigkeit von Leben und Gesellschaft einlässt. Die Kunst repräsentiert kein geschlossenes Weltbild, kein definierbares Heimatgefühl. Sie antwortet auch nicht auf die Frage, was «Heimat» eigentlich ist. Sie lehnt die patriotische Gestik ab. Sie sagt auch nicht, welche Werte gültig sind. Werden Menschen dargestellt, dann sind es fragende, unsichere wie die Selbstporträts von Charles Wyrsch oder die queren Köpfen einer Jassrunde von Doris Windlin. Zu Eugen Bollins «Begegnungen» steht im Katalog vermerkt, dass der Maler aus Bewusstsein und Unbewusstem schöpfe, und er dabei «das Erreichte in seiner Kunst in Frage» stelle.

Ja, das ist es. Die moderne Kunst stellt sich selbst in Frage und sucht zeitgemässe, oft ironisierende Antworten. Die Abbildungen und Plastiken aus früherer Zeit – wie z.B. in der benachbarten Kirche – scheinen jedoch nicht an sich selber zu zweifeln und flüchten sich da und dort in die schöne Gebärde. Die ältere Kunst scheint eindeutig. Blickt man aber in das gemalte Antlitz von Bruder Klaus, dem im Parterre des Museums eine Abteilung gewidmet ist, begegnet man Künstlern, die seinerzeit auch Fragen aufgeworfen haben. Es sind Gesichter geworden, die fromme Menschen in alten Zeiten irritiert haben könnten. Heute haben wir uns an die Bildnisse gewöhnt. Da gibt es nicht mehr viel zu fragen. Die Kunstwerke der Moderne aber lösen Formen und Konturen auf. Sie führen den Betrachter in die Leere, so als wäre auch der Himmel leer und nicht mit Heiligen bevölkert.

Wäre die Welt vor hundertfünfzig Jahren – in der Zentralschweiz vor fünfzig Jahren – stehen geblieben, hätte es wohl kaum mehr etwas zu fragen gegeben. Da hätte es schlicht und einfach geheissen: Entweder-Oder. Entweder hältst du das Wunder für wahr oder du bist ein Ketzer. Heute gibt es das Entweder-Oder nicht mehr, sondern das Sowohl-als-auch und das vieldeutige Vielleicht.

Der moderne Mensch von heute, das verdeutlicht die kleine Ausstellung, muss lernen, sich mit der Mehrdeutigkeit abzufinden. Moderne Kunst stellt zum Leidwesen vieler eine Welt dar, in der sich die Werte auflösen. Sie verheisst eine ungewisse Zukunft und stellt die Identität in Frage. Umso mehr gewinnen die Fragen nach dem Woher und dem Wohin des menschlichen Lebens an Dringlichkeit. All die Antworten, die früher einfach verbindlich waren, können den modernen Menschen nicht mehr befriedigen.

Natürlich stellten Künstler vergangener Jahrhunderte auch Fragen, wenn sie nicht gerade eine Auftragsarbeit übernommen hatten. Doch die Antworten waren meist vorgegeben. So wurde das Gedicht «Das Senfkorn» der Zisterzienser Nonne Mechtild von Magdeburg (1212 – 1283) der Mystik zugeordnet und dadurch für das alltägliche Leben irrelevant. Das Gedicht aber entzog schon damals der Eindeutigkeit den Boden:

Der Weg trägt dich
in eine wunderbare Wüste,
die sich breit, weit
endlos dehnt.
Die Wüste hat weder Zeit noch Ort,
sie ist auf besondere Weise.

Das Gut dieser Wüste
hat nie ein Fuss durchquert,
geschaffne Vernunft
kam nie dahin:
Es ist, und weiss doch niemand, was.
Es hier, es dort,
es fern, es nah,
es tief,
es hoch,
es ist derart,
dass es ist weder dies noch das.

Die Wüste, die sich für Mechtild von Magdeburg auftut, ist das Jenseits, der Raum, den wir, in christlicher Tradition, Himmel nennen. Er hat weder Zeit noch Ort. Nie hat ein Fuss jemals diese Wüste durchquert. «Franz Buchers grossformatige Bilder sind seismographische Aufzeichnungen innerer Landschaften», lässt uns der Katalog wissen. Sie sind derart, dass sie weder dies noch das sind, was ebenfalls auf andere Werke in der Ausstellung zutrifft. Jörg Niederberger meint: «Meine Malereien sind Farblandschaften, in denen man sich verlieren kann.» Das Sich-verlieren-können führt in eine Wüste, die nie ein Fuss durchquert hat. Es gibt in diesem Farbspektrum keine Eindeutigkeit. Die Farben verfliessen ineinander. Sie verbinden und vermischen eigentlich unvereinbare Sphären. Keine Spur führt an ein Ziel. Wohin treibt die Welt, was wird die Zukunft bringen? Wer dabei in der Eindeutigkeit haften bleibt, lebt an der Zeit vorbei. Er lebt in Antworten und nicht in Fragen.

Die Ausstellung «KÜR» im Museum Bruder Klaus dauert bis Mitte Juni. Es ist erfreulich, dass der Kanton Obwalden sein Ankäufe ausstellt. Damit werden die Künstler ausgezeichnet und zugleich wird ihr Schaffen gefördert, wie Landammann Hans Hofer betont. «KÜR» bedeutet für den Kurator, Urs Sibler, nicht «Pflicht», sondern freie Wahl.

 

erschienen in: Neue Luzerner Zeitung

 

Eine Regierung ist wie eine Burg, falls…

publiziert: 21.02.08

Als junger, noch leicht vorwitziger Regierungsrat erlaubte ich mir einmal am Schluss einer Sitzung die Bemerkung, der damals amtierende Landammann habe eine ausgezeichnete Rede gehalten. Freilich erinnere ich mich heute nicht mehr daran, wo er gesprochen hat und was der Inhalt seiner Rede war. Damals blitzte Unverständnis aus den Augen des erfahrenen Landschreibers Dr. Gerold Meyer. Er sagte spitz: «Seit wann ist es Brauch, dass in der Regierungsratssitzung über Kollegen geurteilt wird?» Ich errötete. «Aha», dachte ich wohl, «da hast du einen Fehler gemacht. Du solltest dich an die eingespielten Regelungen halten.» Wie wäre ich erst recht vom Landschreiber gerüffelt worden, wenn ich den Kollegen öffentlich kritisiert hätte!

Bei einer Tischrede warnte der damalige Regierungspräsident des Kantons Aargau uns Zuger Kollegen, wir sollten ja kein Verwaltungsgericht einführen. Wenn es eingesetzt würde, sei das Regieren nicht mehr so gemütlich. Alois Hürlimann, Regierung- und Nationalrat, verkündete jeweils lachend, das Schönste am Regieren sei die Willkür. Der Zuger Kantonsrat schuf aber die gesetzliche Grundlage für das Verwaltungsgericht. Gerold Meyer stand ihm als erster Präsident vor. Es kam, wie der Aargauer Kollege vorausgesagt hatte. Die Regierung blitzte gelegentlich vor dem Verwaltungsgericht ab. Sie nahm den jeweiligen Entscheid zur Kenntnis und spottete manchmal: «Der ehemalige Landschreiber hat sich eine Freude gemacht!» Dieser allerdings hielt sich sine ira und studio, ohne Zorn und Eifer, an Gesetz und Recht. In einem ironischen Spruch liegt ja auch immer ein bisschen Trost für den Unterlegenen.

Als im Zuger Regierungsrat eine Zeitlang eine gewisse Unsicherheit herrschte, die Meinungen hin und her gingen, sich keine Einigkeit einstellen wollte, sagte der schlaue und gewitzte Landschreiber: «Eine Regierung, die zusammenhält, ist wie eine Burg. Da kann der Kantonsrat nicht allzu viel ausrichten.» Seine Bemerkung fiel mir wieder ein, als ich die Drohung des abgewählten Bundesrats Christoph Blocher und seiner Partei hörte, künftig werde kräftig Opposition gemacht. Was dem Bundesrat Gewicht und Ansehen verleiht, ist seine innere Geschlossenheit. All die Differenzen, die nach aussen getragen werden, schwächen unsere Landesregierung. Ein Bundesratsgremium, das Ruhe und Gelassenheit ausstrahlt und sich in den Dienst einer Sache stellt, auch wenn nicht alle sieben der gleichen Meinung sind, darf sich nach Gerold Meyers Ansicht, wie eine Burg fühlen. An ihren festen Mauern prallen die Pfeile der Opposition ab.

Während der letzten Legislaturperiode kam es zu starken Unstimmigkeiten im Gremium. Da war einer oder eine gegen den andern, die anderen, es ging rundum. Im Land draussen stellten die Bürger fest, wie der Mörtel der bundesrätlichen Burg abbröckelte. Dabei verlor die Politik an Glaubwürdigkeit.

Nach den Wahlen haben wir nun eine neue Situation. Es ist zu wünschen, dass der Bundesrat wieder jene Ruhe ausstrahlt, die nach aussen überzeugend wirkt. Hier drängt sich mir ein Zitat auf. Robert Musil schreibt in seinem Werk «Der Mann ohne Eigenschaften»: «Denn dort, wo man weniger auf die Person als auf die Sache sieht, ist merkwürdigerweise immer von frischem eine neue Person da, die die Sache vorwärts führt; wogegen sich dort, wo man auf die Person achtet, nach Erreichung einer gewissen Höhe das Gefühl einstellt, es sei keine ausreichende Person mehr da und das wahrhaft Grosse gehöre der Vergangenheit an.» Achtet also der Bundesrat mehr auf die Sache als auf die Person, wird unser Land weiter vorankommen und sowohl national wie auch international gute Figur machen.

Natürlich braucht es Opposition der Parteien. Sie sollen streiten, sich gegenseitig Vorwürfe machen, sich profilieren und Ideen entwickeln. Ohne Wettbewerb der Ideen existiert keine echte Demokratie. Wenn die Parteien miteinander in Konkurrenz treten, sorgen sie für das Schmieröl im Getriebe eines demokratischen Staates. Die Medien tragen die unterschiedlichen Standpunkte ins Land und kommentieren sie. Recherchieren sie selber gründlich und entdecken ein Versagen, dann zählen sie auch zur Opposition. Es sind ja nicht nur die Parteien, die das Geschehen im Bundeshaus, der Exekutive und der gesetzgebenden Gewalt, verfolgen. Verbände und verschiedene Interessengruppen im weiten Spektrum der offenen Gesellschaft erheben das Wort. Auch Lobbyisten finden eine Partei oder einem Parlamentarier mit Zugang zum richtigen Mikrophon oder Lautsprecher. Wenn sich nun die Volkspartei SVP vermehrt der Opposition verschreiben will, dann lanciert sie damit den notwenigen Meinungsstreit. Sie wird Streitrösser in den Kampf schicken und den Gegnern provozieren. Die besten haben die Nase vorn.

Ludwig Marcuse hat einen «Leitfaden für Streitrösser» geschrieben. Man solle bei Kämpfen nicht vergessen mit vielerlei Mass zu messen. Wenn es Werke deiner Freunde seien, solle man den Pfad für sie finden. Werke der andern aber solle man fad finden. Ironisch fein meint er weiter, Argumente seien ein bürgerliches Vorurteil, und falls der Gegner die besseren besitze, so solle man ihn einfach für nicht zuständig erklären. Diese Qualifikation würde allerdings eine fade Opposition ohne Pfad abbilden.

Ein Bundesrat, der geschlossen nach aussen tritt, dringt meistens sowohl im Parlament wie auch im Volk mit seinen Vorlagen durch. Eigentlich macht jede oppositionelle Partei den Standpunkt des Bundesrats nur noch deutlicher. Wie eine Burg steht der Bundesrat da. Möge er dies – es ist des Kolumnisten Wunsch – möglichst während der ganzen neuen Legislaturperiode.

 

erschienen in: Neue Luzerner Zeitung

 

Jeder trägt mit sich einen Teddybären

publiziert: 16.01.08

Allein das Zögern sei human, wird der Schweizer Autor Markus Werner zitiert. Wenn diese Aussage stimmen würde, dann wäre unsere heutige Arbeitswelt durch und durch inhuman. Denn alles eilt. Die Konkurrenz macht Druck. Nur wer schneller ist, hat Erfolg. Wer zögert, hinkt hinterher. Der Zeitraum, innerhalb dessen etwas veraltet, ist kleiner geworden. Die Zeitspanne, während der das Alte wieder modern ist, hat sich ebenfalls verringert.

Wir erlebten kürzlich, wie Ruedi Rymanns «Schacher Seppli» im Schweizer Fernsehen den Final der Sendung «Heimat» gewonnen hat. Wir Älteren aber, die uns von der Modernität stets auch immer überholen liessen, haben das Lied schon vor zwanzig und mehr Jahren gesungen und den Jodler Ruedi Rymann bewundert. Und es wurde nun also, zu Rymanns eigener Überraschung, vom TV-Publikum zum grössten Hit erkoren. Jedermann findet, das sei in Ordnung. Und dies in einer Zeit, in der es auf Schnelligkeit und rasches Handeln ankommt. Wer wartet denn heute noch auf einen Brief? Die Zeit überspringt die Räume und macht sie klein.

Die plötzliche Modernität von Ruedi Rymanns «Schacher Seppli» lässt uns über die Situation des Menschen nachdenken. Er will konkurrenzfähig sein und braucht die Langsamkeit als Ausgleich doch. Je rascher sich etwas verändert, je mehr Anpassungsleistung vom Menschen verlangt wird, desto mehr wächst in ihm der Wunsch, sich an Vertrautem festhalten zu können. Der Philosoph Odo Marquard beschreibt die Situation sehr verständlich. Ein treffendes Beispiel, um zu erkennen, wie die eigene Langsamkeit ins Schnelle mitgenommen wird, lässt sich bei Kleinkindern finden. «Sie – für die die Wirklichkeit unermesslich neu und fremd ist – tragen ihre eiserne Ration an Vertrautem ständig bei sich und überall mit sich herum: den Teddybären. Kinder kompensieren ihr Vertrautheitsdefiziti durch Dauerpräsenz des Vertrauten…»*

Die moderne Welt, mit dem rasanten Fortschritt auf allen Gebieten, wird dem Menschen ständig neu und wirkt fremd. Die Welt ist unübersichtlich geworden. Die Informationenflut kann kaum verarbeitet werden. Ohne Auswahl von Weltausschnitten bleibt der Mensch in einem dauernden Erregungszustand, steht ängstlich vor einer Zukunft, die er nicht übersehen, geschweige erfassen und ordnen kann. Er braucht also einen Teddybären als Hort des Vertrauten. Ein solcher Teddybär kann eine Persönlichkeit aus der Politik sein oder der Papst mit seiner klaren Haltung, aber auch eine Ideologie, die die Welt geschickt auf einen einfachen Nenner bringt oder ein Vermögen, das Sicherheit suggeriert.

Ein Stadtarchitekt hat einmal gesagt, wenn sich das Bauvolumen einer Ortschaft in kurzer Zeit um fünfzehn Prozent verändere, werde der Ort unvertraut, verliere die behagliche Atmosphäre und werde einem als Heimat fremd. Zug, zum Beispiel, ist in den letzten Jahren derart gewachsen, dass älteren Menschen – wie mir – die Vertrautheit mit der Stadt abhanden gekommen ist. Es gibt kaum mehr Grossbetriebe, von denen man mit Sicherheit weiss, nach welchem Geld sie sich ausrichten. Das Kapital hat den Ort nicht nur baulich, sondern auch wirtschaftlich verändert, und alle staunen, woher denn die hohen Steuereinnahmen kommen.

So versucht man sich halt an einen Teddybären zu halten, an eine stabile Ordnung, an eine Ideologie, an einen charismatischen Menschen, an einen Politiker, der exakt sagen kann, wie es ist und wie es sein soll, der den Kapitalismus geschickt mit dem Heimatbegriff verbindet, dort von Tell redet, wo er selber Gessler huldigt. Einem, dem der Spagat gelingt, die Globalisierung der Wirtschaft mit einer engen Heimatidylle zu kombinieren.

Ich frage mich, welchen Teddybären ich denn selber mit mir herumtrage. Die Antwort fällt mir leicht. Ich habe mir angewöhnt, Hörbücher zu kaufen, um sie im Auto zu hören. Etwa: «Die klassischen Sagen des Altertums» von Gustav Schwab, die Odyssee und der Kampf um Troja, Sagen, die ich schon als Seminarist gelesen habe. Ich höre Texte, die ich seit meiner Jugendzeit kenne, Werke wie «Don Quijote de la Mancia» von Miguel de Cervantes und «Schuld und Sühne» von Dostojewski, wenn möglich mit einer vertrauten Stimme wie derjenigen von Gert Westphal. Und noch anderes gehört zu meinem Teddybären: Wie etwa die Ferien auf dem Zeltplatz, wo sich meine Freunde jedes Jahr einfinden und mit mir älter geworden sind. Zur neuen Langsamkeit gehören nun auch Bahn- und Schifffahrten, und ich ärgere mich schon heute, dass der Zug nach Engelberg dereinst im Tunnel verschwinden wird. In die Berge fahren, heisst die lebensnotwendige Langsamkeit suchen, und dies schon während der Fahrt.

Halten wir es doch mit Odo Marquard, der im Vortrag «Zeit und Endlichkeit» ausführt: «Je schneller die Zukunft modern für uns das Neue – das Fremde – wird, desto mehr Vergangenheit müssen wir – teddybärgleich – in die Zukunft mitnehmen und dafür immer mehr Altes auskundschaften und pflegen.» Der Mensch ist im Umgang mit seiner Zeit ein Doppelwesen. Er muss beide Geschwindigkeiten pflegen, die Schnelligkeit und die Langsamkeit. Wie er das anstellt, ist seine Sache. Ich kenne einen jungen Mann, der in seiner Freizeit mit der Dampflokomotive über die Furka fährt und sich ein Vergnügen und Hobby daraus macht, diese alte Bahn und die Strecke mit Freunden zu unterhalten. Im Berufsalltag, der ihm Tempo abverlangt, wirkt er dafür ruhig und gelassen.

