Der Schraubeningenieur

Roman

Andreas Iten erzählt die berührende Geschichte eines alternden Mannes, der versucht, mit sich und seinem Leben ins Reine zu kommen. Der Schraubeningenieur, geboren als Zögerer und Zauderer, ist im katholischen Glauben verwurzelt und ein Gefangener seiner eigenen Biederkeit. Nach über vierzig Jahren trifft er seinen Jugendfreund Theophil wieder. Er bewundert ihn, den Draufgänger und Lebemann aus gemeinsamen Studienzeiten. Der belesene Architekt ist auf der Flucht vor sich selbst. Seine Familie liess er im Basler Daig zurück und brach aus, um als Entwicklungshelfer in Ruanda zu wirken. Als altersradikaler Mann hat er sich von Gott abgewendet und zweifelt am Guten im Menschen. Die einstige Jugendfreundschaft entwickelt sich neu zu einer Altersfreundschaft. Als Theophil stirbt, verspürt der Schraubeningenieur eine schmerzliche Leere. Er, der an einer «Schraubensoziologie» über den Zusammenhalt der Gesellschaft schreibt, vermisst die Gespräche und das Nachdenken über das Leben, über die Zeit, über die Liebe – auch im Alter – und über den Tod. Andreas Iten begleitet den Schraubeningenieur auf dieser späten Suche nach dem eigenen Ich – mit grossem sprachlichem Feingefühl, mit psychologischem Scharf- und mit philosophischem Feinsinn.
ISBN 978-3-905927-40-5
CHF 29.–
Verlag Pro Libro Luzern, 2014
(Erschien im September 2014)

«Der Erzähler springt in 32 Kapiteln zwischen den Epochen seines Lebens, den Geschichten seines Umfelds und philosophischen Exkursen virtuos hin und her, ohne den Faden zu verlieren. Der Leser kann den verschlungenen Pfaden somit inspiriert folgen.»
Simon Bordier In: Innerschweiz am Sonntag vom 16. November 2014

Laudatio von Joseph Bättig

Buchvernissage «Der Schraubeningenieur»

Lieber Andreas, liebe Freundinnen, Freunde und Bekannte, liebe Anwesende
Wir sind uns einig: Eine Buchvernissage ist auch im Zeitalter der Bücherschwemme noch immer ein besonderes Ereignis. Es ist, als betrete ein mit besonderen Eigenschaften beschenktes Lebewesen zum ersten Mal den Raum der Öffentlichkeit. Ein Autor gibt sein Manuskript aus den Händen. Ein Text hat sich nun definitiv von seinem Ursprung gelöst! Ein Buch ist da! Es hat einen Namen, einen Titel, und wir gehören zu den Allerersten, die es in Händen halten und lesen werden.
Titel sind immer etwas Neues, auch wenn sie sich aus bekannten Worten zusammenfügen. In unserem Fall: «Der Schraubeningenieur». Mit allergrösster Wahrscheinlichkeit begegnen wir hier nicht nur einem neuen Titel, sondern einer überraschend neuen und dennoch auf Anhieb verstehbaren Wortschöpfung. Oder kennen Sie jemanden, der sich im Telefonbuch als Schraubeningenieur zu erkennen gibt? Der wohlbewährte und deshalb viel konsultierte Duden hält tatsächlich vieles an Schrauben und auf sie bezogene Wortkombinationen fest: Schraubendampfer, Schraubendreher, schraubenförmig, Schraubengewinde, Schraubenkopf; er erwähnt sogar die Schraubenlinie, Schraubenmutter (plural – Muttern), dann gibt es das gefürchtete Schraubensalto, den Schraubenschlüssel, die Schraubenwinde und den populären Schraubenzieher. Nur von einem Schraubeningenieur weiss er nichts. Das wird sich in der nächsten Ausgabe ändern müssen.
Es gehört zu den besonderen Qualitäten des Romans, wie es der Autor versteht, selbst technisch Minderbegabte in die Welt seines Schraubeningenieurs einzuführen. Diese Welt wird dem Leser gleich im ersten Kapitel in kurzen, knappen Strichen vorgestellt, und es steigt nicht der kleinste Zweifel auf, dass mit dem Wort «Schraubeningenieur» nicht nur eine Respekt abverlangende Berufsausbildung mit ETH-Abschluss gemeint ist. Die interessante Berufsbezeichnung entwickelt sich im Verlaufe des Romans zuerst zu einer Chiffre, dann zu einem eigentlichen Symbol für ein Denksystem, mit dem nicht nur eine besondere Person, sondern eine ganz spezifische Weltanschauung vorgestellt wird.
Um diese zuerst etwas gar fremde Welt des Schraubeningenieurs zu verstehen, braucht es eine Person, an deren Entwicklung uns der Autor teilnehmen lässt. Es ist Lukas Stalder, der Erzähler, der über weite Strecken über sich, seinen Beruf und seine Mitmenschen genauso berichtet, wie ein von Schrauben besetztes Gehirn eben erzählt: Nüchtern, folgerichtig. Der Drehpunkt ist stets wichtiger als die physischen Spannungen, die ja mit dem nächsten Dreh hinter sich gelassen, das heisst gelöst erscheinen.
Es ist Lukas, dem «Schraubeningenieur», durchaus bewusst, dass er persönliche Probleme mit der taktisch erfolgversprechenden Methode des erfolgreichen Schraubeningenieurs angeht, als gelte es, neue Begebenheiten, neu auftretende Personen so zu behandeln, als wäre alles verschraubbar. Nicht gelöste zwischenmenschliche oder gesellschaftliche Probleme existieren für ihn nur deshalb, weil man es schlicht unterlassen hat, sie der technisch in jeder Beziehung ausgefeilten Methode des Schraubendrehens zu unterwerfen. Ein Scheusal, denken wir, wer tatsächlich nicht mehr vom Menschen versteht, als ihn mitsamt seinen Fragen auf seine Verschraubbarkeit zu reduzieren.
Und nun das Überraschende: Andreas Iten zeigt uns den Schraubeningenieur Lukas Stalder als sympathischen, bei allen Erfolgen nie überheblichen, gewissenhaften, verantwortungsbewussten Menschen, der von sich ganz selbstverständlich, ohne den geringsten Anflug eines Zweifels sagt: «Schon als Kind sammelte ich Nägel und Schrauben. Das trug mir den Übernamen Schräuberich ein. Als ich Ingenieur geworden war, bestimmten sie mein Berufsleben.»
Diese vorerst herausfordernd seltsame Weltsicht wird mit der Zeit auch für den Leser nachvollziehbar, wenn wir an das Weltbild jener Personen denken, die den betagten, im Rückblick berichtenden Erzähler einst geschult und sein Denken geprägt haben. Diese Autoritäten stellten nicht nur Schrauben her, nein, sie prüften ihre ganze Umwelt, wie und wo und mit welcher Methode sie verschraubbar wäre, gerade so, als hätten Schrauben ein Gehirn. Subjekt und Objekt, Mensch und Schraube, Ideologie und Realität sind austauschbar. Das erfuhr Lukas Stalder bereits während seiner ihn faszinierenden Ausbildung, auf die er zurückblickt wie auf die Erfüllung eines Bubentraums, der sich in seinem Denken zu einer Gesamtlösung sämtlicher Probleme hinaufschrauben liess. Wir spüren die Faszination, wenn er schreibt:
«Begeisterte Fachleute, Meister und erfahrene Handwerker führten mich in meinen zukünftigen Beruf ein. Ich durchlief verschiedene Abteilungen. Unter Anleitung eines Meisters stellte ich Schrauben, Muttern, Nägel, Nieten und viele andere mechanische Verbindungselemente her. Sie sind es, die unsere Welt zusammenhalten, sagte ich mir und war glücklich, ein Experimentier- und Arbeitsfeld gefunden zu haben.»
Tatsächlich: nach dem Tod seiner geliebten Frau muss er sich von seinem Freund Theophil sagen lassen: «Dass ich aber nach dem Tod meiner Frau wie ein Mechaniker an neuen Beziehungen herumgeschräubelt hätte – ohne Erfolg – belege, dass es mir an Intuition und Einfühlungsgabe mangle.» Die Diagnose stimmt, der Vorwurf ist berechtigt, der Pfeil trifft, weil er im richtigen Moment dem scheinbar so robusten Schraubengemüt einen neuen Dreh, diesmal ins Unbekannte, ja Ungewisse zumutet.
Spätestens jetzt beginnen wir zu ahnen, dass noch andere Lehrmeister auf die Biographie des Schraubeningenieurs ihren irreversiblen Einfluss zu behaupten wussten, weil sie ähnlich, wenn nicht sogar gleich argumentierten. Bewundernswert, wie Andreas Iten gerade bei diesen heiklen Stellen nicht den Weg einer durchaus verstehbaren aggressiven Polemik einschlägt, sondern einfach das Problem aufzeigt und auf sich beruhen lässt.