* In: Odo Marquard: Zukunft braucht Herkunft. Philosophische Essays. Reclam 2003.

 

erschienen in: Neue Luzerner Zeitung

 

2007

Die Metapher vom schwarzen Schaf

publiziert: 26.11.07

 

Am runden Tisch im Aarhof trafen sich kürzlich ehemalige Politiker und frühere Vertreter aus Wissenschaft und Kultur. Die Freunde diskutierten auch über die eidgenössischen Wahlen. Sie waren sich bald einig, dass gewisse Ausrutscher während des langen Wahlkampfs im Nachgang diskutiert werden sollten. Stil und Inhalt seien ja alles andere als erhebend gewesen. Manches davon setze sich in den Köpfen fest und beeinflusse das Reden und Handeln der Menschen. Die Sprache sei härter, ja unversöhnlicher geworden. Ein glänzend wiedergewählter Nationalrat bevorzuge verbal die Motorsäge, und sage das auch.

Plötzlich äusserte ich spontan den Wunsch, dass die Herren am Tisch, die alle eine gewisse öffentliche Autorität darstellen, doch vermehrt zur Feder greifen würden. Uns könne eigentlich nichts mehr passieren. Die heftige Reaktion eines Leserbriefschreibers auf eine meiner Kurzanalysen habe mich kaum berührt. Im Gegenteil: Wahrscheinlich hätte ich den Nerv getroffen, sagte ich lächelnd. In unserem Alter habe man sich von der Angst befreit, sich lächerlich zu machen. In diesem Zusammenhang zitierte ich wieder einmal Ludwig Marcuse. Die Furcht, verlacht zu werden, sei die Seelenlosigkeit aller Konformismen, aller Verfremdung, mit denen einer von sich ablenke.

Nun hatte ich die Diskussion in Schwung gebracht. Gian Reto nahm den Faden auf und bemerkte, diese Tatsache sei vielleicht mit ein Grund, weshalb Journalisten im Mainstream mitschwimmen und sich die Medien instrumentalisieren lassen würden. Somit brauche man sich nicht zu exponieren. Ich erwiderte, Zeitungskommentare und Glossen, die die Meinung der Mehrheit vertreten würden, seien im Grund bedeutungslos und würden den Tag nicht überleben. Nun aber mahnte mich Gian Reto, es sei etwas gar praktisch, einfach festzustellen, dass sich der Wahlkampf, der hinter uns liege auf einem bedenklich niedrigen Niveau bewegt habe. Gib uns ein Beispiel, das deine Aussage belegt.

Gut, sagte ich, so ziehe ich das Plakat vom schwarzen Schaf als Beispiel heran. Das Plakat zur Ausschaffungsinitiative suggeriert, schwarze Schafe sollten ausgesondert, des Landes verwiesen, eingesperrt oder unversöhnlich verfolgt werden. Es gibt doch in mancher Familie ein schwarzes Schaf. Und was machen die Eltern? Sie versuchen das Kind in die Familiengemeinschaft zurückzuholen und bringen ihm damit die nötige Achtung entgegen. Denn nur so bleibt der letzte Rest von Selbstachtung erhalten, ebenso die Erkenntnis, dass man im schlimmsten Fall auf die Eltern oder Geschwister zählen kann. Die Selbstachtung ist das höchste Gut eines Menschen, geht sie verloren, kommt es dem schwarzen Schaf nicht mehr darauf an, was es noch alles anstellt.

Aha, meinte Ernst, du willst also sagen, wenn das Bild in den Köpfen hängen bleibt, dann braucht es nicht viel, und man versucht, das schwarze Schaf so zu behandeln, wie das Plakat vorgibt. Die Aussage muss korrigiert oder doch wenigstens relativiert werden. Die Sinnverschiebung, die es bewirkt, kann doch nicht im Interesse der Gemeinschaft liegen. Die ausländischen Medien haben sehr negativ über die Schweiz berichtet. Das Bild der Schweiz, eine Nation zu sein, in der das humanitäre Menschenrecht hochgehalten wird, ist angekratzt. Mit dem Plakat wird etwas in die Herzen der Menschen gepflanzt, das ungut ist. Sie werden verstockt und gewisse reagieren direkt hämisch. Die Hämischen sind die Hässlichsten unter den Menschen.

Nun wurde es am runden Tisch sogar biblisch. Sämi verwies auf Lukas 15, wo Jesus den Zöllnern, Sündern und Scheinheiligen das Gleichnis vom verlorenen Sohn erzählte. Er war das schwarze Schaf der Familie, verprasste sein Erbe mit den Huren. Als er reumütig und verarmt zurückkehrte, bereitete ihm der Vater ein Fest. Der ältere Bruder kam vom Feld zurück und vernahm die Nachricht. Da wurde er zornig und weigerte sich am Fest teilzunehmen. Der Vater aber ging zu ihm hinaus und sprach mit ihm: «Dein Bruder ist tot gewesen, doch nun lebt er wieder, verwirrt ist er gewesen und nun aufgefunden. Du aber warst hier, und all das Meinige gehört dir.»

Das habe der Vater gut gemacht, bemerkte nun Hanschristoph, dass er den braven Sohn besänftigt habe, denn der Zorn sei der Anfang grosser Übel. Er wies auf den Beginn von Homers Epos Ilias hin. «Den Zorn singe, Göttin, …den unheilbringenden Zorn, der tausend Leid … schuf und viele stattliche Seelen in den Hades hinabstiess.»

Treffend, lachte Walter, Hanschristoph ist nie um ein Zitat verlegen! Er gebe ihm Recht, denn gewisse Kampagnen während des Wahlkampfs hätten den Zorn direkt geschürt. Gian Reto analysierte kühl. Es gebe ein Zornkollektiv. Er denke da an die AUNS mit ihren Behauptungen vom EU-Beitritt durch die Hintertür und vielen anderen Verdächtigungen. Solche Zornkollektive würden von einer Ressentimentherde getragen, wie ein Philosoph kürzlich geschrieben habe. In dieser Herde herrschten Muckertum und Rachegeister.

Der bedächtige Ernst begehrte nochmals zur Metapher vom schwarzen Schaf zurückzukehren. Der verschobene Sinngehalt eines geläufigen bildlichen Ausdrucks auf dem Plakat verwirre, da stimme er mir zu. Man solle die Sache doch beim Namen nennen. Es gehe um kriminelle Ausländer. Basta! Doch ein richtiges schwarzes Schafe ändere sich im Lauf seines Lebens vielleicht sogar. Er könne Beispiele nennen, in denen Jugendliche, die aus der Reihe getanzt seien, später angesehene Persönlichkeiten wurden. Ach was und überhaupt: Wer nie ein Schlingel gewesen sei, werde später kein richtiger Mann. Bevor wir am Tisch das Thema wechselten, meinte Mario nur: Ich wünsche mir Bundesrätinnen und Bundesräte, die klug wie eine Landesmutter oder wie ein Landesvater handeln.

 

Wahrheit und Lüge in der Politik*

publiziert: 26.10.07

 

Andreas Ladner fragt in einem Interview der «Neuen Luzerner Zeitung» (12. September 2007): «Wieso sollten wir fähig sein, Politik ohne Intrigen und Geschichten um Personen zu betreiben?» Die Philosophin Hannah Arendt beginnt den Aufsatz «Wahrheit und Politik» mit den Worten: «Der Gegenstand dieser Überlegungen ist ein Gemeinplatz. Niemand hat je bezweifelt, dass es um die Wahrheit in der Politik schlecht bestellt ist, niemand hat je die Wahrhaftigkeit zu den politischen Tugenden gerechnet. Lügen scheint zum Handwerk nicht nur des Demagogen, sondern auch des Politikers und sogar des Staatsmanns zu gehören.» Arendts Aufsatz würde eigentlich zur Pflichtlektüre jeder Politikerin und jedes Politikers gehören. Aber Wahlkämpfe und politische Auseinandersetzungen sind viel weniger unterhaltsam, ohne «Lüge, List und Leidenschaft»**, dem Grundthema im neusten Buch von Moritz Leuenberger. Lüge und List in der Politik nicht wahrhaben zu wollen, verkomme bei näherer Betrachtung zur beschönigenden Verdrängung, schreibt der Bundesrat.

Nun, in unserem Land herrscht auch während Wahlkämpfen noch immer ein Hauch von Anstand und Respekt dem Gegner gegenüber. Dennoch hat sich das politische Klima verändert. Die Personalisierung, der persönliche Geltungsdrang haben zugenommen. Die Sachthemen treten in den Hintergrund. Diejenige Partei, die den Wahlkampf dominiert, geht ihren eigenen, auf eine Person bezogenen propagandistischen Weg. Seit Monaten wurde uns von SVP-Seite eingebläut, man fürchte um die Wiederwahl Christoph Blochers in den Bundesrat. Rechtzeitig vor dem Wahlkampfschlussspurt erschien in den Zeitungen ein grosses Inserat: «Geheimplan gegen Blocher!» Da wird festgehalten, seine Abwahl würde sich verheerend auf den Zustand unseres Landes auswirken. Das macht natürlich schon Eindruck. Aber weder Ueli Maurer noch Christoph Mörgeli konnten glaubhaft belegen, dass es einen Geheimplan gibt. So verkommt die werbewirksame Seifenblase zur Lüge, die sich allerdings nicht einfach in Nichts auflöst. Vielmehr steigt folgerichtig das Plakat: «Blocher stärken! SVP wählen!» wie ein Phönix aus der Asche.

Dass SP-Parlamentarier und andere schon vor Monaten verkündet haben, sie würden Blocher als Bundesrat nicht bestätigen, gehört wohl zur Propaganda auf der linken Seite und zur Wahlkampfstrategie. Eine solche Ankündigung fördert die Personalisierung und die Polarisierung.

Vielleicht löst sich für Bundesrat Christoph Blocher alles in Minne auf. Am 3. Oktober verkündet er in der NLZ lächelnd: «Ich rechne mit einer Wiederwahl». Er spüre eine grosse Sympathiewelle, die er eigentlich seinen Gegenspielern zu verdanken habe. Er analysiert sicher richtig, denn viele der gegnerischen Parteiexponenten sind auf die systematisch aufgeblähte Wahlpropaganda hereingefallen und haben sich an Blocher festgebissen.

Das Blatt berichtet am gleichen Tag, dass Bundesrat Pascal Couchepin im Ständerat die Behauptung, es finde eine «Balkanisierung der IV» statt, widerlegt habe. Zehn Vorstösse in dieser Sache, darunter auch einer vom Zuger Nationalrat Marcel Scherer, wurden eingereicht. Es wird behauptet, dass 20,8 % der Neurenten zwischen 2003 und 2005 von Menschen aus den Staaten des ehemaligen Jugoslawien beansprucht würden, obwohl sie nur 6,1 Prozent der Bevölkerung ausmachen. Couchepin stellte die Statistik ins richtige Licht und sagte, man müsse doch das jeweilige Berufsprofil heranziehen. Bei gleichem Berufsprofil würden Menschen aus dem ehemaligen Jugoslawien und der Schweiz die gleiche Invaliditätsrate aufweisen. Ja, er belegte, dass Personen aus dem Balkan bei «Verletzung von Knochen und Bewegungsorganen» sogar besser abschneiden würden, im Verhältnis drei zu fünf. Statistiken lügen, wenn sie im Dienst von Interessen und Propaganda stehen! Und wie steht es denn mit der Politik, die mit falschen Statistiken operiert?

In den «Sudelheften» von Georg Christoph Lichtenberg lese ich: «Die grössten Dinge in der Welt werden durch andere zuwege gebracht, die wir nichts achten, kleine Ursachen, die wir übersehen und die sich endlich häufen.» Ja, die grössten Dinge ergeben sich nicht aus dem Wirken eines einzelnen grossen Mannes! In einer direkten Demokratie darf man die Macht eines einzelnen Politikers nicht überschätzen.

«Die Esel haben die traurige Situation, worin sie jetzo in der Welt leben, vielleicht bloss dem witzigen Einfall eines losen Menschen zu danken, dieser ist Schuld, dass sie zum verächtlichsten Tier auf immer geworden sind und es auch bleiben werden, denn viele Eselstreiber gehen deswegen mit ihren Eleven so fürchterlich um, weil es Esel, nicht weil es träge und langsame Tiere sind» (Lichtenberg). Der arme Esel … Seine Name nährt seit Jahrhunderten gewisse Vorurteile. In der Politik verfestigen sie sich und werden sie dauernd wiederholt, lassen sich mit ihnen Stimmen gewinnen.

Hannah Arendt schreibt: «Wir können uns ohne weiteres eine Welt vorstellen, die weder Gerechtigkeit noch Freiheit kennt… Mit der so viel unpolitischeren Idee der Wahrheit ist das merkwürdigerweise nicht möglich.»

Um Schaden vom Gemeinwesen abzuwenden, bleibt dem Stimmbürger, da «es um die Wahrheit in der Politik schlecht bestellt ist», im Grunde nur die Einsicht, dass es so ist. Er kann sich nicht mit dem sokratischen Wissen des Nichtwissens trösten. Er muss sich vielmehr sagen: Ich weiss, dass ich es weiss. Und so versuche ich, hinter die Tricks, hinter die List und die Lüge zu kommen und die Propaganda, die ja stets verschweigt, was es zu einer Sache auch noch zu sagen gäbe, zu relativieren.

* Hannah Arendt: Wahrheit und Lüge in der Politik. Zwei Essays. Serie Piper, 1967
** Moritz Leuenberger: Lüge, List und Leidenschaft. Ein Plädoyer für die Politik. Limmat, 2007.

 

La Signora Dappertutto

publiziert: 25.08.07

Ich sass auf der kleinen Veranda meines grünen Bungalows und beobachtete die Szenerie, das Kommen und Gehen der Gäste. Renzo, dem Chef der Anlage, entgeht nichts. Er weiss aus Erfahrung, wann ein Befehl zu erfolgen hat. In früheren Jahren spazierte seine Frau jeweils am Abend mit ihrem Hündchen, einem Pekinesen, vom Wohnhaus hinter den Pinien zur Direktion. Dort übergab sie es ihrem Mann. Er holte eine Schale Wasser und liess es schlürfen. Unterdessen spritzte die Frau mit dem Gartenschlauch die Blumen in den Rabatten und den Blumenkisten, zupfte da und dort verwelkte Blätter der Fleissigen Lieschen, der Geranien, Begonien, Hortensien und Rosen ab.

Tagsüber überwachte die Signora die Putzfrauen. Da mussten die Bungalows gereinigt, die Wäsche gewechselt und alles so arrangiert werden, dass die nächsten Gäste einziehen konnten. Sie inspizierte gelegentlich die Toiletten und Duschräume. Und weil ich sie überall auf dem Platz antraf, nannte ich sie Signora Dappertutto, und sie lachte.*

Der kleine Zeltplatz ist ein Familienbetrieb. Zwei Söhne und eine Tochter arbeiten mit. Die meisten Feriengäste, die einmal diesen Platz gewählt haben, kommen wieder. Einige Italiener sind Stammgäste, die sich von Ende Mai bis anfangs Oktober einrichten. Es gibt einen Gemüsehändler, der Flavio heisst. Er ist Fan des AC Milan und schwärmt für den Ferrarirennstall. Von Politik hält er nichts. Dafür liest er jeden Morgen «Tutto Sport».

Als ich diesen Sommer auf dem Zeltplatz ankam, hatte sich vieles verändert. Flavio hatte den Gemüseladen geschlossen. Ich sah ihn nur noch im Auto vorbei fahren. Das verwunderte mich nun doch, und ich beobachtete das tägliche Treiben etwas genauer. Das Restaurant wird neu von einem der Söhne geführt, und im Verkaufsladen entdeckte ich eine andere Equipe. Hinter der Fleisch- und Brottheke stand, mich fröhlich begrüssend, die Signora Dappertutto. Sie führt das Szepter, sorgt für Nachschub im Verkaufsladen, verhandelt mit den Lieferanten und füllt mit zwei Angestellten die Gestelle auf.

Um halb zwölf schliesst der Laden und öffnet erst um halb fünf wieder. Es sind dies die Stunden der Siesta. Die Italiener legen sich nicht wie die Nordländer an die stechende Sonne. Sie essen im Restaurant oder im wohltuenden Schatten der Bäume und halten dann ihren Mittagsschlaf. Dappertutto aber ruhte sich nicht aus.

Von meinem Sitzplatz hörte ich das Klappern und Scheppern der Pfannen. Ich schlich an der Küche vorbei, wo die Signora gestikulierte und in alle Kochtöpfe guckte. Sie gab auch hier den Ton an und prüfte, wie die Speisen auf den bereitgestellten Tellern wirkten. Ein paar Tage später lobte ich die Küche an der Rezeption. Sie sei viel besser als in früheren Jahren. «Wir führen das Restaurant nun selber, und meine Frau schaut, dass wir alle gut essen», sagte Renzo. «Aha!», antwortete ich nur und dachte, ihre Rundungen seien die beste Referenz.

Unter den aufgekrempelten Ärmeln der Signora entdeckte ich eine Haut weiss wie ein Engerling. Dieses Bild gefiel mir. Ich blätterte im Wörterbuch nach und las, «Engerling» heisse «larva di maggiolino». Wie schön das Italienische doch klingt! Was ist eine «Frau Überall» gegenüber einer in allen Farben agierenden «Signora Dappertutto».

Eines Morgens beobachtete ich, wie sie mit einer gluckenhaften Behäbigkeit, ständig parlierend, vor einem Wägelchen voll Gemüse und Früchte zum Hintereingang der Küche stolzierte. Eine Angestellte mit rundem, schönem Gesicht und ausladenden Körperformen, die die Arbeitsschürze spannten, schob den Wagen. Hinter ihr lief eine sehr schlanke Frau, so dünn, dass die Schürze überall bammelte. Dappertutto redete mit den Händen. Flugs wurden die Körbe in die Küche getragen. Da vernahm ich nur noch ihre Stimme mit dem Timbre des hohen C. Nach einer Weile kamen die Frauen zurück und verschwanden im Laden.