Es geht hier vor allem um die in alle Lebensbereiche hineinreichende, methodisch perfekt organisierte Erziehung und eine daran anschliessende lebenslängliche Begleitung der katholischen Kirche innerhalb des einst geschlossenen katholischen Raumes der Innerschweiz. Da gab es kein Entrinnen ins Subjektive, da war alles objektiv verschraubt und mit Muttern jeden Kalibers versehen. Wer sich ein persönliches Urteil erlaubte, fiel in jedem Fall aus der Ideologie einer mit allem – von Gott bis ins Pfarrhaus – verschraubten Welt. Sitzt nur eine Schraube locker, droht der Einsturz, der Zusammenbruch des Ganzen. Von da her erklärt sich die von Angst besetzte Frömmigkeit der Mutter von Lukas, die eingrenzende Macht eines pastoral-theologischen Systems, das nur Gänge, aber keine Zimmer, vor allem keine offenen Fenster erlaubt.
Damit in einem Roman derart aktuelle Themen, die ja einen nicht verschraubbaren Standpunkt voraussetzen, überhaupt diskutiert werden können, bedarf es einer Parallelfigur. Wir begegnen ihr in der Person von Theophil Thalmann, dem liebenswürdigen Jugend- und weisen Altersfreund des Erzählers Lukas Stalder. Bereits mit der Wahl seines Vornamens weist der Autor auf dessen lebendigen, nicht berechenbaren oder verschraubbaren Bezug zum Menschen und zur Welt hin.
Theophil: Ein Freund Gottes, nicht ein Sachwalter, kein systembesessener Thomist, der mit dem Lebendigsten und Offensten erst dann zufrieden ist, wenn er es verschraubt in sein Denksystem integriert hat. Diese Offenheit zeigt sich bereits in Theophils universitärem Studiengang, besonders in der Fächerzusammenstellung. Er ist, obwohl gleichaltrig, dem Schraubeningenieur an Weite des Horizonts deutlich überlegen:
«Theophil war mir in menschlichen Dingen schon immer eine Nasenlänge voraus, er war kühner als ich und entschlossener. Sein Studium war breiter angelegt als das meine. Er studierte Architektur, daneben besuchte er Vorlesungen über Kunstgeschichte, Germanistik und Philosophie… Wir studierten zusammen an der ETH in Zürich.»
Dennoch, in einem Punkt sind sich Lukas und Theophil zum Verwechseln ähnlich, dies ausgerechnet in einem Bereich, der sich jeder Berechenbarkeit entzieht, denn: «Auch nach Liebesaffären verstummte er jeweils. Danach gefragt, sagte er knapp: «Was vorbei ist, ist vorbei. Punktum!» Genauer betrachtet, versucht Theophil mit seinem: «Was vorbei ist, ist vorbei. Punktum!», sich jeder nachhaltigen Gefühlsregung zu entziehen. Punktum!
Genau hier ist die Stelle, an der Theophil verletzlich ist. Dies zuzugeben, ist Ausgangspunkt seiner nun andauernden Offenheit, die auch für ihn einzig gültige Voraussetzung für den nie abschliessbaren Prozess der Reife, der eben nie ganz abgeschlossen ist. Wer sich dieser Einsicht entzieht, bleibt in sich selbst verschraubt, bleibt buchstäblich in seinem eigenen Denksystem stecken. Zuletzt bleibt nur Hamlets dürftiger Trost übrig: «Ist dies schon Tollheit, hat es doch Methode!»
Anders nun Goethes Warnung, die im 14. Kapitel des Romans an entscheidender Stelle zitiert wird:
«Geheimnisvoll am lichten Tag,
Lässt sich Natur des Schleiers nicht berauben,
Und was sie deinem Geist nicht offenbaren mag,
Das zwingst du ihr nicht ab mit Hebeln und mit Schrauben.»
Theophils Weg als Architekt führt ihn nach Basel und mit seiner Heirat in den sogenannten «Taig», dieses ebenso reichste wie verschraubteste und in sich verschlossene System einer – scheinbar – die gesamte Wirklichkeit beherrschenden Oberschicht.
Theophil wird nicht nur seiner ungeliebten Frau, Basel und seinem «Taig» den Rücken kehren, er hat auch ein Ziel vor Augen. Er wird als Entwicklungshelfer im afrikanischen Ruanda sein Wissen, seine Erfahrung zur Verfügung stellen, von seiner Frau als unverbesserlicher Weltverbesserer mit «Helfersyndrom» belächelt und nicht ernst genommen.
Andreas Iten ist Realist genug und mutet uns nicht eine vielleicht erwartete Albert Schweizer-Idylle zu. Vor allem bedurfte Theophils: «Was vorbei ist, ist vorbei. Punktum!» eine die ganze Person verändernde Horizonterweiterung in Form einer ehrlichen, vor keiner Erkenntnis zurückweichenden Selbstkorrektur! Dabei zeigt sich in verschiedenen Stationen seiner Entwicklung, dass jede Vergangenheit, nicht nur die als Glück erfahrene, sondern auch die mit Fehlentscheiden und Schuld behaftete, in die Gegenwart hinaufreicht, sobald sich jemand bewusst auch mit den Bruchstücken und nicht nur mit den verschraubten Konstruktionen seiner Vergangenheit auseinandersetzt. Andres Iten sagt es nicht aufdringlich, sondern überlässt die Sinnsuche getrost der Sogwirkung seiner weiterführenden Erzählung.
Nach der Rückkehr Theophils aus Afrika erfahren wir von Begegnung zu Begegnung, von Besuch zu Besuch, von erinnernden wie die nächste und weitere Zukunft ertastenden Gesprächen der Freunde Lukas und Theophil einen weiterführenden, befreienden Veränderungsprozess, der je länger je mehr die Vermutung aufkommen lässt, die beiden seien im Grunde genommen nicht zwei verschiedene Menschen, sondern zwei Pole einer einzigen Person.
Dieser Prozess beginnt in dem Augenblick, da es Theophil gelingt, den scheinbar undurchdringlichen Panzer einer in sich verschraubten Weltideologie seines Freundes Lukas zu durchbrechen. Hier die entscheidende Stelle:
«Theophil hatte mich aufgerüttelt, sodass ich auch über mein Leben nachzudenken und das seine mit meinem zu vergleichen begann. Ich lebte sehr lange in einer Art Glauben, das wirkliche Leben lasse sich verschrauben und vernieten, und was an Unangenehmem passiere, könne man verkleben… Theophil warf mir vor, ich würde mit einem doppelten Blick durch das Leben gehen: Mit einem Feldstecher- und mit einem Lupenblick. Mit dem einen irrst du im weiten Himmel herum und mit dem anderen klebst du an Details und kleinen Dingen.»
Schon oft hat die Menschen diese geheimnisvoll rätselhafte Polarität der gleichen Person beschäftigt. Goethes berühmte, oft zitierte Klage in Faust I ist uralt, nur die Diagnose ist neu, dieser unbestechliche Blick auf das Rätselwesen namens Mensch:
«Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust,
Die eine will sich von der andern trennen;
Die eine hält, in derber Liebeslust,
Sich an die Welt mit klammernden Organen;
Die andere hebt gewaltsam sich vom Dust
Zu den Gefilden hoher Ahnen.»
Lukas Stalder, der Schraubeningenieur, ein homo faber des beginnenden 21. Jahrhunderts, Theophil ein philosophisch, theologisch und literarisch versierter Architekt als neu entworfener Homo ludens, Nietzsches Polarisierung zwischen einem apollinischen und dionysischen Zeitalter in seinem genialen Wurf der «Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik», die modern verwaltete und kalt elektronisch informierte und immer mehr gesteuerte Welt der Gegenwart und ihr Gegenentwurf im tollkühnen Experiment oder riskierten definitiven Absturz: Vieles klingt an, oder wird vom Autor präzis beim Namen genannt.
Nur eines bleibt bis zum Schluss auch bei ihm wie bei den beiden Protagonisten unerklärbares Geheimnis: Es ist das Phänomen der Liebe. Sie haben es, liebe Anwesende, wohl längst erraten oder zumindest erwartet. Dieses unauslotbare Geheimnis ist in sehr verschiedenen Frauengestalten und Facetten mitten in der Welt des Schraubeningenieurs präsent. Sie sind es, die bewusst oder schicksalsbedingt – je nach Situation und Grad der Bindung – unsere beiden Protagonisten in ihrem Prozess des Werdens begleiten und inspirieren. Auf welch hinreissend vielfältige Art und Zeichnung der Charaktere dies geschieht, überlasse ich gerne Ihrer Neugierde bei der Lektüre des ebenso gegenwartsbezogenen, klug analysierenden und engagiert geschriebenen Romans von Andreas Iten und seinem «Schraubeningenieur».