Dappertutto – das umsichtige Auge. Renzo hockte unterdessen am Computer in der Direktion und wies den Neuankömmlingen ihren Platz an. Zwei Burschen, offenbar noch Schüler, lotsten sie anschliessend mit dem Elektromobil zum richtigen Platz. So lief es Tag für Tag.

Am Abend, endlich, spazierte die Dappertutto wie früher mit ihrem zottigen Hündchen über den Platz. Die hohen Temperaturen setzten ihm offenbar zu. Es wirkte müde. Die Frau hatte tiefe Augenringe. Der kahlköpfige Chef kam aus seinem Büro und holte Wasser. «Questo canoglino è carino», bemerkte ich. Dappertutto warf mir einen Blick zu, der mir zu bedenken geben wollte, dass dieses Hündchen kein Hündchen sei, sondern ein Hund, ein cane, ein kleiner Herr. Er verdiene es so verwöhnt zu werden wie die eigenen Söhne im Hotel Mama.

Die Signora Dappertutto gibt dem Zeltplatz noch mehr Farbe und Glanz, seit sie neue Funktionen übernommen hat. Und jetzt, wo ich die Erinnerungen an sie aufschreibe, bewegt mich die Hoffnung, sie möge mein Sommersanatorium im nächsten Jahr wieder beleben und mit dem Hündchen über den Platz zu Renzo spazieren. Ohne Wiederholungen kein Leben!

Italien bleibt sich auch sonst gleich. Einheimische Journalisten werden auch künftig über den «pasticcio politico» schreiben, was nach Langenscheidt «Pastete, verwickelte Geschichte, wirres Zeug und Unregelmässigkeit» bedeutet. Dappertutto mit dem Hündchen auf dem Abendspaziergang gibt dem Leben dort unten seine Ordnung.

* Dappertutto bedeutet: «Da für alle, überall.»

Ich irritiere, also bin ich

publiziert: 30.06.07

Lassen Sie sich von einem Satz wie: «… die neuste Mode des Jahrhunderts hiess Zynismus, es war chic, Geld zu verdienen und zynisch zu sein …»* irritieren? Oder vom Ausruf: «Das Rütli ist ja bloss eine Wiese mit Kuhdreck!»? Als ich noch Regierungsrat war, führte ich Einbürgerungskandidatinnen und -kandidaten zusammen mit dem Historiker Albert Müller auf die Rütliwiese. Wir erzählten ihnen die Geschichte von der Gründung der Eidgenossenschaft und kamen auf die Bedeutung des Orts zu sprechen. Allerdings vergass ich zu bemerken, es handle sich um eine Wiese mit Kuhdreck. Es hätte ja passieren können, dass plötzlich jemand in einem Kuhfladen gestanden wäre. Unser ernsthaft gemeinter Vortrag über die Schweizerische Demokratie, unter anderem mit dem Hinweis, dass das Rütli der Schweizer Jugend gehöre, wäre sage und schreibe in den Dreck gefallen. Hoffentlich hat sich kein Offizier am Rütlirapport mit General Guisan, 1940, die Stiefel verdreckt?

Den Titel und die Anregung zu dieser Kolumne verdanke ich dem Verwaltungsratspräsidenten der MediBank, Bruno M. de Nicolò. In Anlehnung an das berühmte «Cogito, ergo sum. Ich denke, also bin ich», schliesst er das Vorwort zum Jahresbericht mit dem Wort: «Irritiere ich? Also bin ich.» Ob sich der Leser durch seine Ausführungen wirklich irritieren lässt, scheint de Nicolò nicht klar. Das Fragezeichen verrät seine Zweifel. «Wir haben immer noch kein Europa der Kultur», schreibt er, «sondern ein Europa der Wirtschaft und der Widersprüche. Eindimensionale, begnadete Selbstdarsteller in der Wirtschaft, die in ihren gespreizten Inszenierungen vermutlich selber nicht so recht glauben, was sie ausbreiten, verbergen sich hinter dem Schild der kollektiven Verantwortung. Das ist Flucht aus der Verantwortung und Pflichtvergessenheit. Zahlen und Statistiken allein sowie rationale Rechtfertigungsversuche und Begriffsdrechslereien, gewürzt mit vermeintlich hohen Seriositätsansprüchen, verdecken notdürftig schwache, gefühlsarme und blutleere Leistungen. Ohne ihre berufliche Identität sind diese vergoldeten nadelöhrscheuen Kamele leer, ziel-, inhalts- und orientierungslos.»

Beim Schreiben schaute Bruno M. de Nicolò von Oberwil über den Zugersee. In seiner Ansprache an der Generalversammlung meinte er, die Honorierungspraxis in Grosskonzernen sei ein besonderes Kapitel. Er beneide den Chef des Pharmariesen nicht, wenn er auf der anderen Seeseite einfliege. «Ich würde seinem Konzern aber gerne eine Entwicklung wünschen, die seinem Gehalt entspricht.»

Vielleicht muss man ein gewisses Alter erreichen, um derart klare Worte zu gebrauchen. Es gibt ja die berühmte Altersradikalität. Ludwig Marcuse, der zu seiner Zeit berühmte Autor, schreibt in seiner Biografie «Nachruf auf Ludwig Marcuse»: «Das Alter und das Schicksal, das mich traf, haben mich in hohem Grad von der Furcht befreit, die mehr als jede andere den Einzelnen fälscht: die Furcht, sich lächerlich zu machen, verlacht zu werden. Sie ist die Seele, die Seelenlosigkeit aller Konformismen, aller Verfremdung, mit denen einer von sich ablenkt.» Und so wagt ein Banker in seinem Geleitwort zum Jahresbericht Kritik an der Einseitigkeit des ökonomischen Denkens und Handelns zu üben. Einen erfolgreichen Bankpräsidenten kann man nicht mit einer müden Geste einfach in die Kiste der Gutmenschen oder der Schöngeister versorgen. Sensible Direktoren und Verwaltungsräte erkennen, dass die Geldberge nicht die schönsten im Lande sind.

Vielleicht schrumpft die Welt trotz Globalisierung zusammen. Wassermangel zwingt Menschen zum Auswandern. Kriege treiben sie in die Fremde. Asyle werden zu Käfigen. Franz Kafka schrieb in einer Fabel, von einer Maus, die in eine Falle geraten ist. Im Hinterhalt hat die Katze gewartet. Die Maus hat sie bemerkt und geseufzt: «Die Welt wird von Tag zu Tag enger.»

Was irritiert einen Altfreisinnigen am «Wahlpäckli», das die Zürcher FDP mit der SVP geschnürt hat? Da wurde der Parteipräsident mit der grellen Stimme auf derselben Liste mit dem freisinnigen Ständeratskandidaten verkuppelt. Der gleiche Parteipräsident hat die Schweizer und die Zürcher FDP jahrelang feindselig und boshaft angegriffen. Weichsinnige seien sie. Das Zweckbündnis irritiert. Die Seele des Freisinns wird auf dem Altar des möglichen Erfolgs geopfert.

Mir kommt die mutige, glanzvoll wiedergewählte freisinnige Ursula Gut zu Hilfe und spendet mir Trost. Das Zusammengehen der beiden bürgerlichen Parteien sei falsch. Ueli Maurers Frauenpolitik und sein Politstil passe nicht zur freisinnigen Haltung. In Gedanken war ich schon dabei, im Oktober die grünliberale List einzuwerfen.

Die nadelöhrscheuen Kamele begehren den Eintritt in den Saal mit dem Freskengemälde der Nidwaldner Landsgemeinde von Albert Welti. Auf die Frage eines kundigen Weibels würden sie wohl nicht sagen: «Wir opfern alles dem Erfolg.» Es irritiert einen noch mehr, dass ein Parteipräsident, der jahrelang den vermeintlichen Gegner schlecht gemacht hat, in den Ständerat gewählt werden will. Man lobt den Kleinen Rat als Chambre de Reflexion. Soll nun auch der eher sachlich ausgerichtete Rat eine Kammer des parteipolitischen Zanks werden? Altfreisinnige wie ich sind irritiert. Aber eben: Solange ich mich noch ärgere, bin ich. Ergo sum.

erschienen in: Neue Luzerner Zeitung

 

Schurkenstaaten und die Achse des Bösen

publiziert: 03.05.07

Wer die Welt in Schurkenstaaten und in Mächte, die eine Achse des Bösen bilden, einteilt, schafft Schurken und weckt das Böse. Der Mensch wird, was man von ihm erwartet. Er steuert sein Verhalten In Richtung Fremdbild, das zum Selbstbild werden kann. Welche Charaktereigenschaften verkörpert denn jemand, den andere als Schurke bezeichnen? Es ist auf jeden Fall fatal, wenn ein Mensch oder ein Volk auf eine negative Identität reduziert wird.

Als ich 1957 mit meinem Freund nach Heidelberg fuhr und wir zusammen durch den Odenwald nach Frankfurt wanderten, erlebte ich eine Überraschung. Abgesehen davon, dass die erste Wegstrecke über den Philosophenweg führte, der an Karl Jaspers erinnert, und dass Romantiker wie Eichendorff und Brentano in dieser Gegend ihre Lieder gedichtet hatten, marschierten wir im Geiste des «Taugenichts» durch die Gegend.

Nur gerade ein Dutzend Jahre waren seit dem Zweiten Weltkrieg vergangen. Zu Hause fluchte Vater über die Deutschen. Er gebrauchte das Repertoire der schlimmen Stammtischsprüche. Seine Verurteilung prägte sich uns bereits im Kindesalter ein. Ich erwähne hier nichts davon. Später hörte ich sie wieder am Stammtisch. Da sprach man auch über «Tschinggen» abschätzig. Giovanni aus Belluno, der bei uns als Knecht arbeitete, lernte ich als einen liebenswerten, fleissigen Mann kennen.

Wir marschierten also zu Beginn der Sommerferien durch den Odenwald mit seinen alten Eichen-, Buchen- und Tannenbeständen. «Wer hat dich du schöner Wald aufgebaut so hoch da oben?» Während fünf Tagen wanderten wir an Bauernhöfen und Dörfern vorbei, fragten die Leute nach dem Weg und nach einer Unterkunft. Nach Vaters vorgefasster Meinung hätten wir eigentlich nur angeschnauzt werden sollen. Als wir am letzten Tag von einem Gewitter überrascht wurden, fanden wir kein Bett mehr in einem einfachen Gasthaus. Wir sahen wie Strolche aus. Unrasiert und durchnässt wie wir waren, traute man uns nicht. Vor Darmstadt beschlossen wir, in einem Viersternhotel zu übernachten. Wer bezahlt, ist kein Landstreicher. Wir hatten bald ein Bett.

Verschiedene Begegnungen mit den einfachen Leuten vermittelten uns ein völlig neues Deutschlandbild. Die Menschen waren hilfsbereit, freundlich, redeten mit uns in einem sympathischen Dialekt. Das Klischee des hässlichen Deutschen zersprang: Deutsche sind auf verschiedenartig deutsch, wurde mir damals bewusst. Vaters Wortgift konnte mir nichts mehr anhaben. Später fiel ich ihm ins Wort, wenn er, der die Schweizergrenze nicht überschritten hatte, die Deutschen erneut schlecht machte.

Die Wanderung durch den Odenwald war für mich ein Schlüsselerlebnis. Der Mensch passt in kein Schema. Ein Volk kann nicht auf eine Identität reduziert werden. Die Formulierung «Die Deutschen sind ?» ist schon im Ansatz falsch. Man kann weder Italiener, noch Jugoslawen, weder Muslime noch Katholiken in einer Formel einkapseln. «Die Schweizer sind?» Sie sind nicht einfach, sie sind immer mehr und vielfach: Ein Schweizer ist ein Zuger, er kann ein Urner in Zug sein, ein Katholik, ein Protestant, ein Jude, ein Suchender, ein Fragender, ein Unternehmer, ein Reicher, ein Armer, ein italienisch, deutsch, französisch, rätoromanisch oder eine andere Sprache Sprechender. Er ist unter Umständen eingebürgert, im Herzen aber Franzose geblieben. Unzählige Möglichkeiten gibt es. Wie sollte man alle Schweizerinnen und Schweizer, wie Schwarze, Chinesen, Japaner über einen Leisten schlagen? Jeder Mensch kann in wechselnde Identitäten schlüpfen.

Die Bush-Regierung bezeichnete einige Länder innerhalb der Staatengemeinschaft als Schurkenstaaten. Die Liste verändert sich laufend. Gewiss, es gibt Feinde, aber Feinde sind immer auf verschiedene Weise verschiedene Feinde. Der palästinensische Nationalismus und Widerstand wurzelt tief. Nicht alle Palästinenser sind Schurken oder Terroristen. Muslime lassen sich nicht mit Fundamentalisten gleichsetzen. Aber es gibt sie. Das Opus Dei vertritt eine fundamentalistische Version des Katholizismus, doch ein gläubiger Katholik ist gewiss nicht einfach Fundamentalist.

Vernünftiges, gewaltfreies Zusammenleben ist zum Scheitern verurteilt, wenn derart grob vereinfacht wird. Werden alle Jugendlichen aus dem Balkan in einen Topf geworfen und abgestempelt, reagieren sie ihre Aggressivität an anderen ab. Woher die Gewaltzunahme kommt, wird zuwenig differenziert gefragt. Eine Politik der Härte beantwortet keine Fragen. Sie wirft höchstens neue auf, schafft eine feindliche Stimmung, weckt Rachegelüste und fördert Gewaltbereitschaft.

Jahrelang haben Schweizer Politiker, statt der Integration das Wort zu reden, Trennlinien geschaffen. Sie haben mit vereinfachenden und groben Positionen versucht, niedere Instinkte in der Abwehr des Fremden zu wecken. Plötzlich zeigen sich alle überrascht und reagieren auf Gewalt an Schulen aufgeregt. Sie wird zum Medienereignis, das den Ruf nach Härte legitimiert. Die Spirale der Gewalt dreht noch rascher.

Glücklicherweise gibt es engagierte Schulbehörden, die inzwischen Präventivmassnahmen in Zusammenarbeit mit Fachstellen getroffen haben. Gewalt, die sich auszubreiten droht, könnte man früh erkennen. Sie kündet sich in Worten an. So hätte man auch Anzeichen für das Massaker erkennen können, das der Student in Blacksburg angerichtet hat. Die NZZ fragt im Artikel «Gewalt, die sich selber liebt» vom 21. April, zu Recht: «Bildet sich zuerst eine Gewalt im Wort und dann in der Tat?»

 

Dichter sind wie Regenwürmer

publiziert: 29.03.07

Seit mehr als zwanzig Jahren führt das Institut für Angewandte Pflanzenbiologie (IAP) u. a. im Auftrag des Kantons Zug auf dem Zugerberg Flächenstudien durch, die aufzeigen sollen, wie sich das Ökosystem Wald unter Einwirkung von Umwelteinflüssen entwickelt. Das heute totgesagte Waldsterben war damals in aller Munde. Die Waldflächen, die untersucht werden, sind in einem landesweiten Netz zusammengefasst. Die Resultate werden jeweils in einem Forschungsbericht publiziert. Hier soll nur ein Ergebnis der langjährigen Datenreihe herausgegriffen werden: Wo früher in einem Quadratmeter Waldboden ca. hundert Würmer ausgegraben wurden, findet man heute noch deren zwei, drei. Vielleicht gibt es nun Politiker, die behaupten, dass das Verschwinden der Würmer nichts zu bedeuten habe. Fragte doch ein nicht gerade umweltfreundlicher Regierungsrat, was eigentlich den Forschern einfalle, all die Schwänze zu zählen.

Würmer sind sehr säureempfindlich. Im Boden verwandelt sich der Stickstoff in Säure. Fehlen die Würmer, ist dies ein Indikator für eine Bodenversauerung. Würmer aber sind für die Bodenfruchtbarkeit sehr wichtig. Sie fressen die Blätter und was sie ausscheiden, ist nährstoffreicher Humus. Unter ihnen gibt es Vertikalbohrer und Horizontalbohrer. Werden die Blätter oder Nadeln nicht von Würmern gefressen, verrotten sie zwar, aber sie bleiben organisches Material, das nicht zu Humus wird.

Bestimmt geben Sie zu, dass ich noch selten einen so hübschen Titel für eine Kolumne gefunden habe wie der Obige. Der «Tages-Anzeiger» hat ihn im Feuilleton vom 30. Januar einem Bericht vorangestellt, der vom Schriftsteller Urs Widmer handelt, der seit Mitte Januar als Gastdozent für Poetik an der Universität Frankfurt Vorlesungen hält. Widmer hat unter anderem gesagt, Dichter seien für die Sprachform, was die Regenwürmer für den Boden: «Sie lockern das Plattgedrückte.» Plattgedrücktes findet man regelmässig auch in der politischen Diskussion und in den Parteiprogrammen.

Wenn Dichter also Regenwürmer sind, dann sind sie entweder Vertikal- oder Horizontalbohrer, die nicht nur das Plattgedrückte auflockern, sondern auch gesellschaftlichen Humus bilden. Die Mächtigen schaffen sich meist eine Entourage, die ihre Machtspiele ideologisch begründen und erklären. So hat etwa George W. Bush um sich nur neokonservative Strategen versammelt. Wer eine andere Meinung als das Weisse Haus oder das Pentagon vertritt, wird flachgedrückt.

Der lächelnde, sein Spiel treibende und Witze reissende Silvio Berlusconi sagte einmal: «Bücher? Lasst die ruhig Bücher schreiben, auch gegen mich. Die lesen nur wenige Leute. Neunzig Prozent der Italiener schauen fern und lassen sich von Bildern beeinflussen. Nehmen wir also das Fernsehen in Besitz.»

In neokonservativen Kreisen werden die Würmer gerne dem linken Filz zugeordnet. Es wird behauptet, die Kultur sei vom Futtertrog des Staates abhängig und ernähre sich von Steuergeldern, die Linke verwalten. Im Positionspapier der Schweizerischen Volkpartei zur Kulturpolitik des Bundes wird dargetan, wie die Bundesverwaltung immer eifriger mitmische. Bei der Filmförderung herrsche mehr oder weniger Vetternwirtschaft und es seien verfilzte Vergabestrukturen auszumachen. Jeder Antragsteller lasse seine Beziehungen spielen. Wer wie ich, als ehemaliger Präsident der Eidgenössischen Filmkommission, Einblick in die Vergabepraxis des Bundes hatte, kommt zu einem anderen Schluss. Die Gremien entscheiden nach Qualitätskriterien, ohne freilich immer sicher zu sein, dass ein geförderter Film am Ende auch die gewünschte künstlerische Qualität erreichen wird.

Im Positionspapier der SVP wird u. a. verlangt, die Kulturförderung sei weitgehend Mäzenen zu überlassen. Von denen gibt es heute aber sehr wenige. Sie werden durch Sponsoren ersetzt. Das schriftstellerische Schaffen, die bildende Kunst, die Filmförderung, ja, sogar die Theaterkultur dürfen nicht der Willkür der Sponsoren anheim fallen. Sie fördern, was ihnen Nutzen und Publizität bringt und den Interessen ihres Unternehmens dient. Niemals kann es die Aufgabe der Kulturschaffenden sein, dem Staat oder den Sponsoren liebzudienern. Wer sich aber nicht daran hält, läuft Gefahr, dass ihn die Sponsoren souverän übergehen.

Soll nun auch der Staat mit seinen spärlichen Mitteln dafür sorgen, dass staatlich subventionierte Einfalt nach vorgefassten Bewertungsmassstäben entsteht? Nein, die Gesellschaft braucht Würmer, die das Plattgedrückte lockern und Humus bilden. Ohne diesen Humus entsteht wenig Ungewohntes, Frisches, Neues. Die öffentliche Hand muss sich wie ein Mäzen verhalten. Maecenas, der im 8. Jahr vor Christi Geburt verstarb, war ein Gönner und Beschützer der Künste. Er förderte jüngere Talente. Nicht jedes wurde ein Odendichter wie Horaz, der mit seinen Werken andere überstrahlt.

Die SP will sich gegenüber der SVP als Kulturpartei profilieren und verlangt höhere Subventionen. Dazu nur ein Wort. Es gibt weder rechte noch linke Würmer. Es sei denn, man würde diejenigen, die das Plattgedrückte auflockern, als Linke bezeichnen. Würmer werden wenig beachtet. Max Huwyler, der Vertikalbohrer, verdeutlicht die Realität in seinem neusten Werk «öppis isch immer»:

dichterlääsig

de dichter list vor
d lüüt losid zue
s färnseh nimmt uuf
de kameramaa
hed e hund im visier

Der Mensch lebt in Geschichten

publiziert: 13.02.07

Er hatte das Herz auf dem rechten Fleck. Er enttäuschte mich erst, als er mit geschwellter Brust sagte, er habe noch nie ein Buch gelesen. Darauf war er sichtlich stolz. Hätte er nicht als Vertreter einer Chefetage gesprochen, wäre mir alles egal gewesen. Er sollte doch ein Vorbild sein. Da es sich schlecht macht, einem Journalisten zu gestehen, ausser den Schulbüchern habe er noch nie ein Buch gelesen, hätte der Mann ja sagen können, dass auf dem Nachttischchen die Bibel liege. Er lese vor allem im Alten Testament, und da vorzugsweise aus dem Buch des Propheten Habakuk: «Das Gesicht, das Habakuk, der Prophet, geschaut: Wie lange rufe ich um Hilfe, Herr? Du hörst nicht. Und schreie ich zu Dir: ‹Bedrückung!› Du aber rettest nicht. Warum lässt Du mich Unheil sehn und siehst dem Jammer zu? Warum steht Druck und Vergewaltigung mir vor Augen? … ». Habakuk brachte es in seinem Buch gerade mal auf drei Kapitel.

Der Mann mit dem Herz auf dem rechten Fleck hätte an dem zwei Meter dreizehn langen und hundertfünfzig Kilo schweren russischen Boxer Nikolaj Walujew Mass nehmen können. Im «Tages-Anzeiger»-Interview vom16. Januar 2007 bekannte der Riese und erfolgreiche Schwergewichtsboxer, ihm sei die Literatur wichtig. «Von Schriftstellern wie Puschkin oder Tolstoi kann man viel lernen. Man sollte aber darauf achten, keinen Schund zu lesen.» Von Walujew, der seinen Gegner mit Fäusten traktiert, würde man nicht erwarten, dass er ein Leser ist. Vor einem Kampf allerdings, führte er aus, könne er sich nicht mit hoher Literatur befassen.

Mit Freude las ich den Jahresbericht der Bibliothek des Ägeritals, die 2006 wieder annähernd vierhundert neue Leserinnen und Leser eingeschrieben hat. Die Neugierde auf die Auslegung der Welt und deren Erklärung ist noch nicht verschwunden, sie will gestillt werden. Der Mensch lebt in Geschichten, und jeder hat eine eigene. Will er nun wissen, wie es um seine Geschichte bestellt ist, muss er andere kennen lernen. Erst durch andere kann er zu einer eigenen Identität kommen. Will er also erfahren, wer er ist und wie es um ihn steht, darf er nicht nur in seiner eigenen Geschichte herumwatscheln wie ein Pinguin. Zugegeben, der Mann mit dem Herz auf dem rechten Fleck war sehr neugierig. Darum sass er oft am runden Tisch und nährte sich vom Klatsch. Der Klatsch ist nicht zu unterschätzen. Wird Klatsch ausgetauscht und man hört zu, orientiert man sich über das Leben anderer. Wird in der Politik geklatscht, dann dient dies der Auswahl des politischen Personals. Ohne Klatsch zu verbreiten, finden die Parteien keine Kandidaten.

Erzählungen und Romane sind eine unerschöpfliche Fundgrube für Lebensentwürfe. Sie berichten vom Scheitern und vom Gelingen. Jeder Mensch ist in Geschichten verstrickt. Ohne Geschichten weiss man nicht, wer man ist. Wer verliebt ist, möchte als erstes erfahren, ob es davor schon eine Liebesgeschichte gegeben hat.

Als ich vor einigen Wochen in Bern vor dem örtlichen Zuger Verein eine Lesung gehalten habe, wollte eine achtzigjährige Dame wissen, ob in meinem Buch denn eine Liebesgeschichte vorkomme. Sie fügte bei, fehle eine solche, dann lese sie den Roman sowieso nicht. Sie war erst befriedigt, als ich antwortete, es kämen sogar zwei darin vor. War diese Frage etwa banal oder gar sentimental? Nein! Menschen möchten wissen, wie Liebesgeschichten beginnen und enden. Daran können sie ihr eigenes Liebesglück messen. Wer nicht liebt, braucht keine Romane zu lesen. Er lebt ja in einer eindimensionalen Welt, und diese ist oft nicht besonders verwickelt.

Warum lesen wir gerne Biographien? Wir wollen am Leben anderer Menschen teilnehmen, uns mit ihnen vergleichen, fragen, ob wir ähnlich klug oder dumm gehandelt hätten wie die beschriebene Person. Romane, Erzählungen und Biographien konfrontieren uns also mit unserer eigenen Geschichte und helfen uns, sie zu deuten. «Im Kreis seiner Geschichten hat jeder recht», schreibt Wilhelm Schapp. Erzählungen aber öffnen ein Fenster in eine andere Welt, und diese wird die eigene relativieren.

Gelegentlich stösst man auf ein Buch, das einen nicht mehr loslässt. Es trifft offenbar den Nerv des eigenen Lebens. Wir erben Geschichten, sind in sie hineingeboren und kommen von ihnen nicht los. Es sind die Geschichten der Eltern, der Geschwister, der Vorfahren, des Dorfes und des Landes. Die Berufswahl ergibt z. B den Anfang einer neuen Geschichte. Die Religion, in der wir erzogen worden sind, stellt uns vor einen Berg aufgetürmter Geschichten, die uns oft erdrücken, zugleich unser Leben bestimmen.

Lesen wir Schund, dann bewegen wir uns weg vom Leben und geraten auf eine Schutthalde. Wir rutschen ab. Das Leben ist keine glatte Sache. Es ist und bleibt Sinnsuche. Die Religion als Erzählung einer grossen Geschichte ist eine Form der Weltauslegung und der Sinngebung. Die biblischen Geschichten werden gedeutet, doch keine Deutung gelangt zu einem Ende. Weil es dieses Ende nicht gibt, werden weiterhin Geschichten erzählt, gelesen und gedeutet. Habakuk weiss davon: «Da gibt der Herr mir dies zur Antwort, und er spricht: ‹Schreib das Gesicht für dich auf und zeichne es in Tafeln ein, dass jeder es geläufig lesen kann›.»

 

Seltsam, wie es nun in uns «genügelt»

publiziert: 09.01.07

Deal or no Deal! Da bleiben statt zweihundertfünfzigtausend nur dreihundert Franken. Das «Milliardending in den Bergen», titelt der «Blick». In St. Moritz kostet die Übernachtung in einem Nobelhotel mindestens achthundert Franken, die der exklusiven Suite achttausend. Die reichen Kunden würden sich aber an diesen Preisen nicht stossen. Im Jackpot liegen zweieinhalb Millionen. «Guten Abend. Sie sind doch Herr Iten? Ich bin von der deutschen Kassenlotterie. Wollen Sie nicht eine Million gewinnen?» «Nein!», antworte ich. «Was soll ich denn mit einer Million anfangen?» Der Anrufer ist perplex. «Eine Million ist viel Geld», sagt er. «Sie wollen wirklich nicht Millionär werden?» «Ich bin schon einer. Wissen Sie, für mich zählt meine Freiheit mehr als eine Million!» Ich will den Anrufer loswerden. Ich dachte doch immer, Lotto spielen heisse, zehntausendmal fünf Franken verlieren.

Die Börse boomt. Über Nacht sind Millionen zu den bereits vorhandenen hinzugekommen. Das Weihnachtsgeschäft ist wunderbar gelaufen. Luxusartikel sind besonders gefragt gewesen. Die «Neue Luzerner Zeitung» berichtet, ein Manager habe sechzig Millionen Gehalt plus Bonifikation für das erfolgreiche Jahr 2006 erhalten. Irgendwo habe ich gelesen, dass die Zahl derjenigen, die unter der Armutsgrenze leben, stabil geblieben sei. Glückliches Jahr 2006!

Am 25. Dezember 1956, am hochheiligen Weihnachtstag vor 50 Jahren, blieb der Schriftsteller und Dichter Robert Walser auf einem seiner Spaziergänge in Herisau tot im Schnee liegen. Weihnachten vor 2006 Jahren: Das arme Jesuskind kam in einem schäbigen Stall zur Welt. Die drei Weisen aus dem Morgenland brachten ihm Geschenke. Vielleicht war das der Anfang der Wende zum barocken Reichtum der Kirche. Papst Benedikt XVI. trug den Segen «Urbi et Orbi» in einer vergoldeten Tiara und einer reich bestickten Stola vor.

«Seltsam, wie es nun in uns genügelt!», notierte Robert Walser im Roman «Der Räuber. Entwurf aus dem Nachlass». Der bescheidene, arme Walser bezog diesen Satz auf den Räuber. Er fährt fort: «Auf mein Betragen scheint in letzter Zeit die Sonne der Selbstzufriedenheit. Das ist schrecklich. Aber leider scheint es sich zu bewahrheiten. Allen meinen Mängeln gegenüber bin ich von einer totalen Gnädigkeit. Meine Selbsteinschätzung bietet eine Sehenswürdigkeit.» Stellt nicht, wer mit Millionen jongliert oder sich in Gold präsentiert, eine Sehenswürdigkeit dar?

Der «Räuber-Roman» gehört zu meinen frühen Lesevergnügen, und immer wieder blättere ich darin, denn ich habe einige mir wichtige Stellen mit Bleistift unterstrichen. «Wer weiss, vielleicht wäre es für den Räuber besser gewesen, wenn dieser verwünschte und solide Onkel aus Batavia hübsch einstweilen noch am Leben geblieben wäre. Aber Tatsache ist, dass er sich ins Jenseits zurückzog, und dass dem Räuber jene Geldsumme in die Hände floss und er nun, gestützt auf dieses Geld, den Kavalier spielen konnte, er, der doch gar nicht für das Weltmannszeug taugte, der etwas viel, viel Bedeutenderes und zugleich etwas viel, viel Geringeres war als das.»

Die herrlich verspielte Ironie Walsers weist den Weg. Man kann sich fragen, weshalb es für den Räuber besser gewesen wäre, falls der reiche Onkel am Leben geblieben wäre, das Erbe nicht angefallen wäre und das Geld nicht hätte anfangen können, seinen Charakter zu verändern. Die Selbsteinschätzung wäre nicht zu einer Sehenswürdigkeit geworden. Er, der Räuber, hätte sich dann darauf besinnen müssen, was das viel Bedeutendere und das viel Geringere für ihn gewesen wäre. Genau diese Frage stellt sich allen, den Armen wie den Reichen. Die meisten Menschen, die von den Millionen- oder Milliardendeals, den hohen Salären, von den Luxuseinkäufen und dem hohen Umsatz der Uhrenindustrie vernehmen, sehen sich wie Walsers Räuber mit der grossen Frage konfrontiert, was das Glück des Lebens ausmache. Eine Uhr im Wert von hunderttausend Franken? Aber befreiend wäre es natürlich schon, ein bisschen am Duft des Geldes zu riechen.

Damit ich nicht Gefahr laufe, zu ernsthaft zu werden oder sogar zu moralisieren, halte ich mich weiter an Robert Walser: «Weil ich mich im eben aufgerichteten Abschnitt gross gemacht habe, was einige Leser vielleicht abschrecken könnte, mit dem Lesen fortzufahren, stille und mildere ich mich hier und mache mich fingerhutsklein. Die wahrhaft Starken treten nicht stark auf. Niedlich gesagt, nicht wahr?» Diese Walser-Stelle wird sicher gefallen. Ich mache mich nun also fingerhutsklein. Ich gehe auf Distanz. Ich sage «No deal!». Ich werfe der Fernshow nicht vor, sie sei ein Neid- oder Schadenfreudespiel. Es passt ganz einfach zu unserer Zeit wie Monopoly. Wollte ich moralisieren, so müsste ich an den Anfang zurückkehren. Es fällt mir aber nicht ein, das für mich «viel, viel Bedeutendere» hervorzustreichen. Das würde Kritik erregen.

Der Skribent, würden die Leser sagen, sei halt neidisch auf diejenigen, die einen Onkel in Batavia beerben können oder an der Börse ein Riesending drehen.

Damit ich aus meiner Kolumne, die in einer Sackgasse steckt, heil herauskomme, kehre ich zu Robert Walser zurück: «‹Du gefällst mir nicht recht. Ich hoffe, du wirst mir später einmal besser gefallen.› Der, der so gesprochen hatte, ass in einer sehr feinen Pension.» Mit dem Honorar für diesen Text kann ich es mir auch leisten.

 

2006

Zu Babel ein Turm

publiziert: 07.12.06

 

Am 18. November erklang in der Pfarrkirche Unterägeri das mächtige und packende Oratorium «Zu Babel ein Turm» von Carl Rütti, nach einem Text von Ulrich Knellwolf. Der Konzertchor der Stadt Solothurn hatte dieses Werk zum «175 Jahre Jubiläum» bestellt. Als Laie darüber zu schreiben, wäre verwegen. Der Titel jedoch bewegt mich, das Thema des Auftragswerks passt zudem in unsere Zeit.

In der vierten Klasse erzählte uns der Lehrer Hans Schmucki die Geschichte vom Turmbau zu Babel. Die Menschen seien hochmütig geworden und wollten einen Turm bis zum Himmel bauen. Der Turm aber sei eingestürzt, und mit dem Einsturz seien die Menschen in die babylonische Sprachverwirrung geraten. Im Oratorium singt der Tenor: «Hast du endlich erkannt, was für einen Konkurrenten du dir mit dem Menschen geschaffen hast? Sie werden nicht ruhen, bis sie dich vom Thron gestürzt und sich an deine Stelle gesetzt haben.» Mit dem Turmbau, so der moderne Text, war Gottes Eifersucht geweckt. Zornig fuhr er zwischen die Menschen. Er strafte und schlug ihre Zunge. Von nun an verstanden sie sich nicht mehr. Sie redeten aneinander vorbei.

Diese Sprachverwirrung hält an. Sogar Menschen mit derselben Muttersprache, verstehen sich nicht oder wollen sich nicht verstehen. Hören Sie nur gut hin, wenn in der «Arena» Politiker aufeinander treffen. Keiner hört dem anderen wirklich zu. Jeder klammert sich an sein Argument. Ein Detail soll genügen, einleuchten und für das Ganze stehen.

Mancher Vorstoss in einem Parlament verläuft nach demselben Muster. Da musste doch der Regierungsrat des Kantons Luzern kürzlich auf Anfrage eines Grossrats erklären, weshalb ausgerechnet Granitsteine aus China in einer neuen Strasse im Entlebuch verbaut werden. Was für ein Unsinn denkt der Bürger, wenn er das hört. Wir sind doch ein Land aus Stein und Granit. Der Granit liegt vor der Tür. Warum holen wir ihn denn in China? Ich wünsche mir ebenfalls, dass wir im Strassenbau Schweizer Steine verwenden, und das Glas Milch von unseren Kühen kommt und der Käse von unseren Alpen stammt.

Gibt es wirklich kein schlagendes Argument dafür, Steine aus China zu importieren? Doch! In der Politik und Gesellschaft steht zuoberst: Wer billiger produziert, erhält den Zuschlag. Dieses Argument siegt immer. In den vergangenen Jahren wurde uns stets eingehämmert, es sei richtig und zulässig, die günstigste Offerte zu berücksichtigen. China produziert nun mal am günstigsten. Der Kanton mit den geringsten Steuern baut den höchsten Turm. Mobilität, Privatisierung, schrankenloser Güterverkehr auf der Strasse und in der Luft und billige Produkte sind Babels Fundamente. Warum jammert denn einer, wenn Granit aus China importiert wird?

«Avenir Suisse» fordert unsere Bauern auf, unternehmerisch selber zu schauen, wie sie am Markt bestehen. Etwas für die Landschaftspflege können sie daneben durchaus auch noch tun. Die Schweiz wird nicht verganden und verbuschen, wenn die weniger Erfolgreichen aufgeben müssen und ihre Liegenschaft versteigert wird. «Avenir Suisse» gebärdet sich als Prophet auf dem Turm: Schränken wir den Staat ein! Der Markt wird es schaffen. Ein Nachwächterstaat, genügt, ein Staat, der sich darum kümmert, dass Menschen auch in der Nacht ohne Angst durch die Stadt gehen können und Kinder nicht Kinder vergewaltigen. Alles andere schaffen wir schon. Wir bauen am Turm.

Wir leben nun einmal im Durcheinanderturm. Die Kunst, Unterschiede zu machen und im Ganzen Differenzen zu erkunden, brauchen wir nicht zu erlernen Die Schlagzeile zählt.

Ich hocke vor dem Fernseher und zappe. Mir fällt gerade nichts Besseres ein. Lesen will ich nicht. Lesen ist beschwerlich, und ich muss dabei auch noch denken. Mag ich nicht. Schon besteige ich den Turm zu Babel. Je länger ich zappe, desto höher gerate ich. Beim 56. Sender tun mir die Augen weh. Ich muss dem Sprachwirrwarr entkommen. Ich gehe zurück auf FS 1. Der Service public sei wichtig, betont Bundespräsident Moritz Leuenberg. Wenn die SRG eine Gebührenerhöhung durchboxen will, dann privatisieren wir den Sender, drohen die Gegner. Ich halte dagegen. Ein Sender, der dem Service public verpflichtet ist und den Tatbeweis dafür erbringt, ist kein schiefer Turm. Es gibt Sendungen, die mir etwas bedeuten. Etwa die «Sternstunde» am Sonntagmorgen, das «Nachtcafé» auf SWR. Dort wird glücklicherweise zur selben Stunde diskutiert wie in der «Arena». Die Gesprächsteilnehmer gehen jeweils aufeinander ein.

Der Sprachwirrwarr wird grösser. Die Armen verstehen die Reichen nicht, die Städter nicht die Landbewohner, die Fremden kaum die Einheimischen. Bundesräte senden unterschiedliche Signale ins Land. Die Fundamentalisten predigen ihren Gott. Amerika stiftet weltweiten Hass. Die Kinder hören nicht auf die Erwachsenen, die Alten nicht auf die Jungen. Bald ist Weihnachten. Das Angebot ist gigantisch. Die Waren werden aus globalem Stoff aufgehäuft. Da können wir den Turm zu Babel bewundern.

Der Sopran singt im modernen Oratorium: «Mit Verlaub, Herr, lass deine Dienerin ein Wort reden vor deinen Ohren, und dein Zorn entbrenne nicht über meine Rede. Gott bist du doch und nicht ein Mensch! Was können Menschen dir antun? Darum strafe sie nicht in deinem Zorn und züchtige sie nicht in deinem Grimm.» «Nein», antwortet der Tenor, «verzeihe ihnen die Missetat nicht.»

 

Christoph wird uns fehlen

publiziert: 18.10.06

 

Der Mann sorgt für Aufregung. Erst kürzlich liess er uns aus dem Türkenland wissen, dass die Anti-Rassismus-Strafnorm abgeändert werden sollte. Geschichtsprofessor Yusuf Halacoglu und der Nationalist Dogu Perinçek, die während ihren Auftritten in der Schweiz den Völkermord an den Armeniern 1915 leugneten, sollten nicht von der schweizerischen Justiz verfolgt werden dürfen. Es brauche eine Gesetzesänderung, denn die Meinungsfreiheit sei höher zu werten. Blochers Botschaft schlug hohe Wellen in der sonst so sanften, ausgewogenen Schweiz. Wie viele Türken sind doch in unserem Land bereits integriert und hoffen, eingebürgert zu werden.

Als die Erklärung des Justizministers zu uns herüber kam, gaben sich die Exponenten fast aller Parteien empört, ja schockiert. Es herrschte eine «Arena-taugliche» Aufregung. Und davon hatten alle etwas: Die Journalisten, die darüber schreiben konnten, das Fernsehen, das die Kontroverse anzuheizen versuchte und die Politiker, die neue Schlagzeilen produzierten. Sogar wir gewöhnlichen Bürgerinnen und Bürger spürten den Puls höher schlagen.

Der Urheber des Protestes flog zurück in die Schweiz, hielt eine Pressekonferenz und meinte mit gespieltem Erstaunen, er könne nicht verstehen, weshalb im eigenen Land wegen seiner Äusserung derart Aufregung herrsche. Die Türken jedenfalls hätten Freude an ihm gehabt. Er habe den Weg für gute Geschäfte mit dem Land geebnet. Dieses, meine ich, überstrahlt doch jede Aufregung.

Die Türken wurden immer dann geliebt, wenn Goethes berühmte Verszeilen aus «Hermann und Dorothea» galten: «Nichts Bessers weiss ich mir an Sonn- und Feiertagen / Als ein Gespräch von Krieg und Kriegsgeschrei, / Wenn hinten, weit, in der Türkei, / Die Völker aufeinanderschlagen.» Seit Goethes Idylle ist die Welt anders geworden. Global vernetzt!

Fliegt ein Bundesrat mit einem Heer von Journalisten in ein fremdes Land, werden seine Äusserungen, Versprechungen und Auftritte zeitgleich ins Bild gesetzt. Provoziert einer bewusst mit einer Aussage, dann flimmern und flunkern nicht nur die Fernsehbilder, sondern flattern auch die Nerven. Da sind Kommentare gefragt. Ein Politiker, der für Aufregung sorgt, wird so sehr nützlich. Man kann an ihm Anstoss nehmen, sich empören. Pascal Couchepin beherrscht das Empörtsein meisterhaft. Und er sagte denn auch, es sei für ihn unfassbar, dass ein Bundesrat sich so äussern könne. Empören zahlt sich aus. Man kann ein Lebenszeichen von sich geben, und ohne ein solches existiert ein Politiker nicht.

Tritt Christoph einmal von der politischen Bühne ab, wird er uns fehlen. Ich bekenne, dass ich den Titel dieser Kolumne stibitzt habe. Ich will mich nicht des Plagiats überführen lassen. Deshalb mache ich meinen Diebstahl transparent. Ich habe nämlich eine Glosse in «La Repubblica» gelesen. Sie erschien in der Rubrik «Belpaese», «schönes Land», am 26. September. Der Titel lautete: «Silvio mi manchi».

Die Glosse erzählt von einem Besuch des inzwischen abgewählten Berlusconi in Neapel. Eine Frau legte ein Bekenntnis ab. «Vede, per me Silvio è il massimo …», und zwar – ich übersetze gleich den weiteren Text –, «als Mann und Politiker. Er weiss mit den Frauen umzugehen, hat Kraft, Charisma. Er ist schön, reich, intelligent, leider hat er ein bisschen schütteres Haar (calvo). Als er nach Bagnoli kam, gelang es meiner Mutter blitzschnell, sich dort einzureihen, wo der Santino vorbei kommen würde. Ich selber konnte ihm bei anderer Gelegenheit die Hand drücken. Ich habe es nicht vergessen. Ich erinnere mich noch an seinen Duft … (profumo). Er war so gut.»

Silvio Berlusconi unterhielt die Italiener ausgezeichnet. Es gab keinen Auftritt, der nicht für eine Überraschung oder Aufregung sorgte, der Ärger bei der Opposition auslöste, die Verehrer und die eigenen Fernsehsender vergnügte. Einfach drollig, dieser Cavaliere! Sofort hat sich ein Komitee gebildet, das den Ausruf der neapolitanischen Dame aufnahm und klitzeklein abänderte. Das Komitee nennt sich: «Silvio ci manchi!», «Silvio fehlt uns!» Prodis nüchterne Sachpolitik hat keinen Unterhaltungswert. Da hat man sich über Jahre daran gewöhnt, dass Politik etwas Leichtfüssiges darstellt und Sorgen Wolken gleich verdunsten, und da kommt der unaufgeregte Prodi. Er bietet keine Shows, fröhlichen Feste, keine Sprüche und Witze. Er lässt das Gesicht nicht liften. Er sagt auch nicht vor dem Spiegel: «Romano, Du gefällst mir!»

Eines Tages wird uns also auch Christoph fehlen. Seit fünfzehn Jahren sorgt er für Aufregung und Empörung. Ihm kann nichts passieren, denn Empörung fordert Reaktionen heraus. Genau das, was ihn im Gespräch hält und erst noch allen dient. Wer sich empört, spürt sich. Er weiss, dass er ist. Die Medien leben davon.

Es gibt dennoch einen grossen Unterschied zwischen dem schweizerischen und dem italienischen Milliardär. Ich bezweifle nämlich, dass Christoph ein ähnlich feines, lang nachwirkendes Parfüm benützt wie Silvio. Das würde ihn im Albisgüetli und bei den «liebe Manne u Froue» eher suspekt machen. Ich glaube auch nicht, dass ihn ein nüchterner Schweizer, als santino, als kleinen Heiligen, verehrt. Aber… er wird uns einmal fehlen! Die Politik wird unaufgeregter werden. Die lieb gewordene Gewohnheit, sich aufzuregen, werden wir langsam ablegen müssen.

 

Vom Gutmensch und vom Gutdünkler

publiziert: 12.09.06

In meinem letzten Leserbrief zitierte ich den Ex-«Zischtigsclub»-Moderator Ueli Heiniger, der in einem Interview gesagt hatte, er müsse nur lachen, wenn auf einmal Gutmenschen für PR-Aktionen missbraucht werden. Da nun aber der Ausdruck «Gutmensch» auch in der mediokren Gedankenwelt von einigen Leserbriefschreibern auftaucht, sollte man dazu doch einige Anmerkungen machen. Irgendwann hört bei solchem Sprachgebrauch das Lachen auf.

Bald nachdem mein kurzer Leserbrief erschienen war, fuhr ein Tixi-Fahrzeug durch das Dorf, während ich gemächlich auf dem Trottoir ging. Da bremste der Chauffeur ab, kurbelte das Fenster herunter und rief hoi!, winkte und grüsste mich mit einem Kopfnicken. Es war Franz, ein früherer Zahnarzt und Politiker und auch ein engagierter Denkmalschützer, der einen Beitrag zum Erhalt eines alten Zuger Fischerhauses am See geleistet hat. Regelmässig fährt er behinderte Menschen und setzt dafür seine Freizeit ein. Ein guter Mensch! Der Staat könnte nicht bezahlen, was Freiwillige leisten.

Später betrat ich das Grand Café in Zug. Da sass bereits Albert und rief mir zu: «Hallo, Gutmensch!» Er lächelte verschmitzt und sagte dann: «Ich habe Deinen Leserbrief gelesen.» Auch er engagiert sich freiwillig und tut manch Gutes. Leute wie er und Franz werden gerne als Gutmensch bezeichnet, und der Schreibende auch. Nur weil sie anders denken als diejenigen, die das Wort Gutmensch im Mund führen.

«Ich glaube, eine Sache in Worte fassen heisst ihr die Kraft bewahren und den Schrecken nehmen. Felder sind grüner in der Beschreibung als in ihrem Grün», notierte einmal Ferdinando Pessoa im «Buch der Unruhe». Es sind Worte, die in der Werbung und bei Abstimmungskämpfen einer Sache Kraft und Saft geben sollen. Wohl deshalb nannte Ueli Maurer die Gegner des neuen Ausländer- und Asylgesetzes Gutmenschen. Damit hat er ihnen die Farbe verpasst, die sie grüner macht als das Grün in der Natur. Zugleich setzt er sie herab, denn der Farbton ist künstlich und unwirklich. Ich bezweifle allerdings, dass Dinge, die in Worte gefasst werden, ihren Schrecken verlieren. Jeder Krieg, jede Diskriminierung beginnt mit Worten. Wir erinnern uns: Zuerst war da die «Achse des Bösen», erst später explodierten die Raketen.

Wörter haben eine Geschichte. Der Gutmensch ist ein moderner Begriff. Es ist erst seit der Mitte der 90er Jahre in den allgemeinen Sprachgebrauch eingegangen. Das Wort zielt darauf ab, den politischen Gegner und seine Ansichten abzuwerten. Der Begriff stammt ursprünglich aus dem Vokabular der Nazis. Sie bezogen ihn auf die Juden, die von einem Bekannten sagen konnten, er «is a gutt Mensch». Die Nazis verlachten diese Wendung. Das mussten sie auch, um den «Gutt Mensch» ohne Gewissensbisse ausmerzen zu können.

Der Sprachgebrauch der Politik unterstellt heutzutage Idealisten, sie seien Gutmenschen, seien Mitbürger, die nicht drauskommen. Wer einen Gegner als Gutmensch verspottet, will ihn diffamieren, lächerlich machen, ihm nachsagen, dass er gutgläubig und naiv sei. Das Ganze hat Methode, denn anstelle einer sachlichen Diskussion wird eine über die Moral geführt. Dabei entfällt eine inhaltliche Auseinandersetzung. Die Person wird in den Mittelpunkt gerückt.

Unbestritten bleibt, dass in einer direkten Demokratie über Sachfragen und Werte gestritten werden muss. Auch Menschen, die Gutes tun, dürfen nicht einfach für sich in Anspruch nehmen, dass ihre Sicht der Dinge die einzig richtige sei. Auch sie können sich irren, genau so wie andere, die on sich behaupten, sie seien Realisten. Die Wirklichkeit setzt sich aus Handfestem und Werten, aus Realem und Idealem zusammen. Auch gute Menschen sind ambivalent, haben zwei Seelen in der Brust und zeigen vielleicht ihr Janusgesicht.

Der Vorläufer des Gutmenschen ist der «Gutdüncker» und «Gutdünkler».
Das Wörterbuch von Jakob und Wilhelm Grimm beschreibt ihn als Menschen, der sich gut dünkt und sich einbildet rechtschaffen zu sein. Der Gutdünkler weiss alles besser. Er strotzt von dünkelhafter Selbstgefälligkeit und Hochmut. Er masst sich an, über andere zu urteilen, schliesslich glaubt er, er sei gescheiter und könne die Wirklichkeit besser beurteilen. Der Gutdünkler teilt die Menschen in Kategorien ein und versieht sie mit einem Etikett.

Dahinter lauert die Gefahr, dass die Gesinnung über die Urteilskraft triumphiert, wie der Philosoph Hermann Lübbe in einem Essay über den «Politischen Moralismus» ausführt. Der Gebrauch des Ausdrucks «Gutmensch» für einen Andersdenkenden scheint mir ein solcher Triumph zu sein. «Statt der Meinung des Gegners zu widersprechen», sagt Lübbe, «drückt man Empörung darüber aus, dass er sich gestattet, eine solche Meinung zu haben und zu äussern». Wenn der Gutdünkler auf das politische Streitross steigt, kämpft er nicht mit Argumenten. Aus diesem Grund würde ich den Gutmensch aus dem Wörterbuch der Politik nur zu gerne streichen. Der Begriff verhindert jede Diskussion, wie sie in eine Demokratie gehört. 1586 steht in einem «Handbüchl»: «Darnach findt man gutdüncker viel, die ander leut vertümen» (betäuben, für dumm verkaufen). Eigentlich immer noch aktuell, dieses Wort von einem gewissen Ringwaldt.

Modell einer offenen Schweiz

publiziert: 15.07.06

Die Schweizerische Fussballmannschaft 2006 erscheint wie das Modell einer modernen, offenen Schweiz, wie eine Art Antimodell gegen die reaktionär konservativen politischen Strömungen in unserem Land. Die Begeisterung für die «Nati» war vor und während der Weltmeisterschaft riesig. Jubel brauste durch unser Land, als sie das Achtelfinale erreicht hatte. Erst die drei verschossenen Elfmeter im Spiel gegen die Ukraine bedeuteten das Aus. Die Schweizerinnen und Schweizer zeigten Flagge, das weisse Kreuz im roten Feld. In den deutschen Stadien sassen Zehntausende von Fans und riefen: «Hopp Schwiiz!»

Wer naiv annimmt, da zeige sich die konservative Schweiz im Spiegel des Nationalteams, der täuscht sich. Die Nationalmannschaft repräsentiert sich als eine multikulturelle Elf, die Schweizer Namen wie Cabanas, Barnetta, Senderos, Behrami, Yakin oder Djourou tragen. Sie sind Schweizer der zweiten und dritten Generation, einer Generation, die ein buntes Land ausmachen.

Der Berliner Philosophieprofessor und Sportsoziologe Gunter Gebauer hat ein Buch mit dem schönen Titel «Poetik des Fussballs» geschrieben, in dem er die Meinung vertritt, dass sich jede teilnehmende Nation an einer Weltmeisterschaft in einem Spiegel sehen möchte. Blicken wir in diesen Spiegel, dann sehen wir wie ein Philipp Degen, Johann Vogel, Alex Frei zusammen mit Akteuren um den Sieg kämpfen, die in Afrika, Spanien oder im Kosovo geboren sind. Die meisten unserer Spieler sind im Ausland unter Vertrag und holen sich dort genügend internationale Erfahrung.

Ricardo Cabanas, der in Spanien geboren ist, beschreibt in einem Interview, wie er in der Schweiz aufgewachsen ist. «… In meiner Schulklasse, von der ersten bis zur sechsten Klasse, waren vielleicht von 20 Kindern nur 5 Schweizer, der Rest kam aus dem Ausland. Ich lernte mit Türken umzugehen, mit Albanern, ich kann seither ein paar albanische Worte, die ich mit Blerim Dzemaili wechseln kann, ich lernte portugiesische Worte, war mit Italienern in Kontakt – mit so vielen. In diesem Land lernte ich, mit anderen Kulturen, anderen Religionen, anderen Bräuchen umzugehen. Mütter meiner Kollegen trugen Kopftücher. Und diese Bilder zeigen doch auch das Gesicht der Schweiz» (Tages-Anzeiger, 26. Juni). Einer Schweiz, die von der Kraft der Integration des Fremden zehrt.

Fussball hat zwei Gesichter. Im Achtelfinal Holland gegen Portugal zeigte er sein unschönes Gesicht. Die NZZ titelte denn auch: «Schlachtfeld statt Spielfeld». Der portugiesische Coach Scolari verstieg sich zum Vergleich, er liebe den Fussball, der sich stets an der Grenze der Legalität bewege. «Das ist ein wenig wie Krieg.» Fussball vereinigt in sich zwei Seiten, die helle und die dunkle. Das gilt auch für den Schweizer Fussball. Die Mannschaft spielte fair. Doch es ist vor allem die Substanz der Equipe, die Köbi Kuhn ständig verbessert hat, seit er 2001 den Trainerposten übernahm. Die dunkle Seite liegt in den Begleiterscheinungen, im Auftreten aggressiver, lauter und betrunkener Fans, die so etwas wie den Schatten des Volkes erlebbar machen. Auch darin spiegelt sich die Nation.

Jürg Altwegg zeigt in seinem Buch «Ein Tor, in Gottes Namen» auf, wie Krawall, Gewalttätigkeit und faschistische Züge zum Fussball gehören. Dabei gehe es um die Verteidigung der eigenen Identität, die mit Farben und Symbolen ausgedrückt wird. Als aggressiver Trupp durch die Strassen zu ziehen, sei wie die Eroberung eines fremden Territoriums. Urtümliche Kraft, gepaart mit Gewalt, komme zum Vorschein. Darum gehöre es zum Fussball, dass es immer wieder Schlägereien gebe. Die Gewaltausbrüche, die der Fussball hervorbringe, seien in seinem Wesen angelegt. Kommt hinzu, dass Fussballspiele auf hohem Niveau für viele Fans Ereignis sind, um der Leere und Sinnlosigkeit des eigenen Lebens zu entfliehen und im kollektiven Rausch aufzugehen. Es stehen sich also das offene, sich an Regeln orientierende Spiel und die dumpfe, leere Gewalt gegenüber.

Das Fussballspiel, bei dem ein Regelverstoss oder ein Foulspiel mit einem Abpfiff, einer gelben oder sogar roten Karte geahndet werden, müsste eigentlich ein gesellschaftliches Lehrstück sein, wie sich Menschen zu verhalten haben. Fussball aber löst Emotionen aus. Emotionen wühlen auf, entfesseln die dunklen Triebe und wecken Kampfbereitschaft, die oft in eine Schlägerei nach dem Spiel übergeht. Und so muss die Polizei mit einem Grossaufgebot hinter dem Stadion präsent sein.

Unsere Fussballmannschaft steht dank ihrer Zusammensetzung und ihres Auftretens für eine offene, nach internationalen Regeln funktionierenden Schweiz. Die Rowdys sind deren Schatten. Darin manifestiert sich die Ambivalenz der Gesellschaft. Die Masse wirkt verführerisch. Emotionen reissen mit und führen zu unbedachten Handlungen. Ein Krieg bricht aus, wenn es den Regierenden gelingt, die Emotionen der Masse anzustacheln. Im Fussball laden die Massenmedien und Stammtische die Atmosphäre auf. Da werden Fussballgötter geschaffen, die Emotionen binden.

Die Schweizer Fussballnationalmannschaft weckt Emotionen. Während neunzig Minuten vergisst der Zuschauer, wie die «Nati» zusammengesetzt ist. Wenn die Vernunft den Blick wieder frei gibt, erkennt er, dass er einer Mannschaft zugejubelt hat, die als Modell für eine zukunftsoffene Schweiz dasteht. Sie hat den Ausländern viel zu verdanken, nicht nur im Bereich des Fussballs.

erschienen in: Neue Luzerner Zeitung

 

Vorfreude auf die Sommerferien

publiziert: 14.06.06

Im Buch «Mann ohne Land» von Kurt Vonnegut, dem deutsch-amerikanischen Schriftsteller, steht: Fantasievolle Menschen «können jemandem ins Gesicht schauen und dort Geschichten sehen; für jeden anderen wird ein Gesicht nur ein Gesicht sein». Mit diesem Gedanken im Kopf fahre ich in die Ferien. Ich werde auf dem Zeltplatz einen kleinen Bungalow mieten, ein grünes Häuschen unter Pinien. Dort werde ich auf der Veranda sitzen und die Menschen beobachten. Ich werde meinen Liegestuhl und den Sonnenschirm am Sandstrand aufstellen. Als Mann ohne Land werde ich aufs Meer blicken und mich meiner Fantasie überlassen. Dutzende von Menschen werden vorbeischlendern. Die meisten haben für mich nur ein Gesicht, aber einige haben Gesichter mit Geschichten: Emilio, Angelo und Neris, Giuseppe di Stefano, Paolo und seine Familie.

Emilio wird mir nach dem freundlichen Gruss und der Umarmung, einem prüfenden Blick auf meinen Bauch, sagen: «Du hattest einen guten Winter, hai la pancia!» Er wird sich freuen, wenn ich lache und ihm für den seinen ein Kompliment mache. Er wird dann seiner Frau einen Blick zuwerfen. Für mich, der ein halbes Jahr gekämpft hat, damit einige Kilo purzeln, ist dies nicht die feine Art, wie ich in Italien empfangen werden möchte. Darum versuche ich, mich etwas straffer zu halten als in den letzten Jahren. Das Trampolin steht auf der Terrasse.

Emilio ist Sportfischer. Sein Boot liegt irgendwo in der Lagune von Venedig. Er wohnt in Murano und arbeitet im Lido. Mit dem Motorroller fährt er häufig morgens zu den Barenen und wirft die Angel aus. Er wird kaum einen Fisch präsentieren können, wenn er zurückkehrt. Vielleicht will er sich einfach ein bisschen aus dem Staub machen. So schnell, mit mundartlicher Färbung und dem typischen venezianischen X für das Z, redet keiner mit mir. Aber er stellt sich vor, ich verstünde jedes Wort. Er wird oft wiederholen: «Capito?» Ich werde nicken und der Spur nach antworten. Emilio hat ein Dutzendgesicht. Der schöne Mann mit dem neckisch gestutzten Schnauz, der im Spielcasino arbeitet, wird mich Geschichten erfinden lassen. Wie Donna Leon. Er könnte Commissario Brunetti sein.

Giuseppe di Stefano stammt aus den Abruzzen und ist später nach Mestre gezogen. Er verkörpert das ewige Heimweh. Vielleicht ist er auch ein Mann ohne Land. Er steht unter dem Kommando seiner Frau. Sobald sie das Velo besteigt, um Einkäufe zu besorgen, wird er die Geige nehmen und volkstümliche Weisen spielen, auch einmal Verdis «Và pensiero sull’ ali dorate», geh Gedanke auf goldenen Flügeln. Er wird, so oft er kann, seine Mandoline ergreifen. Ich werde ihn bitten, wenn ich an seinem Zeltgärtchen vorbeispaziere, mir ein Lied zu spielen, eines aus den Abruzzen, aus seiner Heimat. Komm heute Abend vorbei, wird er sagen, meine Frau fährt nach Mestre. Ich werde eine Flasche Wein mitbringen und seinen Liedern lauschen. Ich habe mir fest vorgenommen, einem der Händler, die über den Strand von Sonnenschirm zu Sonnenschirm schleichen, ein ledernes Pferdchen abzukaufen. Er wird es im kleinen Blumengehege aufstellen, dann Schneewittchen auf den Thron setzen und einen Prinzen basteln, der auf dem Pferd daherkommt.

Angelo und Neris besitzen einen Stammplatz. Wie Giuseppe. Wenn ich ankomme, werden die beiden unter dem Vordach hocken und Karten spielen. Angelo wird aufspringen: «Andrea, du hier?» Ich werde ihm eine Wassermelone auf den Tisch stellen und bemerken: «Che piacere! Welch ein Vergnügen, euch wiederzusehen!» Er wird mich auf den nächstbesten Abend zu einem Gastmahl einladen, zu einem fünfgängigen Menü, mit Miesmuscheln, die er an den Steinblöcken der Dämme geerntet hat. Er wird einen Wein kredenzen und erzählen, dass er ihn im Friaul von einem Freund in Flaschen abgefüllt habe. Wenn ich diesen Wein nicht über alles loben werde, wird er enttäuscht sein. Neris wird mit ihrer Fistelstimme fragen, wie es mir in der kalten Jahreszeit gegangen und ob die Schweiz noch in guten Händen sei. Angelo wird dann über die Politiker schimpfen und sagen: «Tutti sono ladri, alle sind Diebe.» Sobald er den Kropf geleert haben wird, wird er von neuem erzählen, dass er in Genf, in Bern und in St. Gallen gewesen sei. «Che bel paese, la Svizzera!» Ich werde die Brust schwellen und vielleicht bemerken: «Das Land ist auch schon besser regiert worden.» Er wird fragen, warum ich pessimistisch töne. Ich aber werde nur den Kopf schütteln und ihn ablenken, sage, mir habe die Geschichte, wie er einem kroatischen Metzger ein wunderbares Filetstück zu billigem Preis abgeluchst habe, immer gefallen. Er wird sie wieder erzählen und am Ende den Metzger nachahmen, der damals gebrüllt hatte: «Che porco italiano!»

Paolo habe ich beim Tanzen kennen gelernt. Einmal pro Woche gibt es einen festlichen Abend mit Tanzmusik. Da wird Paolo mit seiner Clarissa eine Show abziehen. Er wird elegante Schwünge hinzaubern, in die Knie und auf die Zehenspitzen gehen und sie während eines Tangos fast auf den Boden legen. Zusammen mit Freunden und Nachbarn wird er mich vor sein Zelt einladen. Er wird nach einigen Gläsern zu singen beginnen und klassische Arien und Lieder hinauf in die Wipfel der Pinien schmettern. Zu «Sole mio» wird seine Stimme anschwellen, als sei er Pavarotti. Mit Clarissa wird er ein Duett singen, und sie, die starke Raucherin, wird einige Male husten und sich entschuldigen. Ich werde gelegentlich einstimmen, klatschen und ausrufen: «La vita é bella! Welch ein schönes Gesicht hat dieses Italien!»

 

Vom Nutzen des scheinbar Nutzlosen

publiziert: 12.06.06

Diese Kolumne ist in gekürzter Form im Tages-Anzeiger erschienen.

Ruedi Walser, Bildungsexperte von Economiesuisse, behauptet, der «uniforme Leistungs- und Forschungsauftrag» der Fachhochschulen im geistes- und sozialwissenschaftlichen Bereich sei ein Grundlagenirrtum. Es sei bis heute nicht klar, «was Forschung und Entwicklung für diese Schulen überhaupt bedeutet». Darum müsse die Politik im Rahmen des neuen Hochschulrahmengesetzes den Forschungsauftrag für die Fachhochschulen neu definieren. Die betroffenen Schulen würden sich besser auf die Ausbildung guter Berufsleute konzentrieren. Dies berichtet der «Tages-Anzeiger» vom 11. Mai unter dem Titel «Wirtschaft kritisiert Forschung». Ruedi Walser gibt vor, im Namen der Wirtschaft zu sprechen. Die Kritik ist meines Erachtens unverständlich und unqualifiziert. Es gibt für die Fachhochschulen keinen uniformen Forschungsauftrag. Eine Lehrtätigkeit auf Hochschulniveau ist ohne Forschung nicht denkbar. Ein Verzicht würde das Niveau der Ausbildung senken.

Seit mehr als sechs Jahren präsidiere ich die Anerkennungskommission der Erziehungsdirektorenkonferenz (EDK), die nun zum Bundesamt für Berufsbildung und Technologie, (BBT), übergegangen ist. Zusammen mit internationalen und nationalen Experten wurden die Schulen auf die Erfüllung des von der EDK verlangten Profils überprüft. Dabei wurde insbesondere der erweiterte Leistungsauftrag für Forschung und Weiterbildungsangebote gründlich untersucht. Die Schulen mussten der Kommission ein Forschungskonzept einreichen. Dieses variierte je nach Schultypus (Soziale Arbeit, Gesundheit, Erziehung, Musik, Kunst usw.). Bei einem Rückblick auf die Forschungsfelder der letzten fünf Jahre fällt die Vielfalt der Themen auf, die sowohl für die Praxis als auch für die Lehre von grosser Bedeutung sind.

Die Fachhochschulen arbeiten mit verschiedenen Auftraggebern zusammen. So ging etwa die Berner Fachhochschule im Auftrag des Bundesamtes für Statistik, der Gesundheits- und Fürsorgedirektion des Kantons Bern, der Direktion für Soziale Sicherheit der Stadt Bern und dem Schweizerischen Berufsverband Soziale Arbeit der Frage nach, warum junge Erwachsene Sozialhilfe beziehen und wie sie sich wieder aus der finanziellen Abhängigkeit lösen können. Die gleiche Fachhochschule erforschte die eskalierenden Konflikte zwischen Nachbarn in Überbauungen von Baugenossenschaften. Die Kooperationspartner waren die Hochschule für Architektur, Bau und Holz, die Liegenschaftsverwaltung der Stadt Bern, die Familiengenossenschaft (FAMBAU) und das Kompetenzzentrum des Fachbereichs Soziale Arbeit der Berner Fachhochschule. Die Fachhochschule Nordostschweiz widmete sich der Frage, warum die Verschuldungsproblematik bei Jugendlichen zunehmend sozialpolitische Relevanz erhält. Im Gesundheitsbereich wählten die Fachhochschulen als Forschungsthemen wie Gesundheitsverhalten, Pflegesysteme, Familien und pflegende Angehörige, Betreuung von Krebspatienten u. a. m., je nach dem praktischen Bedürfnis der Kooperationspartner.

Diese wenigen, aus einer grossen Anzahl ausgewählten Bespiele, belegen, wie die Forschung in den Ausbildungsgebieten, die man gerne zu den «weichen Disziplinen» zählt, für Gesellschaft und Lehre relevant ist. Auch bei den Fachhochschulen Kunst, Musik und Theater findet dank der Fachhochschulanerkennung ein intensiver Diskurs über die Möglichkeiten sinnvoller Forschung statt. Es ist durchaus erfreulich, wie die neuen Fachhochschulen, die noch nicht über eine lange Erfahrung verfügen, den Forschungsauftrag zu erfüllen versuchen, die Resultate ständig verbessern und dafür qualifizierte Forschungsleiter engagieren.

Die Kritik von Ruedi Walser entspringt einem einseitigen Denken. Forschung soll nur in den wirtschaftlich relevanten Bereichen vom Staat gefördert werden. Diese Forschung bringt Nutzen. Ein solches Denken berücksichtigt nur betriebswirtschaftliche Kriterien. Der Aspekt der Volkswirtschaft und der Gesellschaft bleibt ausgeklammert. Er verdrängt, was Menschen bewegt. Es blendet die schädlichen Folgen des Fortschritts aus: Das Suchtverhalten, die Gewalt der Jugendlichen, die Zunahme der Suizide, die Folgen der Arbeitslosigkeit, die neue Armut, die Verschuldung von Familien, die Unzufriedenheit über das politische Verhalten führender Kreise, die gesellschaftlichen Folgen überrissener Managerlöhne, die schlechte Integration von Ausländern, die Gettoisierung von Menschen usw. Eine Gesellschaft müsste wissen, wie sie damit umgehen soll.

Wer nur betriebswirtschaftlich denkt, etabliert eine Menschenbild, das den Menschen als Produktionsfaktor betrachtet, die Forschung aber als eine Chance, den Gewinn zu steigern. Er vergisst, dass eine solche Gesellschaft immer mehr professionelle Betreuer, Aufpasser und Polizisten braucht. Professionell handeln können auch sie nur, wenn sie verstehen, was im sozialen Umfeld einer modernen, auf Nutzengenerierung ausgerichteten Gesellschaft vor sich geht. Die scheinbar weichen Faktoren werden in dialektischem Umschlag zu harten Tatsachen. Um mit ihnen professionell umgehen zu können, leisten die kritisierten Fachhochschulen einen unverzichtbaren Forschungsbeitrag.

Es gibt auch einen Nutzen des scheinbar Nutzlosen. Er spielt in der heutigen Dienstleistungsgesellschaft eine immer grössere Rolle. Der Standortwettbewerb unter den Städten und Ländern operiert damit. Eine kulturelle Infrastruktur, die zu einem guten Standort gehört, kommt ohne Museen, Film, Theater, Musik, Kunst, Medien usw. nicht aus. Sie zehren vom Experiment, von der Forschung, von der Innovation und dem gesellschaftlichen Diskurs. Wer die Forschung in den «weichen» Wissenschaften und den Fachhochschulen reduzieren will, schafft Blindheit, Trägheit und huldigt einem Mainstream, der sich durch die Globalisierung mit dem bekanntesten aller heute gehörten Sätze: «Man kann nichts machen!» zu etablieren beginnt. Das führt zu einer neuen Schicksalsergebenheit, die sich Politiker und Wirtschaftsführer zunutze machen. Die Sozial- und Geisteswissenschaften könnten einen Widerspruchsgeist erzeugen, der zu einer kreativen Auseinandersetzung führt und selbst wirtschaftlichen Unternehmen Impulse vermittelt.

Quellen:
Panorama: Aktuelle Forschung in der Fachhochschulen für Soziale Arbeit. SASSA.
Schweizerischer Wissenschafts- und Technologierat: Perspektiven für die Geiestes- und Sozialwissenschaften in der Schweiz. Lehre, Forschung, Nachwuchs. SWTR Schrift 3/2006
Forschung an Fachhochschulen Gesundheit. GDK – Schweizerischen Gesundheitskonferenz. Bern.

Berlusconi? Prezzémolo in tutto!

publiziert: 26.05.06

Einige Wochen vor der Wahl in Italien sassen wir im Restaurant Milano am Lago Maggiore bei gutem Essen und einem gesprächigen Wirt. Das Wort blieb an Berlusconi hängen. «Wird er die Wahl gewinnen? Was halten Sie von Ihrem Ministerpräsidenten?» Er zog den Korken und schüttelte den Kopf: «Berlusconi? Hm! Prezzémolo in tutto!» Er ging weg und kehrte mit einem gut gewürzten Risotto zurück. Petersilie auf dem Reis, prezzémolo heisst Petersilie. Zerkleinert würzt Petersilie jedes Gericht, als geteiltes Blatt schmückt sie den Teller. Ein schönes Bild, Peterli im allem, die Finger überall drin. Berlusconi mit seiner Medienmacht, mit seinen verschiedenen Verlagen und den Fernsehketten, mit den Journalisten, die nach dem Motto «Wes Brot ich ess’, des Lied ich sing’», lobhudeln.

Das Fernsehen hat den Geschmack in Italien verändert. Berlusconi trumpfte auf allen Sendern auf. Wer ihn nicht wähle, sei ein Coglione, ein Dummkopf, ein Hodensack, ein Schlappschwanz. Hierzulande würde man, etwas schonender, von Weichsinnigen sprechen. Nach der Wahl ist Italien gespalten. Es gibt die Berlusconiani und die Coglioni. Das Wort wird Geschichte machen. Noch der Enkel wird es zu hören bekommen: «Dein Grossvater war ein Coglione. Pass auf, Enrico, dass Du kein Hodensack bist. Wähle einen starken Führer, einer, der es zu etwas gebracht hat!»

«Enten legen ihre Eier in aller Stille. Hühner gackern dabei wie verrückt. Was ist die Folge?», fragte einst Henry Ford I.: «Alle Welt isst Hühnereier.» Berlusconi fand im italienischen Fernsehen jenes Fliessband, das seine Sprüche produzierte und verbreitete. Das Volk hätte ihn beinahe zum Sieger gekürt, und das trotz der ausfälligen, stillosen und verachtenden Beschimpfung seiner Gegner. Wer laut gackert, beeinflusst das Handeln.

Medienmacht schafft Wirklichkeit. Wen Medien übersehen, existiert nicht. Aufmerksamkeit ist alles. Präsent sein bringt Gewinn. Mc Donald ist überall präsent. Eine Partei, die einen Vorschlag macht, gackert: «Seht her, wir haben ein Ei gelegt! Schaut, wie schön es gemalt ist! Morgen legen wir ein neues! Das ganze Jahr ist Ostern. Das versprechen wir.» Ohne häufige Auftritte existieren weder Bundesräte noch die Parteipräsidentin und die Parteipräsidenten. «Wir kaufen den Bundesbrief für eine Million. Es ist uns ernst. Jawohl!» Sie sind in den Schlagzeilen. Sie existieren als Politiker.
Lernen wir Wählerinnen und Wähler etwas, wenn wir bemerken, dass, wer am lautesten gackert, Stimmen fängt? Instant-Politik ist Trumpf wie Instant-Kaffee für ein schnelles Frühstück. Zwanzig Minuten genügen, um informiert zu sein, die Zeit, die der Schnellzug von Luzern nach Zug benötigt. Schnell gelesen, schnell vergessen. Nur die laute Wiederholung schafft Gedächtnis.

Die schweizerischen Zeitungen beobachteten aus der Nähe und aus Distanz den italienischen Ministerpräsidenten, prüften seine Entscheide und kommentierten die Bilanz seiner fünfjährigen Regierungszeit. Auf dem Balkonsitz der Schweiz, ein kritische Blatt in der Hand, liess sich der Lauf der Dinge in Italien verfolgen. Da herrschte einer, der Staats- und Privatmacht zu seinem Vorteil mischte. Er wurde von Richtern der Korruption angeklagt. Er schlug zurück, nannte sie Kommunisten und Linke. So versuchte er die dritte Gewalt im Staat zu schwächen.

Berlusconi glaubte in seinem Machtwahn, das Politische stehe über dem Recht und er schuf jenes, das ihm diente. So kam er auf Idee, das Volk in Freund und Feind einzuteilen. Die anderen sind Coglioni. Ich, Silvio, dagegen, bin Euer Freund. Schaut doch, wie ich hochgekommen bin! Italiener macht es wie ich! Sorgt für Euch selber! Seid Egoisten! Stimmt mir zu! Ihr werdet es nicht bereuen.

Auf diesen Lockruf fielen auch Intellektuelle herein. Viele, die sonst das Wort führen, schwiegen. Der Schriftsteller Andrea De Carlo beantwortete die Frage von «Facts», warum sich italienische Intellektuelle nicht stärker gegen Berlusconi ausgesprochen hätten. «Die meisten Intellektuellen und Künstler positionieren sich zwar links, sind aber vor allem Opportunisten … Meine Eltern waren während des Zweiten Weltkriegs in der antifaschistischen Resistenza. Sie erzählten mir oft: ‹Solange die Faschisten an der Macht waren, waren wir ganz wenige. Und nach der Befreiung behaupteten plötzlich Zehntausende, sie seien immer schon Antifaschisten gewesen.› Der Italiener spring im letzten Moment zum Sieger über.» Beim ungewissen Ausgang einer knappen Wahl könnte er ja auf die falsche Karte gesetzt haben.

Arrangiarsi, sich arrangieren, gehört zum Lebensmotto der Italiener. Das ist zweitausendjährige Tradition. Dass der Mensch ein Doppelgesicht hat, wussten schon die alten Römer. Janus ist der Gott mit den zwei Gesichtern. Die alten Griechen und die Römer erfanden aber noch einen anderen Gott, nämlich Proteus. Er ist der ewig wandelbare. Er verwandelt sich nach Bedarf in verschiedene Gestalten und arrangiert sich schlau. Er ist ein furbacchione, ein Pfiffikus. Proteus ist der höchste Opportunist. Diese Eigenschaft kommt auf der Sachebene dem Geld zu. Es erfüllt alle Wünsche und Bedürfnisse. Darum scheint unvermeidlich, zu lieben und anzustreben, was in jedem Augenblick sich wandelt und die unterschiedlichsten Wünsche befriedigt. Ein Mensch, der dies erreicht hat, fasziniert und wird bewundert. Es ist prezzémolo in tutto.

 

Die Schweiz – ein Labor der Vielsprachigkeit

publiziert: 26.04.06

Als im Eidgenössischen Parlament der Sprachenartikel beraten wurde, löste er kontroverse, emotionelle Diskussionen aus. Nie zuvor hatte ich im Ständerat derart heftige Auseinandersetzungen erlebt. Ich spürte damals, wie sehr jeder Redner in der Muttersprache dachte und argumentierte. Die Muttersprache formt die eigene Identität, das Denken und Fühlen des Menschen. Sie ist Ausdruck seines Selbstverständnisses. Es war deshalb nicht verwunderlich, dass mit einem Unterton voll Emotionen votiert wurde und einige Räte sogar laut wurden. Dabei erinnerte ich mich an ein Erlebnis während meiner Studienzeit in Berlin.

Ich besuchte da pädagogische Vorlesungen und Übungen. Die norddeutschen Studenten sprachen schnell. Ich konnte ihnen kaum folgen. Oft schüttelte ich nur den Kopf und spitzte die Ohren. Gerne hätte ich in die Diskussion eingegriffen. Es gab aber eine Kollegin namens Gisela, die ich gut verstand. Sie stammte aus dem Ruhrgebiet und sprach bedächtig. Ihre Mimik verriet mir jeweils, was sie dachte. Nach einem Seminar sprach ich sie an: «Dich verstehe ich. Die Studenten aus Hamburg oder Berlin leider nur schlecht. Ihre Worte wohl, ihre Sätze nicht.» Sie lachte und sagte: «Ja weisch, i bii ume gäng während em Zwöite Weltchrieg bi minere Tante z’Bärn gsii.» Ich hatte da begriffen, dass eine Sprache das Denken formt. Ja, die Sprache denkt für den Menschen. Worte, die wir gebrauchen, sind Denkinhalte. Nicht umsonst versuchen die Mächtigen die Sprache mit Begriffen zu besetzen.

Wenn es bei einer Abstimmung um Fremdsprachen in der Schule geht, verlaufen diese immer stark. Nun stecken wir wieder mitten in einer Auseinandersetzung. Leserbriefe widersprechen sich, sogar Lehrer untereinander. Da wird in Grundsatzentscheiden Englisch gegen Französisch ausgespielt. Nach den neusten Erhebungen zieht die Mehrheit Englisch vor.

Die Erziehungsdirektoren entschieden klug, als sie das Modell 3/5 aushandelten und den Kantonen somit die Wahl der Einstiegssprache offen lassen. Ob die Schulen in der dritten Klasse zuerst die zweite Landessprache oder Englisch unterrichten, sollen die Kantone also selber entscheiden. Doch selbst diese Empfehlung stösst auf Opposition, das Gerangel im Sprachenstreit geht weiter.

Der Beschluss der Erziehungsdirektoren hat zwar wenig mit dem Selbstverständnis des einzelnen Schülers zu tun, wohl aber mit demjenigen unseres Landes. Die Schweiz ist viersprachig. Sollte sich der Welsche mit dem Deutschsprachigen in Zukunft auf Englisch unterhalten, dann wäre das ein kultureller Verlust. Wer eine Sprache lernt, dem wird zugleich die Kultur und Lebensart vermittelt. Der Spracherwerb stärkt den inneren Zusammenhalt des Landes. Anderssprachige begegnen sich, lernen sich kennen.

Das Modell 3/5 bleibt ein staatspolitisch eminentes Thema, auch wenn Englisch den Siegeszug antritt. Man sollte es nicht abhaken oder gar unterschätzen. Wer eine Sprachminderheit aus der Schweiz wegdenkt, denkt die Schweiz um.

Die Empfehlung der Erziehungsdirektoren erlaubt in einer mobilen Gesellschaft ein Minimum an koordiniertem Sprachenlernen. Zieht eine Familie aus Zug nach Schaffhausen um, wo die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger an der Urne bestätigt haben, dass in der dritten Klasse Frühenglisch und in der fünften Französisch unterrichtet werden soll, dann bekommt die Familie ein Problem, falls wir in der Zentralschweiz eine andere Regelung treffen.

Unbestritten bleibt, dass Fremdsprachen in der heutigen Wirtschaft, aber auch in der Freizeitgesellschaft eine wichtige Rolle spielen. Wer nur Deutsch versteht, reist gerne ins Südtirol, denn dort sprechen die Italiener mehrheitlich Deutsch. Nur: Wer fährt denn ein Leben lang ins Südtirol? Früher oder später steht Frankreich auf dem Programm oder die Südküste der Türkei, dann vielleicht Hongkong oder die Malediven. Der Deutschschweizer, der nur seine Muttersprache spricht, steht dann recht hilflos an der Hotelrezeption. Er kann zwar die Hände zu Hilfe nehmen, bis er sie nach ein paar Minuten verwirft. Englisch, die Sprache der globalisierten Welt, hilft überall weiter. Französisch hingegen ist die Landessprache unserer grössten Sprachminderheit, gehört zur Identität unseres Landes und wird auch weltweit gesprochen.

Die Schweiz ist ein Labor der Vielsprachigkeit. Dass sich Englisch global und flächendeckend ausbreitet, ist nicht zu verhindern. Dennoch müssen wir alles tun, um die sprachliche Vielfalt der Schweiz zu sichern. Dazu gehört die Stärkung des Französischen. In der Westschweiz beobachtet man kritisch, wie in weiteren Deutschweizer Kantonen über Volksinitiativen abgestimmt werden wird. Als zum Beispiel Appenzell Innerrhoden das Frühfranzösisch aus dem Stundenplan kippte, reagierte die Westschweiz gehässig. Man sei verbittert, sagt Marie-José Béguelin, Sprachwissenschaftlerin und Professorin in Neuenburg. Wohin der Weg führe, sei ihr zwar noch nicht klar. «Aber», sagt sie, «wir lassen nicht locker. Wir wollen die Minoritäten, aber auch die Beziehungen zwischen den Landesteilen wieder stärken.»

 

Vom Nutzen des Nutzlosen

publiziert: 07.03.06

«Ein philosophischer Mensch ist ein Skeptiker, der zu den Grundkonflikten, die der Fortschritt laufend schafft, Fragen stellt und nach Antworten sucht.»

Die beschränkten finanziellen Mittel seien «in wirtschaftlich relevante Bereiche zu investieren», und deshalb gelte es, Schwerpunkte bei der Forschung der Nano-, Bio- und Umwelttechnologie zu legen. Selbstverständlich auf Kosten der Geisteswissenschaften. Diese Meinung vertritt sowohl die CVP als auch die SVP. Beiden Parteien geht es um den Markterfolg der Innovationen. Als ich die Artikel zu dieser neuen Förderstrategie in verschiedenen Zeitungen gelesen hatte, atmete ich tief durch. Was geht in den Köpfen der Politiker vor, die eine solche Umlagerung anstreben? Ist ihnen bewusst, was die Geistes- und Sozialwissenschaften leisten, wie nötig sie für den Zusammenhalt einer Gesellschaft sind? Die abwertende Formulierung, die ich im ersten Satz zitiere, schliesst aus, dass andere Wissenschaften dafür von Bedeutung sind. Schaut die CVP nun plötzlich auch mit einem Röhrenblick in die Welt?

In den «wirtschaftlich relevanten Bereichen» ist der Staat, sind die Hochschulen keineswegs die eigentliche Triebkraft von Forschung und Entwicklung. Das Budget der Chemie und der Maschinenindustrie, ausserhalb der Universitäten, ist dreimal so hoch. Sie forschen Nutzen bringend, sind aber auf kompetente Fachleute angewiesen, die gute Schulen durchlaufen haben, und zwar von der ersten Klasse bis zum Hochschulabschluss. Die Sozial- und Geisteswissenschaften sind da gefordert, sie haben hier eine Aufgabe. Professor Rolf Dubs fordert, dass die Schule auf allen Stufen, «die junge Generation befähigen müsse, über Werte zu reflektieren, und ihr helfen, sich in eine Gesellschaft einzuordnen, die durch Egoismus, Rücksichtslosigkeit, Dogmatismus und Rechthaberei gekennzeichnet ist». Die Schule müsse die Lernenden anleiten, wie die schwierigen Herausforderungen, denen sich junge Menschen heute stellen müssen, angepackt werden.

Der Nutzen, den die Natur-, Technik- und Medizinwissenschaften erarbeiten, ist allgemein bekannt und evident. Sie brauchen keinen besonderen Fürsprecher. Dabei geht aber vergessen, dass die Geisteswissenschaften gerade durch den rasanten Fortschritt besonders stark gefordert werden, wie noch nie in der Geschichte der Menschheit. Seit unsere Gesellschaft nicht mehr in der Kirche festen Halt sucht, fragt der Mensch verwirrt nach seiner Identität. Wir leben im Dürrenmatt’schen Durcheinandertal.

Als Kulissen dienen Ersatzwelten. Viele wissen nicht mehr, wo sie stehen, sind irritiert. Dieser Zustand hemmt und lähmt. Wenn in unserer Gesellschaft der wirtschaftliche Aufschwung zu fehlen scheint, dann liegt dies nicht an mangelnder wirtschaftlich relevanter Wissenschaftsförderung, sondern an der Irritation des modernen Menschen. Der Fortschritt läuft dem Wissen um die Existenz davon.

Was im Grenzbereich der Biowissenschaften und der Medizin geforscht und entwickelt wird, ruft nach Normen und Einschränkungen, die zusammen mit den Geisteswissenschafter, von den Juristen bis zu den Philosophen, erarbeitet werden müssen. Die Geisteswissenschaften sind genauso auf Forschung angewiesen wie die Naturwissenschaften, nur erhalten sie viel weniger Fördermittel. Darum ist es falsch, sie nochmals zu schmälern.

Die von vielen als unnütz betrachtete Philosophie bleibt eine Leitdisziplin, die für alle Disziplinen der Wissenschaft Hebammendienste leistet. Ein philosophischer Mensch ist ein Skeptiker, der zu den Grundkonflikten, die der Fortschritt laufend schafft, Fragen stellt und nach Antworten sucht. Er bestreitet die absoluten Wahrheitsansprüche einer Religion. Er erörtert die moralischen Grundlagen des Rechts. Er kann Zweifel an den milliardenteuren Experimenten begründen, die es brauchte, um eine Sonde auf den neunjährigen Weg zum Planeten Pluto zu schicken. Jedenfalls überlegt sich der philosophische Mensch, ob diese Forschungsgelder angesichts des weltweiten Hungers anders eingesetzt werden könnten. Er überlegt, ob der Krieg im Irak vielleicht hätte verhindert oder rascher beendet werden können, falls die die arabische Mentalität rechtzeitig und stärker erforscht worden wäre.

Ich erhebe Einspruch gegen ein Denken, das die Politik verleitet, alles nur in die Kategorie des Nutzens einzureihen. Ich protestiere, falls die Geisteswissenschaften in der Politik zukünftig abgewertet werden, nur weil ihr Blickwinkel nicht direkt auf das wirtschaftlich Relevante gerichtet ist. Das hat zwar Doris Leuthard, die Parteipräsidentin der CVP, nicht so gemeint. Aber wenn sie beiläufig sagt, sie habe nichts gegen Geschichtsforschung und Archäologie, dann wählte sie bewusst Gebiete, die bereits für ihre Anerkennung und Förderung kämpfen müssen.

In der heutigen Dienstleistungsgesellschaft spielen die qualitativ guten Sozial- und Geisteswissenschaften eine wichtige Rolle. Im Standortwettbewerb eines Landes oder eines Kantons locken Politiker mit einer guten kulturellen Infrastruktur. Museen, Theater, Musik, Kunst, Schulen und Medien wären ohne das Zudienen der Philosophie und der Geisteswissenschaften nicht denkbar. «Nutzloses» bereichert das Leben. Vielleicht fehlt uns je länger, je mehr jene geisteswissenschaftliche Bildung, die uns befähigen würde, die Dinge auch mit den Augen der anderen zu sehen.

 

Warum serbelt die FDP?

publiziert: 25.02.06

Während die SVP im Aufstieg begriffen war, geriet die früher stolze FDP ins Schlittern. Seither kränkelt sie. Ihr Zustand könnte sich aber bessern, wenn sich die Exponenten an die Geschichte des Freisinns erinnern und für Standpunkte einstehen würden, die der Partei zu Erfolg verholfen haben.

Vor ungefähr zwanzig Jahren prägte die FDP den Slogan: «Mehr Freiheit und Selbstverantwortung, weniger Staat.» Mit dem Begriff «Selbstverantwortung» appellierten die Freisinnigen an die Einzelnen, ohne aber zu erwähnen, wofür die Individuen Verantwortung tragen. In der Folge blieb das Wort in der öffentlichen Diskussion ausgeklammert. Am Ende hörten alle nur noch das scheinbar griffige «mehr Freiheit, weniger Staat». Kurzerhand und radikal, manchmal sogar recht arrogant, übernahm die SVP den Slogan Jahre später. Der Staat sollte zurückgedrängt werden. Schlagworte wie Deregulierung und Privatisierung begannen zu kursieren. Da viele Freisinnige diesen Trend nicht ohne weiteres folgen wollten, wurde ihre Politik vom Gegner als ein Wischiwaschi bezeichnet, und sie selber als Weichsinnige abgestempelt.

Der Freisinn parierte diese Angriffe wenig überzeugend, und zudem verharrte er in der Defensive. Er liess sich in das Schlepptau der SVP nehmen, richtete sich in verschiedenen Kantonen stramm rechts aus. Mancher Vertreter schwenkte und marschierte künftig am rechten Flügel mit. Es war der Zeitpunkt, da sich die FDP zum Beispiel vom Umweltschutzgedanken verabschiedete, für den sich einst führende Freisinnige wie Ruedi Schatz, Gilles Petitpierre, René Rhinow und andere stark gemacht hatten. Wie steht es heute mit der CO2-Abgabe und der ökologischen Steuerreform, Themen, die der Freisinn besetzt hatte? Kürzlich schrieb die kantonale freisinnige Fraktionspräsidentin eines Kantonsparlaments hämisch, gottlob sei der Spuk vorüber, als wegen der massiven Feinstaubbelastung teilweise Tempo 80 eingeführt worden war. Vorstösse zur Förderung der erneuerbaren Energien wurden abgelehnt. Heute hat die Solarindustrie in Ostdeutschland (siehe Tages-Anzeiger vom 20. Februar) einen hohen Stand erreicht und zahlreiche Arbeitsplätze geschaffen.
Dem früher erfolgreichen Freisinn war bewusst, dass sich Verantwortung nicht von allein einstellt. Appelle verklingen und verlaufen ins Leere, neigt der Mensch doch zu egoistischem Verhalten. Er ist bereit, sofern es ihm gut geht, für sich selbst Verantwortung zu tragen. Daneben leistet er aber nur bedingt einen freiwilligen Beitrag zur Solidarität. Deshalb hat der Staat Solidarität und Gerechtigkeit in der Gesellschaft mit seiner Gesetzgebung zu organisieren.

Es hätte in den letzten Jahren einer vertieften Diskussion des Begriffs der Verantwortung bedurft. Diese fand nicht einmal in Ansätzen statt. Vielmehr beschäftigten sich die Partei und die Bundeshaus-Fraktion vor allem pragmatisch, fallweise mit Alltagsfragen, entwarfen keine Visionen und liessen sich vom Erfolg der SVP blenden. Den Stimmen, die in ihren Reihen einer anderen Politik Gehör verschaffen wollten, wurde eine Absage erteilt.

Die Diskussion über den Begriff der Verantwortung ist zentral und nie abgeschlossen. Eine Partei, die diese nicht scheut und daraus die Konsequenzen für eine eigene Politik zieht, gewinnt an Profil, was wiederum das Selbstbewusstsein stärkt. Auch Modethemen und Trends werden den festen Parteilinien nichts anhaben können. Wäre die FDP ihren Weg gegangen, dann wäre sie wohl kaum von der SVP überschattet worden. Es scheint, als klammere sie sich noch immer an den Slogan «mehr Freiheit, weniger Staat» und an den Begriff der Selbstverantwortung, der sich auf den Einzelnen bezieht, auf den sich Besitzende und sehr gut Verdienende gerne berufen.

Die Äusserungen der gescheiterten Basler Regierungsratskandidatin Saskia Frei, die den Appell an die Selbstverantwortung im Wahlkampf so sehr strapazierte, erhellen meine Vermutung. Sie vergass bei ihren Auftritten, dass ein Kanton auch echte soziale Aufgaben zu erfüllen und Leistungen zu erbringen hat, um die Integration Fremdsprachiger zu fördern. Die Wählerinnen und Wähler akzeptierten dies nicht, wie auch Saskia Freis angriffigen Stil, mit dem sie sich bei den Rechtsaussen beliebt machte. Bezeichnend ist, dass Parteipräsident Fulvio Pelli das enttäuschende Abschneiden auf gewisse Mandate ihres Ehepartners im Rotlichtmilieu zurückführte. Das ist in diesem Fall wohl eine eher zu schwache Begründung.

Der FDP fehlt heute eine klare Staatsidee mit dem reflektierten Begriff der Verantwortung und eines Modells der Steuerung. Noch immer meinen zahlreiche Parteivertreter, man müsse um die Millionäre buhlen, die nicht wissen, was Verantwortung der Öffentlichkeit gegenüber bedeutet. Um sie sollte man sich gewiss nicht sorgen, hingegen um den Mittelstand und um jene vielen gut situierten Leute, die längst begriffen haben, dass der Staat seine Aufgaben nur erfüllen kann, wenn er die notwenigen Mittel dafür bekommt.

Die FDP kann meines Erachtens erst wieder Tritt fassen, wenn sie eine ernsthafte Diskussion über die Aufgaben des Staates führt und sich anschliessend darauf einigt, wie diese wahrgenommen werden sollen. Dabei spielen zwei Begriffe eine entscheidende Rolle: Freiheit und Verantwortung. Sie sind ein gegenseitig sich bedingendes Paar. Private, die öffentliche Aufgaben beim Gesundheitswesen, beim Verkehr und Umweltschutz usw. wahrnehmen, tragen meist nur insofern Verantwortung, als sie der Staat durch Gesetze fordert. Es muss daher klar sein, dass der Staat die wichtigste Organisation der öffentlichen Verantwortung ist. Es gibt also keine Verlagerung von öffentlichen Aufgaben auf Private ohne gesetzliche Regelung.

Eine erfolgreiche FDP denkt den Freiheitsbegriff zusammen mit demjenigen der Verantwortung. Das ist oft nicht spektakulär, gibt aber dem Parteiprogramm und den Aktionen Umriss und Profil.

 

Kultur ist Sache der Kultur – ist sie das?

publiziert: 18.01.06

Robert Nef, der Redaktor der «Schweizer Monatshefte» mahnt den Staat zur Zurückhaltung bei der Kulturförderung. Der Markt habe dabei ein wichtiges Wort mitzureden. Kultur sei Sache der Kultur. Diese Aussage aber ist eine Art Zirkelschluss. Man kann einen Standpunkt nicht mit dem gleichen Standpunkt begründen. Fragen wir uns, was Kultur sei, werden wir keine eindeutige Antwort erhalten. Wessen Sache ist Kultur, wenn sie ihre eigene ist? Würde der Satz lauten: Kultur ist Sache des Marktes, dann wäre man klüger. Die von Robert Nef gemachte Behauptung wirft also mehr Fragen auf, als sie beantwortet.

Die demokratische Verfassung zählt zu den höchsten kulturellen Errungenschaft eines Landes, und die direkte Demokratie ist ein starker Ausdruck des kulturellen Selbstgestaltungswillens des Volkes. Die schweizerische Verfassung formuliert Grundrechte des Menschen und skizziert das Wertsystem des Volkes. Sie garantiert diese Werte durch Gesetze, die dem Referendum unterstellt sind. Die Verfassung wird auf Gesetzesstufe ausgelegt und umgesetzt. Die Bundesverfassung enthält seit 1958 einen Filmförderungsartikel. Die Filmkultur ist also nicht nur Sache des Films sondern auch des Staates.

Gegenwärtig ist der Entwurf zu einem Kulturförderungsgesetz in der Vernehmlassung. In der neuen, revidierten Bundesverfassung hat das Volk einem Kulturartikel (69 BV) zugestimmt. In der Botschaft zum Entwurf finden sich bemerkenswerte Sätze: «Kultur bedarf aber nicht nur in ihrer ökonomischen Dimension wahrgenommen und nach der Elle ihrer nie zu erreichenden Wirtschaftlichkeit bemessen werden. Kultur ist eine unabdingbare, authentische Ausdrucksform menschlichen Daseins. Wirtschaftliche Überlegungen stellen für die staatliche Kulturförderung daher wichtige Rahmenbedingungen, aber nicht das eigentliche Motiv dar. Staatliche Kulturpolitik sorgt dafür, dass kulturelles Schaffen nicht dem ökonomischen Diktat preisgegeben wird, sondern dass es seine Eigengesetzlichkeit zur Geltung bringen kann.» Gemeint ist: Der Staat soll kulturelle Leistungen fördern.

Am 17. September fand in Seedorf die Übergabe des Innerschweizer Literaturpreises an den Urner Schriftsteller Martin Stadler statt. Das ist eine Auszeichnung der sechs Innerschweizer Kantone für ein authentisches künstlerisches Schaffen. Bei der Übergabe des Preises führte Landammann Josef Arnold aus: «Mit der Preisverleihung will die Innerschweizer Kulturstiftung … ein Zeichen setzen: Der Kulturraum Zentralschweiz braucht Poesie und Literatur, braucht eine kulturelle Auseinandersetzung, wie sie vom Preisträger und den Kulturschaffenden angeregt wird. Diese Auseinandersetzung, das scharfe Wahrnehmen der Wirklichkeit – auch aus verschiedenen Perspektiven – belebt unser kulturelles und politisches Leben, und regt an zum Denken, Reden und Schreiben.» Damit legte der Landammann im Namen aller sechs Zentralschweizer Regierungen ein klares Bekenntnis zur Kultur und damit zu dessen Förderung ab. Die Kultur ist also nicht bloss ihre eigene Sache, obwohl gerade Martin Stadler ein Beispiel dafür ist, dass da ein engagierter Schriftsteller allein und unverdrossen arbeitet und Bücher verfasst, die er als Kleinverleger selber herausbringt.

Die Innerschweizer Regierungen und auch die Gemeinden fördern nach Kräften die heimische Kultur. Vieles könnte nicht entstehen, nicht herausgebracht, nicht ausgestellt und nicht aufgeführt werden, wenn der Staat keine Mittel bereitstellen würde. Viele Orte profilieren sich durch kulturelle Ereignisse und gewinnen so an Ansehen und Attraktivität. In den letzten Jahren ist die Zentralschweiz zu einem Ereignisraum für zahlreiche kulturelle Begegnungen geworden. Das wäre ohne die staatliche Beihilfe und ohne Unterstützung durch Sponsoren unmöglich geblieben.

Wer in eine fremde Stadt reist, besucht Museen, geht ins Theater, klettert über Ruinen und studiert die Geschichte des Landes. Auch wenn viele aus den Ferien zurückkommen und nur erzählen können, wie das Wetter war, was und wo sie gut gegessen haben, so nehmen sie doch auch bleibende Eindrücke von gut erhaltenden Stadtbildern, von kulturellen Events und von Besuchen in Museen mit.

In der Botschaft zum neuen Kulturförderungsgesetz führt der Bundesrat aus: «Ein breites kulturelles Angebot in einer Gemeinde oder in einer Region ist ein nicht zu unterschätzender Faktor für die allgemeine Lebensqualität und kann die Standortwahl von Wirtschaftsunternehmen günstig beeinflussen. Als Prestigewert können kulturelle Einrichtungen und Anlässe auch denjenigen, welche dieses Angebot nicht direkt benutzen, einen Nutzen eintragen.» So profitiert der reiche Kanton Zug, in gut erreichbarer Nähe zu Luzern und Zürich, von den kulturellen Angeboten der Nachbarstädte. Diese machen die Lage am Zugersee und am Weg zum Gotthard zusätzlich attraktiv. Es ist nicht nur das Steuerklima, das Menschen in eine Region zieht. Es sind auch die kulturellen Einrichtungen und Angebote. Die Freiheit der Kunst und die Debatten, die sie auslöst, sind eine Bereicherung des Lebens. Umso unverständlicher schüttelte man den Kopf, als die Zeitungen berichteten, der Zuger Kantonsrat habe die Erhöhung der Kostenbeiträge an die grossen Häuser in Zürich und Luzern abgelehnt. Vielleicht dachten da auch einige, Kultur sei Sache der Kultur und übersahen, dass sie ein Gestaltungselement des gesellschaftlichen Lebens ist. Und sie schlugen die Tatsache aus dem Kopf, dass Luzern und Zürich mit ihren Kulturinstituten, auch denen Nutzen bringt, die deren Angebote nicht direkt benutzen.

 

2005

Der Bundesrat braucht Köbi Kuhn

publiziert: 03.12.05

 

Die Swisscom verliert an der Börse 1,5 Milliarden Franken an Wert. Gleichzeitig wird gegen die wohl nötige Gesetzesänderung mit dem Referendum gedroht. Die Kleinanleger sind bestürzt. Im Bundeshaus herrscht zunehmend Hektik. Die Parteipräsidenten widersprechen sich. Die Bevölkerung vor dem Fernseher oder dem Radio schüttelt nur den Kopf. Der Bundesrat ist mit der Ankündigung, die Swisscom dürfe sich nicht an ausländischen Telekom-Gesellschaften beteiligen, denkbar ungeschickt vorgegangen, selbst wenn man in der Sache seine Meinung teilt. Inzwischen kommentiert jeder Bundesrat den Beschluss mit eigenen Worten. Mancher vermutet, hinter der angestifteten Verunsicherung stecke Absicht. So könne die Swisscom zu Lasten des Steuerzahlers von Aktionären günstiger übernommen werden.

Moritz Leuenberger steht seit Beginn der Wintersession noch mehr im Fadenkreuz der SVP. Sie will ihm mehrheitlich die Stimme verweigern, wenn er zum Bundespräsidenten gewählt werden wird. Parteipräsident Ueli Maurer betont, man dürfe Leuenberger aus “tiefer Sorge” um seine Departementsführung nicht zum Präsidenten küren. Er vernachlässige schon jetzt anstehende Aufgaben. Man gewinnt den Eindruck, Leuenberger schlage blanker Hass entgegen. Ja, und dann zeuselt er selber halt auch ganz gern ein bisschen.

Autofahrer klatschten Christoph Blocher kürzlich Beifall. An der Eröffnung eines Autosalons in Zürich kritisierte er die Herabsetzung der Toleranzwerte beim Überschreiten der Geschwindigkeitsgrenzen. Das hören viele Autofahrer und das Autogewerbe gern. Bei Kollege Moritz Leuenberger löste die Rede Erstaunen aus. Es kam zu einem öffentlichen Geplänkel. Blocher sagte darauf in einem Interview: “Ich sage, was ich denke.” Wenn wir genau hinhören, sagt er nur, was er denkt, wenn es ihm passt und vor allem dann, wenn ihm seine Kreise applaudieren.

Blocher hatte sich bei seiner Rafzer Rede im Mai 2005 von der Linie des Bundesrates entfernt, als er bekannt gab, nicht hinter der bundesrätlichen Zustimmung zu Schengen zu stehen. Sein öffentliches Bekenntnis missbilligten sowohl Bundespräsident Samuel Schmid als auch Joseph Deiss und Moritz Leuenberger. Der Bundespräsident musste am Ratstisch erinnern, eine Regierung habe erst Erfolg, wenn sie Beschlüsse gemeinsam trage.

Was im Volk in den vergangenen Wochen und Monaten haften blieb, kann mit dem Filmtitel “Mais im Bundeshaus” überschrieben werden. Dabei ist diese Formulierung noch recht harmlos. Uns beschleicht das Gefühl, hier sei ein Bundesrat an der Arbeit, der mehr durch offen ausgetragene Differenzen aufzufallen trachte als durch konstruktive Arbeit an gemeinsamen Zielen. Der Leser und der Zuschauer spüren förmlich, wie es zwischen den politischen Protagonisten knistert und wie sehr einzelne Bundesräte darauf bedacht sind, sich dem Volk besonders zu empfehlen. So ist ein Bild von Aktion und Reaktion entstanden. Es sieht nach einem permanenten Wahlkampf auf bundesrätlicher Ebene aus.

Es kam nicht von ungefähr zu dieser Situation. Schon seit längerer Zeit wurde die “classe politique” demontiert. Dabei demontierten sich die Demontierer selbst. Sie merkten dies kaum und erst recht nicht, dass sie mit ihrem Handeln moralischen und geistigen Schaden im Land verursachen.

Jedes Mal, wenn der Bundesrat oder eine Partei zerstritten ist, schwächt sich das Gremium selber und erleidet einen gravierenden Verlust an Glaubwürdigkeit. Das Gezänk im Bundeshaus lässt die Autorität erodieren. So zählt das Wort des Bundesrats heute wenig, auch wenn ihm die Macht bleibt, Vorschläge zu machen. Wenn er trotzdem Abstimmungen gewinnt, so nur weil in unserer direkten Demokratie meist eine engagierte Debatte über Vor- und Nachteile einer Vorlage stattfindet und am Ende die besseren Argumente siegen.

Eigentlich sollte man die Geschichte als Lehrmeisterin bemühen. Wir erlebten immer wieder, gerade in schwierigen Phasen, einen Bundesrat, der geschlossen auftrat. Niemals wäre es einem Mitglied früher eingefallen, einem Kollegen oder der Mehrheit in den Rücken zu fallen. Ein geschlossener Bundesrat wirkt wie ein Burg. Da können die Räte in den beiden Sälen des Bundeshauses streiten wie sie wollen, am Ende prallen ihre Vorschläge und Anträge weitgehend ab. Die Gesetze passieren mit wenigen Änderungen. Wie aber soll sich der Bundesrat durchsetzen, wenn schon im Voraus klar ist, dass der eine so, der zweite dagegen und die einzige Frau anders hinter den verschlossenen Türen gestimmt haben?

Die Mannschaftsleistung des Bundesrats wird bewertet, nicht die Einzelleistung. Als Vergleich lässt sich unsere Fussballnati heranziehen. Aber eben, der Bundesrat wird noch nicht von einem Köbi Kuhn gecoacht.